Johann Christoph Neve (1844-1896), Teil 2

Anarchistische Praxis. Aus Neves Briefen an Victor Dave 1885 bis 1887

Text: Christian Gotthardt
Veröffentlicht: Februar 2015

(1) Rue Spintay, die Arbeiter- und Handwerkerstraße im Herzen Verviers. Heute noch vorhanden, aber verfallen.

Der deutsche Anarchismus zeigte viel individuellen Tatendurst und war dennoch vor allem textlastig. Ihm fehlte der gewerkschaftliche Boden der anglo-amerikanischen oder die örtliche Verwurzelung der südeuropäischen Anarchisten. Neve wollte diese Mängel überwinden. Insofern lohnt es sich, ihn bei seinen Handlungen zu begleiten, seinem „daily work“ sozusagen. Und ihn dabei selbst zu Wort kommen zu lassen, durch Zitate aus seinen Briefen an seinen engsten Freund und Vertrauten, den Belgier Victor Dave, der nach Most`s Weggang zum politischen Zentrum des „Freiheit“-Netzwerks in London geworden war. Diese Briefe sind bislang kaum ausgewertet worden, vermutlich nur von Rocker und Nettlau, möglicherweise auch von Becker, aber von allen genannten nicht wirklich gründlich.[1]

Wie in Teil 1 dargestellt, war die Herstellung und Verbreitung der anarchistischen Zeitschrift „Freiheit“ ab 1879 zur politischen Hauptaufgabe Neves geworden. Deren Auflage betrug zu Beginn etwa 1100 bis 1800 Exemplare pro Ausgabe. Teile davon ließ Neve in einer Fabrik in Hull in Matratzen packen und mit diesen exportieren. Seeleute transportierten Ausgaben auf den Linien London-Hamburg bzw. Hull-Hamburg im persönlichen Gepäck. Dazu kam der direkte Versand an deutsche Adressen, auch via Frankreich, Schweiz, Belgien und Holland,  in Briefen, anderen Zeitungen oder Konserven. Bewohner der Grenzorte überbrachten Ausgaben im kleinen Grenzverkehr.

Jede Ausgabe trug einen wechselnden Tarntitel, um der Polizei in den verschiedenen Ländern das schnelle Erkennen der Sendungen und die Rekonstruktion der Vertriebswege zu erschweren. Separatdrucke spezieller Artikel gingen als Flugblätter in Auflagen von 10.000 bis 30.000 dieselben Wege.[2] Diese Sendungen waren seit langem die erste radikale Propaganda seit dem Erlass des Sozialistengesetzes und brachten die deutsche Geheimpolizei in erheblichen Aufruhr.

Um den Zeitungsvertrieb hinreichend abzusichern, war der direkte und wiederholte Kontakt mit allen Beteiligten der „Lieferkette“ unerlässlich. Neve hatte zu diesem Zweck Deutschland und die angrenzenden Länder mehrfach bereist und sich dabei längere Gefängnisaufenthalte eingehandelt. In Hamburg waren einige Zwischenträger von der Polizei verhaftet und vor Gericht gebracht worden.[3] Im Herbst 1885 verließ Neve London und bezog Quartier im ostbelgischen Verviers. Von dort besorgte er ab Anfang Dezember persönlich den regelmäßigen Schmuggel der Zeitungen nach Deutschland, wobei er jetzt neben der (kollektivistischen) Freiheit auch den „Rebell“ der Londoner „Individualisten“ auslieferte.

Mit den belgischen Sozialisten und ihren anarchistischen Flügelmännern trat Neve nur lose in Verbindung, vor allem insoweit, als sie ihm im Zeitungsschmuggel beistehen konnten, durch Botendienste etwa oder durch Vermittlung von sicheren Deck- und Kontaktadressen.

Mochte Neve auch vielleicht froh gewesen sein, dem Gezänk der deutschen anarchistischen Kolonie in London entronnen zu sein, so gestaltete sich sein Dasein in Verviers doch zunehmend einsam. Seine Briefe an Victor Dave in London zeugen davon. Neve war ein sensibler und sehr offener Briefschreiber. Er schrieb an Dave in deutscher Sprache.[4]

Victor Dave, geboren  1845, war studierter Sohn eines hohen belgischen Beamten. Er stieß schon in den 1860er Jahren zur Internationalen Arbeiter-Association und wurde 1869 Mitglied ihres Generalrates, als ein Anhänger Bakunins. Von Anfang der 1870er Jahre bis zu seinem Umzug nach Paris wirkte er als Journalist in Verviers. 1880 aus Paris ausgewiesen, ging er nach London und übernahm wie Neve Aufgaben im Vertrieb der Freiheit. Auch er wurde dabei in Deutschland aufgegriffen und 1881 in einem Hochverratsprozess vor dem Reichsgericht Leipzig zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er zweieinhalb absaß.

 (2) Victor Dave

Neve hatte Anfang Oktober zunächst seine eigene Existenz in Verviers zu organisieren.  Er lieh sich Geld, suchte sich eine Unterkunft, ebenso eine erste Arbeitsstelle. Da er diese Arrangements noch für vorläufig hielt, teilte er Dave gleich mehrere Deckadressen mit. An diese bat er anarchistische Zeitungen für den Eigenbedarf sowie bestimmte Broschürentitel, die er weiter zu verteilen trachtete, zu übersenden. Zuständig für diese Lieferungen machte Neve Sebastian Trunk, einen deutschen anarchistischen Tischler, der gemeinsam mit Dave aus Paris ausgewiesen und mit diesem zum Londoner Freiheit-Team gewechselt war.

Für die nächsten Tage plante Neve bereits heimliche Grenzübertritte nach Deutschland und den dortigen Aufbau einer  Operationsbasis.[5] Er verstand seine Rolle in Verviers als Brückenkopf der anarchistischen Bewegung Mostscher Richtung nach Deutschland und Österreich. Alle Briefe und sonstigen Sendungen von dort und dorthin, alle diese Länder betreffenden persönlichen Kontakte sollten über ihn laufen, den Verkehr mit Paris, Brüssel und der Schweiz dagegen überließ er den Londonern. Mit Most in Amerika korrespondierte er direkt.[6] Sein strategisches Handlungskonzept erstreckte sich auf die Propaganda mit gedruckten Material, auf Reisen zum Zwecke persönlicher Kontakte, organisatorischer und politischer Absprachen, auf Versuche, geeignete Gruppen mit Sprengstoffen für politische Attentate zu versorgen, und nicht zuletzt auf praktische Hilfe für verfolgte Genossen und deren Familien.

Zeitung und Broschüren

Zur Verbesserung der Konspiration beim Zeitungsvertrieb hatten Neve und Trunk noch in London vereinbart, dass dort die Zeitungen nur gebündelt, die Adressen der Abonnenten aber erst an den Verteilerorten aufgebracht werden. Dadurch konnte vermieden werden, dass im – durchaus nicht spitzelsicheren – Vertriebsbüro der Freiheit sensible Daten an Dritte gelangen konnten.[7] Auch in Verviers erhöhte er die Vorsorge: Er tat beständig neue Deckadressen für die Lieferungen aus London auf, um die Lieferorte rotieren zu lassen und so die die Auffälligkeit der Lieferungen zu reduzieren.[8]

Der übliche Weg, die Zeitungen an die Abonnenten zu leiten, war folgender: Neve selbst besorgte den Transport über die belgisch-deutsche Grenze, teils allein, teils zusammen mit einem Helfer. In Deutschland suchte er in Grenznähe mehrere Kontaktpersonen auf. In deren Häusern wurden dann die Zeitungen neutral verpackt, erst jetzt mit den Empfängeradressen versehen und bei der Post aufgeben.

Als Reaktion auf in der Freiheit abgedruckte Werbeanzeigen für Bücher und Broschüren wurden Neve von seinen Kontaktleuten vielfach Bestellungen übermittelt, worauf er  entsprechende Mengen aus London anforderte. Erwähnt werden in den erhaltenen Briefen die Titel:

  • „Müllersche Broschüre“ [gemeint vermutlich: s.u. „August Reinsdorf“, erschienen bei Müller][9]
  • [Most]: Revolutionäre Kriegswissenschaft. Ein Handbüchlein zur Anleitung betreffend Gebrauches und Herstellung von Nitro-Glycerin, Dynamit, Schießbaumwolle, Knallquecksilber, Bomben, Brandsätzen, Giften u.s.w., u.s.w. [1885]
  • [Most]: August Reinsdorf und die Propaganda der That. J. Müller, New York 1885[10]
  • Lassalle Schriften [gemeint vermutlich: Gesammelte Reden und Schriften. Hrsg. v. G. Hotschick. New York 1883][11]

Deckadressen Neves in Verviers:

  • Olivier Renette, Rue de la Montagne 41
  • Catherine Medion, Rue du Marteau 85
  • Barthelemy Vecray, Rue de Franchimontois 79
  • Adam Dumont, Ensival, Rue de Verviers
  • Renette, Hedimont 10, Librairie

 

(3) (3) Zweite Tür von links: eine von Neve als Absender benutzte Adresse: Barthelemy Vecray, 79 Rue de Franchimontois. Auch zeitweilig sein Wohnort?

 

Reisen, Kontakte, Organisationsaufbau

Neve trat über den Grenzschmuggel hinaus auch längere Reisen an, die der Ausweitung der Agitation sowie der Bildung selbständiger, örtlicher Gruppen dienen sollten, die über ihn dann mit der Zentrale in London verbunden wären. Er hatte von Dave und Trunk Adressen von vertrauenswürdigen Genossen erhalten, die er besuchte und von denen er weitere Adressen erhielt, so von einem „Francois“ in Luxemburg [12] und weitere im niederländischen Maastricht.[13]

Um die Jahreswende 1885/86 herum bereiste Neve mehrere Male Deutschland, u.a. vermutlich auch Berlin. Im März musste er damit pausieren, da aufgrund von spontanen Arbeiterunruhen in Lüttich und Umgegend (s.u.) die belgische Polizei Kontrollen durchführte und insbesondere die Grenzen der gesamten Provinz Lüttich überwachte.[14] Neve hatte keinen hinreichend gut gefälschten Pass und war in Verviers auch nicht gemeldet.[15] Seine Arbeitsstelle hatte er unter anderem auch ausgewählt, weil der Unternehmer keine Aushändigung des Arbeitsbuchs verlangte.[16]

Im April 1886 legte sich die Aufregung in Belgien, und Neve konnte nun seine Kontaktpersonen in Deutschland zu einem großen „Pfingstreffen“ in das Rhein-Main-Gebiet laden. Es fand mit rund 20 Teilnehmern am 13./14. Mai statt, vermutlich in Frankfurt. Nach dem Ende des Treffens, in seinem Hotel, lief Neve angeblich zufällig der „schäbige Ehrhart“ [Franz Josef Ehrhart] über den Weg, jener deutsche Sozialdemokrat, der sich an Neves und Kitz` Clubgründung in London und an der Freiheit beteiligt hatte. 1880 war er auf einer Werbereise für die Zeitung in Deutschland kurzfristig inhaftiert worden. Er blieb dann in Deutschland, um auf mittlere Sicht in den Kreis der Sozialdemokraten Bebel-Liebknechtscher Richtung zurückzukehren. Nach 1900 gab er sich in seinen Erinnerungen als den eigentlichen Clubgründer und Freiheit-Inspirator aus. Neve kanzelte ihn bei dem Zusammentreffen in Frankfurt als Verräter ab, und nach einem Grundsatzstreit über Anarchismus, Sozialismus und den goldenen Mittelweg zwischen beiden fuhr Ehrhart nach Ludwigshafen, wo er ein Möbelgeschäft besaß. Dem Pfingstreffen schlossen sich bis Anfang Juli vermutlich weitere Aufenthalte Neves in Deutschland an[17]

 (4) Franz Josef Ehrhart

Im Verlauf des Juli spitzte sich die Überwachung der Grenze wieder zu, was möglicherweise direkt mit den wachsenden Kenntnissen der deutschen Polizei über Neves Wirken zusammenhing. Zwischen Juli 1886 und Januar 1887 erhielt Neve keine Briefe von Dave und wohl auch keine Zeitungen und Broschüren mehr von Trunk.[18] Dennoch hat Neve im Dezember 1886/ Januar 1887 offenbar wieder eine rege Reisetätigkeit zum Organisationsaufbau entfaltet, u.a. im Kölner Raum.[19]

 

„Musikalien“

Neben der  Zeitungsarbeit empfand Neve in dieser Zeit die Notwendigkeit einer „Propaganda der Tat“ – also terroristischer Angriffe auf prominente Personen oder Institutionen staatlicher Unterdrückung. Das entsprach der anarcho-terroristischen Taktik Most`s, für den die Publizistik und öffentliche Rede, Organisationsaufbau und exemplarische Attentate zur Auslösung offensiver Arbeiterproteste die drei gleichberechtigten Säulen des anarchistischen Aktivismus bildeten: „Agitation, Organisation, Rebellion!“ lautete kurz und bündig eine der Kopfzeilen des Freiheit-Titelblattes.

Die auf Sprengstoff bezogenen Passagen in den Briefen Neves sind recht zahlreich, eigentümlicherweise aber bisher kaum diskutiert und bewertet worden. Sie sollen daher ausführlich zitiert werden.

Zu Beginn seines Verviers-Aufenthaltes hegte Neve die Hoffnung, die Vermittlung von Sprengstoffen nach Deutschland und Österreich zu einem festen Bestandteil seines Arbeitsprogramms zu machen. Offenbar waren hierzu bereits in London Absprachen getroffen worden. Schon im November 1885 drängte er Dave, „Hans [d.i. Most] soll doch endlich die Musikalien schicken, erinnern Sie ihn in Ihrem nächsten Briefe daran. Ich habe es ebenfalls gethan.“[20] Parallel sprach er in dieser Sache die belgischen Kontaktpersonen an: „Auch in anderer Beziehung, worüber ich vorläufig schweigen werde, sind Vorbereitungen getroffen, die mich zu den schönsten Hoffnungen berechtigen.“[21]

Dave teilte ihm darauf offenbar postwendend mit, an Lieferungen aus Amerika sei nicht zu denken, denn Neve antwortete ihm ebenfalls postwendend: „Das es mit der Musick nicht klappt, habe ich mir schon gedacht, sonst wäre es schon geschickt worden.“[22]

Als es im März 1886 zu mächtigen spontanen Arbeiterrevolten in Frankreich, England und insbesondere auch in der belgischen Provinz Lüttich kam, stieg die Ungeduld Neves, da er nun fürchten musste, ohne Sprengstoff oder Waffen würde die Bewegung einmalige Chancen verpassen:

„Wie in Frankreich waren es auch hier Leute, die von einer Arbeiterbewegung wenig oder garnichts wussten, speziell in Lüttich, wo erst vor 6 Wochen die wenigen Genossen die dort sind in eine Gruppe zusammentraten, mit seinen ungeheuren Contingenten von Arbeitern, war auch nicht eine Spur von politischer Agitation zu enddecken.  Die junge Gruppe beschloss am 18. März eine Manifestation in den Straßen zu machen, lediglich zur Propaganda, den hiesigen Verhältnissen angemessen. Nachdem [Edouard] Wagener eine kurze Ansprache gehalten, bewegte sich der Zug in der besten Ordnung durch die Straßen,  ein Polizist versuchte, dem Redner die Sachen zu entreißen, bei dieser Gelegenheit wurde in einer engen Straße eine Fensterscheibe zertrümmert., das war der Anfang und die Ursache zu der Revolte, die sich in wenigen Tagen in ganz Belgien mehr oder weniger bemerkbar machte. Jetzt, nachdem mancher Brave im Grabe ruht, viele andere hinter Schloß und Riegel sitzen, ist es wohl an der Zeit, dass wir, die wir activ in der Bewegung stehen, allen Ernstes daran denken, was wir, bei derartigen Vorkommnissen, die wir vielleicht  bald an anderen Orten zu erwarten haben, für zu thun am besten halten. Sollte eine Art Conferenc von den verschiedenen Gruppen in London zustande kommen, wäre es wohl der Mühe werth, diese so hochwichtige Frage zu erörtern, auch einige praktische Gedanken dem Manifeste beifügen. Ich versichere Sie, wäre nur ein vernünftiger Mann bei der Demonstration gewesen, wären die Insurgenten innerhalb 2 Stunden Herr der Situation gewesen und hätte alles eine andere Wendung genommen. Ob das auf längere Zeit hätte behauptet werden können, kommt hier garnicht in Betracht, immerhin hätte man sich das Wichtigste beschaffen können, Waffen und Geld.  Es sind hier für die allernächste Zukunft Vorkehrungen getroffen, die, bei Zuverlässigkeit einiger Leute, von Bedeutung sind.“[23]

 

(5) Die Märzunruhen. Zeitgenössische Darstellung.

Victor Dave, der im Team der „Freiheit“ neben dem Volkstribun Most und dem Organisator Neve eher die Rolle des Parteiintellektuellen einnahm, schrieb in der englischen anarchistischen Zeitschrift „The Commonweal“ eine umfassende Analyse der Ereignisse in Belgien.[24] Neve hatte ihm zu diesem Zweck belgische Zeitungen als Material übersandt.[25]

Neve glaubte an eine unmittelbar bevorstehende revolutionäre Situation in Europa. Auch die deutschen Verhältnisse bog er sich auf diese Sicht um. Von dem Pfingsttreffen im Mai 1886 berichtete er sehr überschwenglich nach London:

„Das Pfingstfest ist gut und ohne Störung abgelaufen. Nicht nur das von Norden und Süden Freunde anwesend waren, sondern auch am Orte selbst traf ich unerwartet Cameraden, mit denen ich schon früher in Correspondencen war, andere kannten mich persönlich, da sie bei der Verhandlung  in Hanau [Winter 1883, s. Teil 1] anwesend waren. Unsere Sache geht ruhig ihren Fortgang. Es ist Thatsache, das fast in allen größeren Städten der Bruch mit den Blauen [den Sozialdemokraten] vollständig ist, selbst Liebknecht hat durch sein hündisches Auftreten allen Respect verloren und nur Bebel ist im Stande bei seinen Geschäftsreisen zu verhüten das es zu öffentlichen Kundgebungen gegen diese politischen Buschklepper kommt. Ferner haben die Vorkommnisse hier und anderswo einen mächtigen Eindruck auf die Arbeiter in Deutschland gemacht, so das in jeder Hinsicht der Boden für die Propaganda gut ist. Umsomehr ist es notwendig, dieses bis zum Äußersten auszunutzen. Ein guter Anfang ist jetzt gemacht.“[26]

Im Juli zerschlugen sich allerdings auch seine Hoffnungen, über belgische Kontakte Sprengstoff beschaffen zu können: „Mit meiner exceptionellen Geschichte scheine ich hereingefallen (...) Von Hause aus sind die hiesigen Genossen lediglich nur auf die papierene und Tribunen-Propaganda bedacht." Zwar habe man ihm anfangs versichert, für seinen „außergewöhnlichen Gebrauch“ sei alles vorrätig und könne jederzeit abgeholt werden, „ jetzt aber, wo draußen in Deutschland alles in schönster Ordnung ist, und ich es brauche, ist nichts da.“

Die belgischen Genossen würden einerseits fürchten, das „durch eine derartige Agitation nach schweizer Manier [Ausweisungen] verfahren wird“, vor allem weil ja schon deutsche Polizeispione vor Ort seien, andererseits wollten sie eine Druckerei kaufen und ihre Zeitungen „Ni dieu ni maitre“ und „Opstand“ wöchentlich herausgeben und fürchten Konfiskation im Rahmen von Presserepression. Neve weiter:

„Erst jetzt erfahre ich, das auch [Emile] Piette und [Gerard] Gerombeau hier nicht besonders angesehen waren, und zwar aus dem Grund weil sie in allen ihren Handlungen sich den Teufel darum scherten, was die Menschen außerhalb der Bewegung sagten, wenn es nur im Interesse der Sache geschah. Hauptsächlich waren sie nach Bourgeois- und anderen Ehrenbegriffen nicht ehrlich genug, wenn sie vielleicht hier und da auf krummen Wegen mittel zur Agitation schafften. (...) In den Zeitungen und Versammlungen sucht man das Volk aufzuwiegeln, und innerhalb der Partei ist man zu feige, ich weiß keinen anderen Ausdruck, selber mit einem guten Beispiel voranzugehen, das halbverhungerte und indifferente Volk findet instinktiv den richtigen Weg, sich seiner Peiniger zu entledigen, wo immer eine passende Gelegenheit sich findet, wie das in Frankreich, England, Amerika und hier mehrfach der Fall war, und wir wissen nichts besseres zu thun als durch einen phrasenhaften Zeitungsartikel die That zu verherrlichen.“

Besonders ärgerte Neve, dass er nun ein den deutschen Genossen gegebenes Versprechen nicht halten könne, und ein derartiges Verhalten für die Bewegung schädlich sei.[27]

Halten wir zunächst fest: In dem gesamten öffentlich zugänglichen Briefwechsel Neve-Dave, der am 26.1.1887 endete, rund fünf Wochen vor Neves Verhaftung, findet sich kein Hinweis darauf, dass Neve Sprengstoff zur Verfügung stand und er solchen Anfang September 1886, wie ihm die Anklage vor dem Reichsgericht in Deutschland anlastete, nach Magdeburg versendet habe. Es gibt dagegen eine Fülle von Hinweisen, dass es ihm mindestens bis Ende Juli 1886 vollkommen unmöglich war, Sprengstoff zu beschaffen, und er keinerlei Option mehr hatte, diesen Umstand zu ändern. Da Neve selbst angab, der Briefwechsel sei von Juli 1886 bis Januar 1887 unterbrochen gewesen, braucht man sich auch nicht über verlorene Briefe, die Berichte über neu realisierte Lieferquellen hätten enthalten können, den Kopf zu zerbrechen.

Dem gegenüber steht die Behauptung von Josef Peukert in seinen 1908 erschienenen Lebenserinnerungen, er habe Neve im Mai 1886 in Verviers besucht und dort mit ihm einen Lieferweg für Dynamit aus Paris besprochen, der im Anschluss dann auch regelmäßig benutzt worden sei.[28]  Für dieses angebliche Faktum gibt es keine andere Quelle als Peukert selbst.

Es drängt sich mithin der Verdacht auf, dass es sich bei Peukerts Angabe um eine Lüge handelte – und zwar um eine besonders perfide Lüge. Denn erstens wusste Peukert, dass er damit etwas aussagte, was nur Neve selbst glaubhaft hätte widerlegen können, und der war längst stumm im Zuchthaus verendet. Und zweitens gab Peukert mit dieser Angabe der Anklage vor dem Reichsgericht den Anschein einer gewissen Legitimität. Oder anders formuliert: Er baute sich in eine erfundene Realität ein, und er konnte wiederum sicher sein, dass seitens des allein kundigen Gegenparts, der deutschen Polizei und Justiz, mit Sicherheit kein Dementi zu erwarten war.

Auf die Hintergründe der deutschen Anklage gegen Neve wird im 3. Teil dieses Aufsatzes näher eingegangen.

Praktische Solidarität mit verfolgten Rebellen und Streikenden

Dave hatte es in seiner Reportage über die Demonstrationen und Massenstreiks in Belgien im März 1886 nüchtern zusammengefasst: Im Ergebnis ihrer von der belgischen Regierung sofort und blutig umgesetzten militärischen Unterdrückung starben 65 Arbeiter und Arbeiterinnen, wurden 180 verwundet, gerieten 585 in Haft. Da die Revolte auch von einer schweren wirtschaftlichen Krise ausgelöst wurde, die weiter andauerte, war die Not der betroffenen Familien sehr groß.[29]

 

(6) Im Commonweal erschienen die Berichte von Victor Dave über die Märzunruhen.

Neve gliederte sich unverzüglich in den Strom der spontanen Hilfeleistungen ein. Er schlug Dave vor, Geldsammlungen zu veranlassen, um durch erlebbare Solidarität gerade auch die Moral unter den in Bewegung geratenen Menschen zu stärken.[30] Kurz darauf berichtete er von „massenhaften Anfragen“ nach Unterstützung. Wenn etwa in London schon Geld vorhanden sei, solle es umgehend an ihn nach Verviers geschickt werden, da er die entsprechenden Kontakte habe und dafür sorgen könne, dass nichts in falsche Hände gerate.[31]

* * *

In Summe betrachtet, hatte sich Neves anarchistische Praxis in Verviers recht schnell von der klassischen Zeitungspropaganda hin zum aktivistischen Aktionismus entwickelt. Die organisatorische Arbeit wandelte sich dabei von der friedlichen „Lesezirkel“-Betreuung zur Bildung terrorbereiter Kleingruppen. Neve ging auf diesem Weg viel weiter als Most, dessen Aufrufe zur „Propaganda der Tat“ und Bastelanleitungen für Bomben doch nur Maulheldentum waren – und später von ihm auch als Irrweg erkannt wurden. Neve ging weiter auch als Victor Dave, der sich hinsichtlich der Frage, wie sich genau denn Unterdrückung in Revolution umsetzen werde, als klassischer Bakunin-Anhänger sehr vornehm zurückhielt. Für Maulheldentum wie für Vornehmheit war Neve nicht geschaffen, dazu war er zu aufrichtig und dachte zu konkret.

Hinzu kam die sozialrevolutionäre Episode der belgischen Arbeiterrevolte im März, die in der Radikalität ihrer Kampfformen geradezu zum Abbild anarchistischen Wunschdenkens geriet. Demgegenüber musste der sektenhafte Kleinkrieg unter den Londoner Anarchisten, in den Neve sowohl von Dave als auch von Peukert wiederholt und gegen seinen ausdrücklich geäußerten Willen als Kronzeuge missbraucht wurde, als Frevel erscheinen. Neve wurde sogar, als sich diese Konflikte mehr und mehr auch im Rebell und in der Freiheit spiegelten, seiner einstigen Herzenssache Zeitungsvertrieb überdrüssig. „Es fällt mir nicht ein, Colporteur der die Bewegung schädigender Literatur zu werden“, schrieb er, bei aller Freundschaft doch erkennbar ungehalten, Ende Januar 1887 an Dave in London.[32] Es war sein letzter Brief an ihn. Anfang März erfuhr Dave von einem belgischen Genossen von Neves Verhaftung in Lüttich.[33]

(7) Rue de Marteau, eine weitere Deckadresse Neves in Verviers. Heute abgebrochen.

 

Siehe auch:

Teil 1: Sozialrevolutionär aus Uelvesbüll

Teil 3: Anarchismus und Polizeistaat. Neves Verhaftung in neuer Sicht

 

 

Fußnoten

[1] Zur Aufschlüsselung der Literaturnachweise bitte die Literaturliste am Ende des Teils 1 nutzen.

[2] Datenbank 2001; Eichler 1983, S. 71 ff., 108.

[3] Vgl. Jensen 1966, S. 66; Carlson 1972, S. 210 ff.

[4] Die Briefe befinden sich heute im Bestand Dave im IISG Amsterdam. Sie stammen aus Daves Besitz und wurden von diesem an Max Nettlau übergeben. Neve hat sie nicht datiert. Die Nummerierung der Briefreihenfolge und ihre tagesscharfe Datierung hat vermutlich Nettlau ermittelt und mit Bleistift auf die Originale notiert. Diese Angaben wurden hier übernommen. Sonst Datierung nach dem Poststempel des Umschlags, soweit vorhanden. Zu Daves Deutschkenntnissen vgl. Rocker 1924, S. 92 ff.

[5] Neve an Dave v. 9.11.1885.

[6] Neve an Dave v. 22.11.1885, 29.11.1885.

[7] Neve an Dave v. 29.11.1885.

[8] Neve an Dave v. 14. oder 15.2.1886.

[9] Neve an Dave v. 9.11.1885.

[10] Neve an Dave v. 29.11.1985. Die „Kriegswissenschaft“ ist digital abrufbar unter https://archive.org/details/MostRevolutionareKriegswissenschaft, 25.8.2019.

[11] Neve an Dave v. 26.2.1886.

[12] Neve an Dave v. 8./9.12.1885

[13] Neve an Dave v. 25.12.1885.

[14] Neve an Dave v. 27.3.1886.

[15] Neve an Dave v. 22.11.1885.

[16] Neve an Dave v. 15.12.1885.

[17] Neve an Dave v. Juni 1886. Vgl. Carlson 1972, S. 384 ff.

[18] Neve an Dave v. Juli 1886.

[19] Neve an Trunk v. 14.1.1887; Neve an ? v. 18.1.1887, zit.n. Carlson 1972, S. 360.

[20] Neve an Dave v. 22.11.1885.

[21] Neve an Dave v. 8./9.12.1885.

[22] Neve an Dave v. 15.12.1885.

[23] Neve an Dave v. 2.4.1886, IISG Amsterdam.

[24] „Insurrection in Belgium“, in: The Commonweal v. 1.5.1886, S. 37, v. 8.5.1886, S. 47, v. 22.5.1886, S. 58, v. 29.5.1886, S. 66, v. 5.6.1887, S. 75. Die Zeitung wurde seit 1885 von der Socialist League herausgegebenen, die aus der englischen Sektion des von Neve und Kitz gegründeten Clubs hervorgegangen war. Neve und Dave waren Mitglieder. Vgl. Teil 1.

[25] Neve an Dave v. Mai 1886.

[26] Neve an Dave v. Juni 1886.

[27] Neve an Dave v. 13.7.1886. Emile Piette und Gerard Gerombou/ Gerombeaux waren Anarchisten aus Verviers, die 1885 nach Buenos Aires/ Argentinien ausgewandert waren; http://militants-anarchistes.info/spip.php?article7904http://militants-anarchistes.info/spip.php?article2111, 17.2.2015.

[28] Carlson 1972, S. 354. Carlson selbst, vgl. ebenda, S. 348, geht ebenfalls davon aus, dass Neve neben der Zeitung auch „Dynamit, Zünder sowie andere Spreng- und Zerstörungsmittel wie Säure“ über die Grenze gebracht habe, gibt hierfür aber keinen nachvollziehbaren Beleg an. Hier handelt es sich wohl um eine unkritische Übernahme von Polizeivermutungen oder des Inhalts der Anklageschrift. Vgl. die ähnlich unplausible Darstellung bei Neuber, Anfänge, S. 19ff.

[29] Commonweal v. 29.5.1886.

[30] Neve an Dave v. 2.4.1886.

[31] Neve an Dave v. 22.4.1886.

[32] Neve an Dave v. 26.1.1887.

[33] A. Ranest [Rawest?] an Dave v. 6.3.1887.

Bildnachweis

(1) Postkarte Verviers Centre, ca. 1900; http://www.christianvancautotems.org/article-ma-biographie-n-219-1986-1er-semestre-mon-journal-91049718.html

(2) Zeitgenössisches Photo, ca. 1910; http://anarcoefemerides.balearweb.net/post/122456

(3) Google Street View

(4) https://www.pfalzgeschichte.de/franz-josef-ehrhart/

(5) http://hachhachhh.blogspot.de/2014/02/les-heros-des-cent-mille-briques-la.html

(6) https://en.wikipedia.org/wiki/File:Commonweal.jpg

(7) http://www.delcampe.net

 

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