Anna Barazetti, gesch. Korsen, geb. Straßberger, (1912 – ?)

Ein Stück bürgerlicher Widerstand aus Harburg, sehr selten, spät gefunden

Text: Christian Gotthardt
Februar 2023

(1) Anna Barazetti

Korsen, Elise Paula Anna, geb. Straßberger. Geboren 14.12.1912 in Harburg. 1934 dort wohnhaft. International tätige Funktionärin. Zur Verhaftung ausgeschrieben.

Dies war der dürre, aber doch anregende Gehalt eines Findmittelhinweises im Bundesarchiv Berlin, bezogen auf eine Akte im Bestand Reichsicherheitshauptamt von ca. 1936–1938, den ich vor Jahren fand. Es handelte sich letztlich nur um einen inhaltsgleichen Eintrag in einer Fahndungsliste. Damit kam ich nicht weiter. Aber die Sache hatte sich festgesetzt. Und siehe da: Jetzt fanden sich Kollegen, die helfen konnten. Das Findmittel war etwas schlampert, das Bundesarchiv besitzt nämlich eine zweite Akte zur Person, die aber wegen Namensdrehers nicht leicht auffindbar war: Eine staatsanwaltliche Handakte zur Vorbereitung eines Strafprozesses. Jetzt bin ich schlauer.[1]

1. Herkunft, Geburt, Ehe

Anna (ihr Rufname) Straßberger wurde geboren am 14.12.1912 in Harburg-Heimfeld als Tochter Anna Elise des Bäckermeisters Bernhard Straßberger und seiner Ehefrau Helene, geb. Stülken. Sie wohnte mit ihren Eltern zunächst in einer Mietwohnung im Hohlweg 41 (heute Nobléestraße), dann in den familieneigenen Häusern Bansenstraße 6, ab 1921 schließlich mit Bäckerei und Geschäft Alter Postweg 71. Dieses Haus ist heute noch im Familienbesitz.

Um 1933/34 heiratete sie Alfons Korsen, geboren am 13.7.1912, Maler und Fotograf, der zunächst in der Maretstraße 19 bei seinen Eltern wohnte, für 1935 unter Korsen, Napoleon, Atelier für Photo, Reklame und Innenbau gemeldet war, später von der Gestapo als Untermieter Winsener Straße 51 (bis 1.12.1937) geführt wurde. Die Ehe stand unter keinem günstigen Stern.

(2) Korsen Vater und Sohn. Napoleon war Alfons' zweiter Vorname.

2. Gemeinsam geplante Flucht Annas mit Werner Feodor Freyenried

Werner Freyenried (1914-2000) war Schweizer Staatsangehöriger, Enkel des renommierten Heidelberger Juraprofessors Cäsar Barazetti (1844-1907), der sich im schweizerischen Aarau in den Ruhestand begeben hatte und die Schweizer Staatsbürgerschaft besaß. Dessen Sohn Ferdinand Barazetti (1886-1961), Werners Vater, wirkte in der preußischen Provinz Hannover als Handelslehrer. 1915 beantragte er eine Änderung seines Nachnahmens in Freyenried, aus Protest gegen den Kriegseintritt Italiens auf der Seite Englands und Frankreichs, was ihm die zuständigen Behörden bewilligten.

Werner, wohl am Wohnsitz des Großvaters geboren, war wie sein 1913 geborener Bruder Bruno und seine Eltern in der Provinz Hannover gemeldet. Im Juni 1919 zog die Familie von Burgdorf (bei Hannover) ins Zentrum der Großstadt Harburg-Wilhelmsburg (Moorstraße 1). Den Vater interessierten die sich hier wie auch in Hamburg nach der Novemberrevolution entwickelnden Schulreform-Projekte. Ab Wintersemester 1932/33 studierte Werner an der Universität Hamburg, in den Quellen ist von Jura und Philosophie die Rede, ab 1934 zeitweilig auch in Prag. Diesen Ausweich wählte er aufgrund seiner wachsenden Gegnerschaft zum Naziregime in Deutschland.

Die Eltern zogen 1935 von Harburg in den Hamburger Stadtteil Dulsberg (Kattowitzweg 1), Grund war vielleicht ein Schulwechsel des Vaters, auch ein Familienzerwürfnis ist denkbar, Werners Vater und sein älterer Bruder waren inzischen Nazianhänger geworden. Er hielt zunächst die alte Wohnung in Harburg, suchte sich aber bald darauf eine günstige Bleibe in Welle–Moorhof bei Handeloh im Landkreis Harburg.[1a] Er war mit dem Ehepaar Korsen gut befreundet. Zugleich war er in Prag vom CSR-Geheimdienst angeworben worden und sammelte Nachrichten im Grenzgebiet und im Hamburger Raum.

Die Siedlung Moorhof bei Welle war etwas unkonventionell. 1922 gegründet von Hamburger Anhängern von Silvio Gesell, eines sozialdarwinistischen und latent antisemitischen Erfinders einer zinslosen Geldwirtschaft. Die Siedlung krachte bald nach der Gründung auseinander, die Aufkäufer wechselten, aber es wohnten hier immer noch, bis in die 1930er Jahre, Menschen, die man heute als Bauwagenbewohner bezeichnen würde. Freyenried war wohl nicht zufällig hier gelandet, sein ideologischer Beweggrund dafür ist allerdings unklar.


(3) Die Siedlung Moorhof bei Welle heute. Damals sogar mit Telefonanschluss.

Die Gestapo kam ihm wegen der Spionage auf die Spur. Er inszenierte seinen Tod im Wasser der Kieler Förde, mit Kleidung und Studentenausweis am Ufer. Eine Leiche wurde nie gefunden. Anna floh am 11. September 1936 zu Bekannten ihres Vaters in Olbernhau an der sächsisch-tschechoslowakischen Grenze, drei Tage später kam es dann zum Treffen mit Werner ebendort und am gleichen Tag zum Übertritt in die CSR. Werner nutzte jetzt den ursprünglichen Familienamen Barazetti.

Welche Motive der Flucht werden in den Briefen und Vernehmungsprotokollen, die in der Strafprozessakte enthalten sind, deutlich?

Auf jeden Fall eine starke Entfremdung vom Ehemann, die zum Zeitpunkt der Flucht bereits irreparabel schien. Anna hatte ein Scheidungsverfahren eingeleitet. Parallel bildete sich eine gemeinsame Lebensplanung mit W. Freyenried als tragendes Element heraus. Hinzu kamen Harburger Erfahrungen mit der Korruption der NSDAP (Skandale Großpietsch, König, Telschow).[2] Als ehemaliges Mitglied der sozialdemokratischen SAJ in Harburg hatte Anna vielleicht anfangs auf Impulse einer sozialistischen Erneuerung gehofft? Dass Annas Vater um 1935/36 starb, mag ihre Entscheidungen forciert haben, über die Beziehungen zu ihrer Herunftsfamilie wissen wir nichts.

Zu berücksichtigen wäre ferner: Es gab eine ideologische Nähe Freyenrieds zu Masaryks politischer Konzeption einer freiheitlich-sozialen Tschechoslowakei. Er kam in Kontakt mit Otto Strasser, und spürte vermutlich dessen ideologische Schnittmengen mit Masaryk. Man muss in Rechnung stellen, dass Strasser zwar ohne Zweifel ein Nazi war, im demokratischen und sozialdemokratischen Prager Exilmilieu aber als durchaus respektabler und wirksamer Hitlergegner galt.[3]

Strasser, seit 1925 in der NSDAP und zunächst führender Propagandist Hitlers, hatte sich wegen dessen Bündnis mit dem Großkapital von der Partei abgewandt. Als sein Bruder Gregor im Rahmen des sog. Röhm-Putsches (einer Säuberung unter führenden SA-Funktionären auf Veranlassung Hitlers) ebenso wie Ernst Röhm ermordet wurde, floh Otto Strasser mit Familie in die Schweiz und dann allein weiter nach Prag, dem damals wichtigsten Zentrum emigrierter deutscher Hitlergegner. Freyenried-Barazetti hielt mit Strasser Kontakt, noch enger arbeitete Anna mit Strasser und seiner Gruppe zusammen, vermutlich in der „Grenzarbeit“, d.h. beim Einschleusen von deutschen Emigranten in die CSR. Dagegen hat sich eine Nähe zwischen Straßberger/Freyenried-Barazetti zur kommunistischen Exil-Community in Prag, ebenfalls stark in Grenzarbeit und dem Betrieb von Emigrantenheimen engagiert, offenbar nicht hergestellt.[4]

Anna war in Strassers Wirken vermutlich stärker eingebunden als Werner, weil dieser als für die tschechische Verwaltung tätiger Netzwerker und Seismograph unter allen Exilantengruppen eine einzelne Gruppenmitgliedschaft nicht brauchen konnte. Für Anna hingegen war eine Gruppe sehr sinnstiftend. Sehr direkt drückt sich ihre Verbindung in dem Umstand aus, dass sie sich zur Entbindung ihres ersten Kindes in Herrliberg am Zürichsee aufhielt, wenige Schritte entfernt vom darüber gelegenen Ort Wetzwil, in dem Strasser seine Frau und seine Kinder in Sicherheit brachte, als er ins Prager Exil ging.[5]

(4) Passbild Werner Barazetti 1937


3. Wechsel der Lebensbedingungen ab 1938

Das Urteil in der Sache Ehescheidung aus Hamburg kam wunschgemäß schon am 23.12.1937. Elternschaft (Sohn Nikolaus, geb. 29.11.1937), Mai 1938 Heirat, das Münchener Abkommen im September und die Besetzung des Sudetenlandes ab Oktober 1938 brachten neue Herausforderungen für Werner ebenso wie für Anna. Werner ging zurück nach Prag, wo ihn die Tschechischen Behörden einer Dachorganisation britischer Hilfsorganisationen als deren Gewährsmann in Prag empfohlen hatten. Er sollte für die Aktion „Kindertransport“ (Kinder von in die Rest-CSR geflohener Juden sollten nach England gebracht und an Familien verteilt werden) gewissermaßen die Prager „Bodendienste“ übernehmen: Pässe, tschechische und deutsche Ausreise- und Durchreisevisa, Transportlogistik (Flugzeug, Bahn, Schiff). Insbesondere die erforderliche Kooperation mit der Besatzungsmacht Deutschland, bei Bewahrung äußerster Konspiration, war fast unlösbar.

Jedenfalls bedeutete die Beteiligung am Kindertransport für Werner mehr organisatorische als politische Arbeit, und damit faktisch auch Distanz zu Strasser, der im Übrigen im Herbst 1938 Prag verließ und bis November 1939 bei seiner Frau in der Schweiz lebte, um dann via Frankreich und Portugal nach Amerika zu fliehen. Er war in Europa sicher lebensbedroht. Während des Aufenthaltes in der Schweiz hatte deren Polizei 3 Einreisen und 4 Ausreisen Strassers registriert, sämtlich von/ nach Frankreich.[6]

(5) Die Exilroute der Kindertransporte per Bahn von der Tschechoslowakei nach England

Wie lange Anna mit ihrem Sohn in Herrliberg blieb und wann oder ob sie überhaupt nach Prag zurückkehrte, ist derzeit nicht ermittelbar.

4. Sicht der Gestapo

Die Harburger Gestapo, ihre Leitstelle in Hamburg und in der Folge auch das Reichssicherheitshauptamt in Berlin wussten von der Flucht Annas seit Oktober 1936. Alfons Korsen hatte Annas Brief umgehend in der Harburger Dienststelle vorgezeigt. Nach einer brieflichen Selbstanzeige Annas beim Landgericht Hamburg im November 1937 – sie sollte das begonnene Scheidungsverfahren beschleunigen – ordnete die Gestapo Anna in das politische Umfeld der „Schwarzen Front“ Otto Strassers ein. Diese Sicht wurde durch Anfang 1938 durch neuerliche Befragungen ihres Ehemannes und ihrer Familie weiter erhärtet.

Den bereits 1936 vom Ehemann gegenüber der Gestapo geäußerten Verdacht, diese politische Orientierung sei von Freyenried gefördert worden, der im übrigen vermutlich noch am Leben sei und wohl mit Anna in Prag zusammen wohne, übernahm die Gestapo nach Befragung der gastgebenden Familie und ihrer Nachbarn in Olbernhau im weiteren Verlauf des Jahres. Im Dezember 1938 schloss sie die Ermittlungen ab und ließ den Haftbefehl in Kraft.

Näheres über Werner Barazetti und seine politisch-organisatorische Tätigkeit hatte sie nicht erfahren können. Hinzu kam, dass Anna nach dem Brief an das Amtsgericht im November 1937 keine weiteren Briefe mit politischem Inhalt versendete. Da sie nicht von Deutschland aus gehandelt hatte, waren weitere Ermittlungen ohne Anhaltspunkte und nicht sinnvoll.
Der Oberreichsanwalt beim Volksgerichtshof begnügte sich in der Folge damit, einmal jährlich bei der Gestapoleitstelle in Hamburg nachzufragen, ob es etwas Neues gäbe, was stets verneint wurde. Über Fahndungsaktivitäten deutscher Polizisten nach der Besetzung der CSR im März 1938 sagt die Akte nichts.

5. Abtauchen und Gefahr in Prag ab 15. März 1939 (Deutsche besetzen die CSR)

Werner war damals auf jeden Fall in Prag, ging zunächst mit falschem Pass auf den Namen Limogny (vom tschechischen Geheimdienst?) in den Untergrund, versuchte, die Kindertransporte weiterzuführen. Dies gelang auch, mit Hilfe einer überwiegend Masaryk-treuen tschechischen Verwaltung, die den deutschen Besatzern einredete, sie könnten damit ihr internationales Image aufbessern und außerdem seien sie die Juden dann ja los.[7]

(6) Bill Barazetti im Interview, 1994

6. Flucht nach England

Anna übersiedelte mit Kind kurz vorher, am 10.3.1939, in Verbindung mit einem der Kindertransporte. Sie muss nicht zwingend schon in Prag zugestiegen sein, es könnte auch auf der Strecke geschehen sein, z.B. in den Niederlanden. Kurz vor dem Überfall der Wehrmacht auf Polen jedoch wurden alle Transportaktivitäten von den Deutschen blockiert. Der letzte Kindertransport verließ Prag im Juli. Im August 1939 gelangte Werner auf anderem Wege über Polen, Finnland, Kopenhagen, Holland ebenfalls nach England. Dort wurde aus Werner Bill. Er leistete Arbeit für den britischen Militärgeheimdienst MI17, den Vorläufer der heutigen Geheimdienste MI5 und MI6.[8] Anna wurde als Deutsche mit Sohn Nikolaus ab Sommer zeitweilig auf der Isle of Man interniert.[9]

(7) Annas Registration Card im Internierungslager

In dem in Anmerkung 7 erwähnten Interview wurde Bill 1994 gefragt, warum er (mit Anna und Kind) nicht in die Schweiz gegangen sei. Dazu Bill: "

„Das war mein Konflikt mit der Schweiz. Mein Onkel, der Bruder meines Vaters, war einer der höchsten Offiziere der Schweiz und er beschuldigte mich bis zum Ende seines Lebens, ich hätte seine Karriere ruiniert. Ich ging nach England, weil ich wusste, der Krieg kommt und hier kann ich etwas Nützliches tun. Ich hatte bereits, noch vor dem Münchener Abkommen, in Prag für die Militärverwaltung ausgearbeitet, wie man, wenn es zum Krieg käme, mit deutschen Kriegsgefangenen umgehen müsse. (…) Die englischen Beamten, der Geheimdienst, hatten Kopien davon. Sie kannten die Anstrengungen für die Kindertransporte, sie kannten meine Vergangenheit und natürlich realisierten sie, dass ich eine nützliche Rolle übernehmen kann. Das wars dann.“ Sie wollten Werner haben.

(8) Ferdinand Freyenrieds Bruder Anton Barazetti, hier noch Oberleutnant, später Oberst der Schweizer Armee, mit Ehefrau Hedwig, geborene Gütermann, und Dackel. Er mochte den Geheimdienstler fremder Mächte in der Schweiz nicht mehr sehen.

 

7. Englisches Privatleben

Diese Zwischenüberschrift gilt vor allem für Anna. Werner blieb auch nach dem Krieg ein sehr öffentlicher Mensch, zunächst als weltreisender Instrukteur der Vereinten Nationen für entkolonialisierte Nationen beim Aufbau von Nichtregierungsorganisationen. Später wurde er Generalsekretär der Internationalen Federation of Employeese in Public and Civil Services, einer Dachorganisation für weltweit 130 Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes. 1991 - 1996, längst im Ruhestand, sprang er noch als Schatzmeister des Internationalen Pen-Klubs in London ein, vermutlich auf Vermittlung der UNESCO, die einer der großen Sponsoren des Pen-Klubs war.

Anna besorgte die Heimstätte im kleinen Ort Hornchurch bei London, wo die Familie eine jahrhundertealte Mühle bewohnte. 1942 war die Tochter Katherine (Kate) zur Welt gekommen, später zwei weitere, Annie und noch ein Bruder.

(

(9) In dieser Mühle wohnte die Familie Barazetti

Werner arbeitete Jahre an einem Buchmanuskript über Masaryk, ein Projekt, das er wegen Krankheit schließlich abbrechen musste. Seine Leistung im Kontext der Kindertransporte blieb unbekannt, bis er sie 1989 am Rande einer Gedenkveranstaltung für die Kindertransporte gegenüber einem damals als Kind Betroffenen beiläufig outete: „Ja, daran war ich auch beteiligt.“ Es folgten Nachforschungen, aber auch Kritisches und Eifersüchteleien der damaligen Akteure untereinander. Werner stand darüber. Die höchsten Ehren, so die Auszeichnung in Yad Vashem 1993 als „Gerechter unter den Völkern“[10] und die 2000 aus Anlass seines Todes vom Britischen Parlament beschlossene Ehrung seines Wirkens, die ausdrücklich auch Anna einschließt,[11] sind dem Paar nicht zu nehmen.

Unklar bleibt allerdings, warum in den Jahren der Ehrungen die Legende, Anna sei Tschechin gewesen und ihr erster Mann von den Nazis ermordet, nicht nur nicht korrigiert, sondern weiterverbreitet wurde.

Eine mögliche Erklärung habe ich dafür. Anna war Harburgerin, und als solche ein Riesendickkopf. Davon zeugt schon ihr Brief an den Ehemann kurz nach der Flucht in die CSR, dann ihr messerscharfer Brief an das Landgericht Hamburg von 1937. Sie wollte vielleicht die Legende so. Sie hatte sich von Deutschland losgesagt, und sie wollte nicht als verkappte „Reichsbürgerin“ britische Ehrungen annehmen.

Ihre Tochter Katherine war wohl ganz ähnlich. Sie kam zur Welt in einer Londoner Metrostation während eines deutschen Bombenangriffs am 8.9.1942. Als Anna sie 1958 im Alter von 16 aus der Familienwohnung warf (sie sei zu „rebellisch“), ging sie nach Israel in einen Kibbuz, lernte Buchhaltung bei einer Bank, heiratete und bekam zwei Kinder. Die Ehe krachte, Kate kam zurück nach England und lebte mit ihren Kindern in einem Wohnwagen. Werner überredete sie, in seine damalige Londoner Dienstwohnung zu ziehen. Sie übernahm nebeneinander und nacheinander mehrere Jobs, Büroarbeit für soziale Initiativen, für Theaterprojekte, die Nachfolge ihres Vater als Pen-Schatzmeisterin, feministische Publikationen, schließlich nach einer späten Lehrerausbildung Sprachunterricht für Geflüchtete. Sie starb am 28.9.2021.[12]

(10) Bill und Kate Barazetti, ca. 1945

Einer ihrer Brüder, vermutlich der jüngste, war damals noch am Leben. Anna nicht mehr. Ihr Todesdatum kenne ich leider nicht. Ein Bewohner von Hornchurch, Jams O`Donnell, postete in einem Blog im Januar 2008 ein schönes, vermutlich sehr treffendes Denkmal für sie:

„I often go to the churchyard of St Andrew’s in Hornchurch to take photographs. On a couple of occasions I have chatted with a middle aged man who is accompanied by his elderly mother. The old lady, I discovered, is Anna Barazetti, a brave and principled woman in her own right.“[13]


Anhang

Brief an Ehemann (Transkript) v. 10.10.1936

„Günther Fülle
Jena/Thüringen
Hirschelstr. 1 III bei Dr. Rückert[14]

Komotau, am 10.X.36[15]

Alfons, wie unrecht tust du Peter[16] ihm etwas derartiges zu schreiben. Er hat ja gar keine Gelegenheit, sich um mich persönlich zu kümmern. Als ich dir im Krankenhaus im Beisein von Werner[17] sagte – ich werde die Konsequenzen ziehen – nun, da stand mein Entschluß fest, mehr noch als ein paar km zwischen mir u. dem was man Heimat nennt zu legen. Du weißt jetzt, daß ich mit einem Wiederkommen nicht rechne.

Als erstes war ich hier zwar sehr krank, aber ich habe eine Arbeit u. werde mich dafür einsetzen. Es war für mich sehr schlimm, zu allem noch zu hören du seist nicht endgültig aus dem Krankenhaus entlassen. Ich hatte alles geordnet u. wußte Werner wird dir zur Seite stehen u. möchte daher keinen Vorwurf hören. Meine Bitte ist die: Du weißt Alfons was mich zu dem Entschluß getrieben hat für immer fortzubleiben. Ich kann mir nicht sagen lassen ich sei feige, u. warten kann ich dich nicht lassen, das hieße dich in dem Irrtum lassen, daß ich dich lieb habe.

Sei du nun bitte, Alfons, gegen mich nicht angefüllt mit Vorwürfen. Sei so großzügig unsere Zeit nicht häßlich wiederzugeben. Alles, was wir beide auszumachen haben, laß uns allein austragen. Ich muß wieder über mein Leben verfügen können u. dazu mich endgültig von dir trennen. Du mußt mir darauf ganz klar antworten.

Was über mich jetzt zu sagen wäre will ich dir gern erzählen. Meine Adresse kann ich dir noch nicht angeben, da ich in wenigen Tagen nach einem Grenzort ziehe. Jetzt noch eine Bitte: Laß nichts über meinen Aufenthalt verlauten. Du wirst leicht erraten, in welchem Lager ich arbeite. Noch möchte ich ein wenig weiterleben, darum bitte zu niemandem etwas über mich.[18] Schicke mir bitte ein paar Zeilen an Peter. Sag mir unbedingt was ist mit Werner los? Ich bekomme noch Geld das könnte er dir geben bekomme nichts über die Gruppe. Kannst Du mir nicht gleich antworten was ist? Ich finde sein Schweigen merkwürdig.[19] Antworte mir doch bitte … Der Brief wird selbstverständlich ungelesen weiterbefördert.“

Brief Selbstanzeige beim Landgericht Hamburg vom 14.11.1937 (Transkript)

Abschrift.
An das Landgericht Hamburg
Zivilkammer 10
------------------------------------
10 R 102/37

Herrliborg,[20] den 14.11.1937.[21]

Zu meiner Ehescheidungssache gebe ich Ihnen folgende Erklärung ab:

Meine Ehe besteht praktisch seit einem Jahre nicht mehr; die Klage läuft im Dezember ebenfalls ein Jahr. Meiner Ansicht nach kommt es in erster Linie darauf an, daß die Ehe auch vor dem Gesetze als geschieden gilt und nicht daß jetzt beide Parteien Beweise und Gegenbeweise suchen und sich endlos streiten und daß zum Schluß das Gericht ein Urteil fällt, welches doch zum großen Teil auf Zufall zum anderen auf unwahren Angaben des Klägers beruhen muß.

Ich habe diese ganze Geschichte jetzt satt und will wieder ein freier Mensch sein. Da es also unmöglich scheint, vorläufig zu einem Ende zu kommen, will ich Ihnen jetzt einen Scheidungsgrund anhand geben und nehme an, daß Sie sofort die Konsequenzen ziehen: Ich bekenne mich zu dem Brief, den ich im Oktober 36 an meinen Mann schrieb, als ich mich im Erzgebirge aufhielt und den er der Gestapo übermittelte.

Ich erkläre hiermit ausdrücklich, daß ich meiner Gesinnung nach Gegnerin des heutigen Deutschland bin und daß ich nichts so sehr wünsche, als daß die Verhältnisse dort einmal besser werden. Es ist mir vergönnt, einige der Männer, die für ein besseres Deutschland der Zukunft arbeiten, kennenzulernen, und ich muß gestehen, daß ich selten Menschen getroffen habe, die ehrlicher und anständiger sind. Ich möchte noch hinzufügen, daß die heutigen deutschen Verhältnisse für einen aufrichtigen Menschen unerträglich sind, leider habe ich doch mit eigenen Augen gesehen (Gau NSV Harburg), wie dumm, skrupellos und unsittlich sich die Menschen benehmen, die irgendwie in der Partei etwas zu sagen haben.[22] Und dabei sollten doch gerade sie ein Vorbild sein!

Aber das hat nicht direkt mit meiner Angelegenheit zu tun. Ich habe mir den Fall noch einmal genau überlegt, ich bin mir darüber klar, nicht zum wenigsten durch bodenlos dummen Drohungen des gegnerischen Anwaltes Dr. C[r]ammann[23] in einem seiner Schriftsätze, wo er die Gestapo in Prag Ermittlungen anstellen lassen will – daß es für mich, solange der „Nationalsoz.“ herrscht, keine Rückkehr mehr nach Deutschland gibt; ich weiß, daß die „Volksgemeinschaft“ nur für die da ist, die in der Partei sind oder heucheln, jetzt will ich dann so ehrlich sein und auch die Konsequenzen meiner Gesinnung tragen.

Ich halte es für eine Ehre, wenn die Ehe deshalb geschieden wird, weil ich „staatsfeindlich“ eingestellt bin, denn im Auslande ist man sich allgemein klar darüber, daß Hitler nicht Deutschland ist, und daß alles, was am Deutschen einmal groß war nicht zum heutigen Staate paßt. Bei dieser Gelegenheit kann ich es nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, daß auch mein Mann immer gegen den heutigen Staat war, daß er jetzt nur die Konjunktur gegen mich ausnutzen will und zu feige ist, bei seiner Gesinnung zu stehen. Doch ist mir das schon gleichgültig, ich wollte Ihnen nur ein Beispiel geben, wie der heutige Staat den Charakter verdirbt (obwohl in diesem Falle nichts zu verderben war) und wie man es lernt ehrlich zu sein, wenn man draußen ist.

Ich weiß, daß Sie diesen Brief für entsetzlich halten werden, für verbrecherisch und bitte Sie – sprechen Sie „Recht“.

Nachdem Sie dies zur Kenntnis genommen haben, bitte ich Sie noch, das Verfahren möglichst bald zum Abschluß zu bringen, damit ich auch amtlich meinen Mädchennamen wieder führe. Im übrigen können Sie versichert sein, daß ich mir das große Vergnügen machen werde, dies gesamten Schriftstücke in dieser Angelegenheit, zu ordnen und zu veröffentlichen. Sie können mir wirklich glauben, daß ich damit dem deutschen Recht nicht schade, sondern ihm einen großen Dienst erweise, dem wahren deutschen Recht nämlich, daß jetzt, wie so vieles, beurlaubt ist.

Das Gerichtsurteil wollen Sie bitte meiner Mutter, Frau Strassberger, Harburg-Wbg. 1, Postweg 71, zustellen, die mir meine Post nach England, wo ich jetzt eine neue Stellung antreten werde, nachschicken wird. Post auf den Namen Korsen nehme ich überhaupt nicht an.

Für sofortige Erledigung wäre ich Ihnen verbunden.

Mit deutschem Gruß
gez.: A. Straßberger
1 Durchschrift an das Polizeipräsidium, Harburg-W, I.
Herrn Dr. Nesemann[24]
Herrn Dr. Cammann[25]

Anmerkungen

[1] Bundesarchiv (BA) Berlin, R 3018/15341: Herzlicher Dank für den Akten-Tip an Andreas Herbst (Berlin), René Senenko (Hamburg) für seine Beschaffungshilfe und Kim Holden, Library and Archive Assistant am Manx Museum, Douglas, Isle of Man, für die prompte und engagierte Übersendung des Scans von Anna Barazettis Internierungs-Karteikarte mit der – so scheint es – einzigen Fotografie, die von Anna zugänglich ist!

[1a] Die Lebens- und Arbeitsdaten der Familien sind rekonstruiert nach dem gescheiterten Wiedergutmachungsantrag Ferdinand Freyenrieds (Staatsarchiv Hamburg (StAH), 351-11 Nr. 8618, Laufzeit 1950-1961) sowie Recherchen im Sterberegister Hamburg, in den regionalen Adressbüchern und in genealogischen Angeboten im Internet zum Namen Barazetti.

[2] Zu diesen Skandalen s.u. Anhang B, Anm. 22.

[3] Bachstein, Martin: Der Volkssozialismus in Böhmen: Nationaler Sozialismus gegen Hitler, in: Bohemia 14 (1973), S.340-371.

[4] Vgl. den Artikel Gebrochenes Leben auf dieser Website.

[5] S.u. Anhang B, Anm. 20.

[6] https://www.georg-elser-arbeitskreis.de/texts/schweiz.htm, 20.2.2023.

[7] Interview mit Werner Barazetti am 8.6.1994, 20.1.2023. Dieses Webangebot bietet ein Video und eine englische Textdokumentation des Interviews. Achtung: Der Text nennt einen Arthur Strasser als Kontaktperson Barazettis. Dies basiert vermutlich auf einem Hörfehler (bei Werners heftig deutscher Aussprache des Englischen entschuldbar) in Kombination mit einer Verwechslung mit dem österreichischen Bildhauer Arthur Strasser.

[8] Ebenda.

[9] https://www.imuseum.im/search/collections/people/mnh-agent-1262097.html, 1.2.2023. Interessant das transkribierte Datum und der Ausstellungsort der Identity Card: Prague. War Anna zu diesem Zeitpunkt in Prag und nicht mehr in Herrliberg?

[10] https://righteous.yadvashem.org/?searchType=righteous_only&language=en&itemId=4013808&ind=0, 6.2.2023.

[11] https://edm.parliament.uk/early-day-motion/17977/bill-barazetti, 6.2.2023. Mitinitiator dieses interfraktionellen Antrags war übrigens Jeremy Corbyn.

[12] https://www.theguardian.com/education/2021/nov/01/kate-barazetti-obituary, 20.1.2023; https://www.pascal-theatre.com/kate-barazetti/, 20.1.2023.

[13] „Ich gehe oft zum Kirchhof von St Andrew’s in Hornchurch, um zu fotografieren. Bei einigen Gelegenheiten habe ich mich mit einem Mann mittleren Alters unterhalten, der von seiner älteren Mutter begleitet wird. Die alte Dame, fand ich heraus, ist Anna Barazetti, eine mutige und prinzipientreue Frau in ganz persönlicher Verantwortung.“ http://thepoormouth.blogspot.com/2008/01/bill-barazetti-local-hero.html, 10.1.2023.

[14] Deckadresse für Briefverkehr; s. auch den Hinweis am Ende des Briefes.

[15] Komotau/ Chomutov, mehrheitlich deutschsprachige Stadt im tschechischen Nordböhmen.

[16] Nicht identifiziert.

[17] Werner Feodor Freyenried.

[18] Anna bezieht sich mit dieser Bemerkung auf die Ermordung des Strasser-Mitarbeiters Rudolf Formis am 23.1.1935, der in der CSR einen Rundfunksender installiert hatte, mit dem er die Propaganda der „Schwarzen Front“ nach Deutschland sendete. Die Mörder entstammten einer Kommandoeinheit des deutschen Terrorpolizei SD, die danach nach Deutschland entkam.

[19] Offenbar war Werner kurz nach dem gemeinsamen Grenzübertritt wieder unterwegs und Anna ohne Nachricht von ihm.

[20] Sehr zu vermuten: Herrliberg oberhalb des Zürichsees, Schweiz.

[21] Wenige Tage vor der Geburt ihres ersten Kindes Nikolaus am 29.11.1937.

[22] Anna bezieht sich hier auf eklatante Korruptionsaffären im Frühjahr 1934 in der in Harburg ansässigen NSDAP-Gauleitung Niedersachsen Ost, vgl. die Fälle Großpietsch, König, Telschow; VVN – Bund der Antifaschisten, Kreisvereinigung Harburg: Widerstand und Verfolgung in Harburg und Wilhelmsburg. Zeugnisse und Berichte 1933–1945. Erschienen zuerst 1980, zuletzt in der durch Christian Gotthardt und Hans-Joachim Meyer wesentlich erweiterten Auflage Hamburg 2005, S. 110–112.

[23] Richtig: Cammann, s. Anm. 25.

[24] Dr. jur. Ernst Nesemann, Rechtsanwalt und Notar in Harburg, tätig für die Großindustrie (Hauptversammlungen nach Aktienrecht) sowie diverse Eigentumstransaktionen für Gewerbe und Arbeiteraristokratie, ferner Leiter des Rechtsamts in der NSDAP Kreisleitung Harburg. Ob er als Anwalt der Prozessvertreter für Anna war, bleibt unklar. Vielleicht bekam er einen Durchschlag des Briefes nur deshalb, weil Anna auch die örtliche Parteihierachie involvieren wollte. Kanzlei noch heute aktiv.

[25] Dr. Hans Cammann, Sozius in der Kanzlei Justizrat Palm, Harburg–Heimfeld, NSDAP-nah, wohl der Prozessvertreter des Ehemannes.


Bildnachweis

(1) Isle of Man, Manx Museum
(2) Adressbuch Landkreis Harburg 1935
(3) https://archiv-wintermoor.de/umzu/harburg/moorhof-in-ottermoor; Fernsprech-Teilnehmer-Verzeichnis für Harburg-Wilhelmsburg und Umgegend 1935
(4) https://cs.m.wikipedia.org/wiki/Bill_Barazetti#
(5) http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/8227929.stm
(6) s. Anmerkung 7
(7) Isle of Man, Manx Museum
(8) Stadtarchiv St. Gallen
(9) https://www.romfordrecorder.co.uk/news/21473075.heritage-hornchurch-mill-relates-boar-heads-boxing-ww2/
(10) https://www.pen100archive.org/bill-and-kathy-barazetti/

Zurück