Louise Zietz und die Harburger Gummiarbeiterinnen
1901 – war das der erste großindustrielle Massenstreik von Frauen in Deutschland?
Text: Christian Gotthardt
Veröffentlicht im März 2022
(1) Abteilung Schuhfabrikation
Kürzlich hatte ich mich an dieser Stelle mit dem Thema Frauenarbeit beschäftigt, in einer kleinen Kollektivbiographie dreier Frauen, die sich in den Jahren zwischen 1918 und 1960 aus sozialpolitischem Engagement die Arbeitsbereiche Pädagogik und Sozialmedizin erschlossen. Hier soll jetzt ein mehr ereignisgeschichtlicher Gegenstand behandelt werden, und zwar der Streik der Harburger Gummiarbeiterinnen im Jahr 1901. Es war möglicherweise der erste industrielle Massenstreik in Deutschland, der von gewerkschaftlich organisierten Frauen ausgelöst wurde. Wieder einmal: Harburg als ein Stück Weltkulturerbe.
Der Streik begann um den 28. März 1901 herum. Die in der Abteilung Schuhfabrikation der „Gummifabrik Harburg-Wien“ (ab 1922: Harburger Gummiwerke Phoenix AG) beschäftigten Frauen legten die Arbeit nieder. Ihre Forderung, dass höhere Akkordlöhne bei verschiedenen Schuhtypen (hier war durch modebedingte Musteränderungen und dem in der Folge entstehenden Mehraufwand eine Reallohnsenkung eingetreten) erforderlich wären, war von der Betriebsleitung abgewiesen worden.
Kerngruppe der Streikenden waren die rund 400 Arbeiterinnen der Schuhfertigung sowie rund 120 Arbeiterinnen anderer Bereiche, die durch den Ausfall der Schuhfertigung arbeitslos wurden. Im Verlauf des andauernden Konfliktes, in dem die Betriebsleitung sich jeder Aufweichung ihres Lohndiktats verweigerte, schlossen sich schließlich auch männliche Beschäftigte an, rund 600 an der Zahl. Um diese Streikbeteiligung einzuordnen: die Firma beschäftigte zu dieser Zeit in Harburg insgesamt etwa 1700 Arbeitskräfte sowie in Hannover-Linden und Wimpassing/ Österreich zusammen weitere 1800.
(2) Schuhreklame
Die Betriebsleitung war inzwischen in die Offensive gegangen: Sie hatte eine Presseabteilung eingerichtet, die Falschnachrichten über angebliche Motive und Straftaten der Streikenden verbreitete. Sie organisierte den Zulauf von Streikbrecherinnen zunächst aus einem Schwesterbetrieb in Hannover, dann von ungelernten Arbeiterinnen aus Österreich und Polen. Nach etwa 11 Wochen Streikdauer verschärfte sie noch ihre Gangart und lobte eine Belohnung von aus für jeden, der ihr Behinderung durch Streikposten anzeigen würde.
Es war klar, der Kurs der Firma ging dahin, den Widerstand der Streikfront auf jeden Fall zu brechen und die Gewerkschaft, den SPD-nahen Fabrikarbeiterverband (FAV), vor dessen Mitgliedern und der Öffentlichkeit zu demütigen. Daher gingen die Schlichtungsversuche des bürgerlichen Harburger Bürgermeisters Heinrich Denicke und des Vorsitzenden des örtlichen Gewerbegerichts und Senators Julius Tilemann (deren Ernsthaftigkeit von den Streikenden bezeugt wurde) ins Leere.1
Kern des Widerstands in der Fabrikleitung war Carl Maret, zunächst Technischer Direktor, zum Zeitpunkt der Ereignisse Alleinvorstand. Wie der spätere Vorstandsvorsitzende der Phoenix, Otto A. Friedrich, in der zum Anlass des 100jährigen Firmenjubiläums 1956 herausgegebenen Festschrift lamentierte, habe Maret den Betrieb als seine Lebensaufgabe betrachtet, ihn als sozialen Musterbetrieb ausgestaltet und sei von der Streikaktion maßlos enttäuscht worden.2
(3) Carl Maret
Ein paar Worte noch zum FAV. Wie viele Fabrikarbeiterinnen und Fabrikarbeiter der Gummifabrik Harburg–Wien zu diesem Zeitpunkt Mitglied waren, wissen wir nicht. Es werden nicht wenige gewesen sein, die Streikfront stand fest, der Verband zahlte Streikunterstützung. Er hatte große Ausgaben deshalb.
Der FAV war erst 1890, nach dem Fall des Sozialistengesetzes, gegründet worden. Er hatte keine Wurzeln in der ersten Gründungswelle der sozialistischen Gewerkschaften 1868/ 1869, die gerade in Harburg viele Gewerke erfasste – und auch keine illegale Vorgeschichte in der Zeit des Sozialistengesetzes 1878 bis 1890. Er war ein Kind der damals modernen Industrie und vor allem gedacht für ungelernte großbetriebliche Arbeiter*innen ohne handwerklichen Hintergrund, meist ländlicher Herkunft. Dies waren vornehmlich Arbeiter der aufkommenden Industriezweige, wie etwa der Chemischen, Gummi- und papiererzeugenden Industrie, aber auch Arbeiter der Baustoff- und Nahrungsmittelindustrie, sowie Heimarbeiter und bis 1908 Landarbeiter. Darunter eben viele Frauen.
1892 hatte der Verband die Aufnahme von Frauen beschlossen. Um die Jahrhundertwende waren bereits nahezu 32 000 Mitglieder im FAV organisiert. 1905 hatte sich die Mitgliederzahl des Verbandes mehr als verdoppelt. Im gehörten nunmehr fast 76 000 Männer und Frauen an.
Harburg mit seiner modernen chemischen Industrie blieb das ganze 20. Jahrhundert lang eine Hochburg der Organisation: bis 1933 des FAV, ab 1946 der neugegründeten IG Chemie, Papier, Keramik. Sie dominierte die Gewerkschaftsbewegung vor Ort und stellte bis vor kurzem stets den örtlichen DGB-Vorsitzenden.
Zurück zum Streik. Wie er endete, mit welchem Resultat, welche Bewertungen seine Stärken und Schwächen verdienen, das alles enthält der folgende zeitgenössische Text von Louise Zietz, damals unmittelbar beteiligt am Geschehen, als Hamburger Agitatorin der SPD. Zietz hatte ein Vierteljahr vor dem Streik eine Rundreise durch Norddeutschland gemacht und unter Frauenbelegschaften für die FAV-Mitgliedschaft geworben. In Harburg wurden in einer öffentlichen Veranstaltung "eine hübsche Zahl von Mitgliedern" gewonnen. Zietz' resümirender Text erschien am 31.7.1901 in der „Gleichheit“, dem politischen Blatt für die sozialdemokratische Frauenpropaganda. Er zeigt die großen Stärken dieser Frau, die sie zum ersten weiblichen Mitglied des SPD Parteivorstandes werden ließen: der zielsichere Weg zum Kern des Konfliktes, die schneidende Schärfe der Argumentation, dazu die damals gewünschte reiche Klaviatur der pathetischen Anklage. Louise Zietz war eine der gefragtesten und erfolgreichsten Rednerinnen ihrer Zeit.
Ihr Todestag jährte sich vor ein paar Wochen zum 100. Mal. Sie starb am 27.1.1922, am Folgetag eines Schwächeanfalls im Deutschen Reichstag, deren Abgeordnete sie war. Sie war damals Mitglied der USPD-Fraktion, der linken Abspaltung der SPD. Ihr Text spiegelt die Umstände, Motive und die Wut der Frauen in der Fabrik auf einzigartige Weise. Weil er kaum bekannt ist, gebe ich ihn hier vollständig wieder.
(4) Louise Zietz 1919
Der Streik der Gummi-Arbeiterinnen und -Arbeiter in Harburg
Von Louise Zietz.
Nach langem, dreizehnwöchtentlichem Kampfes ist der Streik der Gummiarbeiter in Harburg durch einen Vergleich beendet worden. Am 19. März d. J. stellten 375 Arbeiterinnen, die bei der Schuhfabrikation in den Vereinigten Gummiwaarenfabriken Harburg–Wien beschäftigt waren, die Arbeit ein. Während nämlich zur Verbesserung der Waare eine immer größere Arbeitsleistung notwendig geworden, waren die Akkordpreise dieselben geblieben. Konnten die Arbeiterinnen früher an einem Tage bis zu 30 Paar Schuhe liefern, so mußten sie kurz vor dem Streik schließlich froh sein, bei angestrengter Thätigkeit 20 Paar fertigzustellen. Als nun abermals eine neue Arbeitsmethode eingeführt werden sollte, die geeignet war, den Verdienst der Arbeiterinnen noch weiter zu schmälern, forderten dieselben einen Lohnzuschlag, um die Differenz einigermaßen wett zu machen. Die Forderung der Lohnerhöhung wurde zum Theil verweigert, zum Theil durch völlig nichtssagende Erklärungen beantwortet. Es kam in der Folge zu Arbeitsniederlegungen. Senator Tielemann, Vorsitzender des Gewerbegerichts, bahnte Verhandlungen an, auf welche die Fabrikleitung auch einging. Jedoch blieben die Zugeständnisse weit hinter den Forderungen der Streikenden zurück. Diese forderten: 1. Für jedes Paar Schuhe einen Aufschlag von 2 Pf.; 2. Wiedereinstellung aller Arbeiterinnen und Entlassung der Arbeitswilligen; 3. Besser-Behandlung hauptsächlich seitens des Meisters Heins, sowie seitens der Aufseherinnen. Die Zugeständnisse der Fabrikleitung zeigt folgende Tabelle, aus der auch die Akkordsätze zu ersehen sind:
Die Akkordsätze für die letztstehenden 4 Schuhsorten sollten alle nicht erhöht werden. Den Arbeiterinnen kam es aber just hierauf an, da die meisten von ihnen bei der Herstellung der betreffenden Sorten beschäftigt sind und nur noch wenige bei der Fabrikation der übrigen Arten. Die Versammlung der Streikenden lehnte es daher ab, auf Grund dieser Anerbietungen die Arbeit aufzunehmen. Wie bescheiden ihre Forderung war, tritt deutlich in Erscheinung, wenn man den Verdienst der Arbeiterinnen dem Profit der Werke gegenüberstellt. Die Vereinigten Werke bestehen aus dem Betrieb in Wien, in Linden und Harburg. In dem vorjährigen, sowie in dem diesjährigen Geschäftsbericht wird über die Unrentabilität des österreichischen Werkes geklagt. Die erzielten Profite müssen also von dem Lindener und Harburger Werke abgeworfen worden sein; die hier beschäftigten Arbeiter und Arbeiterinnen haben durch lange, intensive Frohn bei karger Entlohnung die kolossalen Ueberschüsse ermöglicht. Die Werke verzeichneten im Jahre 1899 einen Reingewinn von 866644,67 Mk., im Jahre 1900 einen solchen von 1336631,99 Mk. Den Aktionären konnte 17½ Prozent Dividende ausgeschüttet werden. Bei angestrengtem Schaffen brachte es eine Arbeiterin auf 1,60 Mk. bis 2 Mk. Tagesverdienst. Die Fabrik zahlte für Männer Stundenlöhne von 22 bis 26 Pf. Bei diesen Zahlen bedenke man, daß die Arbeit in den Gummiwerken unangenehm und ungesund ist. In den ersten Wochen ihrer Beschäftigung daselbst kann fast keine Arbeiterin ordentlich essen. Alles, Kleidung und Nahrung, riecht nach Gummi und nach den zur Fabrikation nötigen Säuren. „Die Stinkbude“, so heißt das Harburger Werk im Volksmund. Wie gesundheitsschädlich die „Gummiluft“, ist bekannt. Trotz allem geschieht viel zu wenig für zweckentsprechende Ventilation. Im Jahresbericht des Königlich-Preußischen Regierungs- und Gewerberathes Grünewald vom Jahr 1897 heißt es darüber, „daß die hohe Erkrankungsziffer der männlichen Personen besonders aufgefallen, und daß man die sanitären Verhältnisse der Fabrik für den ungünstigen Gesundheitszustand verantwortlich machen und eine wirksame Lüftung herbeizuführen suchen müsse; daß aber diesen Bestrebungen gegenüber die Direktion sich ziemlich ablehnend verhalte.“ Bei den weiblichen Arbeitern machten sich die schädlichen Folgen noch in erhöhtem Maße in der Zahl der Erkrankten bemerkbar. Auf 100 männliche Mitglieder der Krankenkasse kamen nach dem erwähnten Bericht 51,9, auf je 100 weibliche Mitglieder 71,7 Erkrankungsfälle!!
Angesichts solcher Verhältnisse wagt es die Betriebsleitung vom „schwarzen Undank“ der Arbeiter und Arbeiterinnen gegenüber der „Arbeiterfreundlichkeit und Fürsorge“ seitens der Firma zu reden! Wohl dem, der diese „Arbeiterfreundlichkeit“ und „Fürsorge“ nicht am eigenen Leibe zu erproben brauchte! Nicht genug konnte sich die Fabrikleitung damit brüsten, daß sie „große“ Summen zur Unterstützung nicht mehr erwerbsfähiger Arbeiter gespendet habe. Sehen wir, wie es in Wirklichkeit damit aussieht: Bei der Vertheilung der Riesengewinne 1896 stiftete die Firma 80000 Mk. für die Pensionskasse der Beamten und ganze 20000 Mk. für nicht mehr erwerbsfähige Arbeiter, deren Auswahl dem Ermessen der Fabrikleitung anheimgegeben ist. Ausgezeichnet, unübertrefflich diese Fürsorge! Nur nicht für die Arbeiter, sondern für die Firma. Die unter Umständen gewährte Fürsorge ist die Kette, die die Arbeiter an den Betrieb fesseln, ist der Knebel, der ihnen den Mund schließen soll. Und was erhalten sie, nachdem sie jahrzehntelang gefrohndet, geschwiegen, sich geduckt, hundertfach sich das Prädikat „billige“, „bescheidene“, „willige Arbeiter“ verdient haben? Bestenfalls einen Bettelpfennig! Vielleicht aber auch, wenn das Ermessen der Fabrikleitung sie noch „zu leicht“ befunden, einen Fußtritt! Selbst der Gewerbeaufsichtsbeamte kam zu dem Schluß, die Stiftung ruhe auf unrichtigen Grundlagen, da die Arbeiter niemals begründeten Anspruch und ein Anrecht auf die Unterstützung erwerben, sondern immer auf das jeweilige Wohlwollen der Vorgesetzten angewiesen sind. Das war aber gerade die Absicht, die der ganzen „Fürsorge“ zu Grunde liegt. Wer auf Unterstützung reflektiert, hat fein artig zu sein, um das „theure“ Wohlwollen der Vorgesetzten nicht zu verscherzen. Man beurtheile nach den vorstehenden Angaben, wie „undankbar“ und „unbescheiden“ die Arbeiterinnen der Harburger Gummiwerke waren, daß sie auf ihrer Forderung eines Lohnzuschlags auf alle Schuhsorten bestanden.
Nachdem der erste Unterhandlungsversuch nicht den gewünschten Erfolgt gehabt hatte, wandte sich die Kommission der streikenden Arbeiterinnen in einem Schreiben an den Vorstand des „Großwirthschaftlichen Schutzverbandes“, den Verein der Harburger Arbeitgeber. Sie ersuchten denselben, zur Schlichtung der Differenzen eine Kommission zu bilden, die bestehen sollte aus dem Vorsitzenden des Gewerbegerichts, dem Vorstand des Verbandes der Harburger Arbeitgeber, der Direktion der Gummiwerke, der Kommission der Arbeiterinnen und zwei Vertretern des Fabrikarbeiterverbandes, dem die Arbeiterinnen angehörten. Dieser Vorschlag wurde vom Vorstand des Arbeitgeberverbands mit der Motivierung abgelehnt, daß er die Vermittlung nur dann übernehmen könne, wenn die Direktion der Gummiwerke Harburg ein solches Verlangen stelle. Diese aber stellte ein solches Verlangen nicht. Ein abermaliger Vermittlungsversuch von Seiten des Senators Tielemann scheiterte an der Starrköpfigkeit der Direktion. Statt die geringen Aufbesserungen zu gewähren, maßregelte die Fabrikleitung diejenigen Arbeiter, deren Frauen und Töchter am Streik betheiligt waren. Aus Empörung über die Brutalität und Protzenhaftigkeit und um die Arbeiterinnen in ihrem Kampfe zu unterstützen, legten nun fast sämtliche Arbeiter der Fabrik die Arbeit nieder. Die Zahl der Streikenden stieg dadurch auf 1200. Verschiedene Verhandlungen zwischen Kommission und Fabrikleitung verliefen resultatlos. Mitte Mai versprach die Direktion Folgendes: Sobald der Betrieb voll aufgenommen, Wiedereinstellung aller Arbeiter und Arbeiterinnen mit Ausnahme derjenigen, die sich gegen die Fabrikordnung vergangen. Fortbestehen der im Anfang des Streiks zugestandenen Lohnerhöhungen. Entsprechender Lohnaufschlag auf Canevasschuhe, falls dabei ein mittlerer Arbeitsverdienst nicht erreicht werden könne. Die eingestellten Arbeitswilligen sollten weiter beschäftigt werden. Die Arbeiterinnnen lehnten diesen Vorschlag ab, da ihnen mit Recht der Ausdruck „mittlerer Arbeitsverdienst“ als zu vag erschien. Sie forderten feste Lohnsätze und Entlassung der Arbeitswilligen.
Inzwischen setzte die Leitung der Fabrik alle Hebel in Bewegung, um Streikbrecher zu werben. In spaltenlangen Annoncen ward Arbeiterinnen „dauernde“ und „lohnende“ Beschäftigung bei „leichter“ Arbeit in Aussicht gestellt. Agenten reisten werbend nach allen Richtungen der Windrose. Aus Russisch-Polen wurden Arbeiterinnen herbeigeschleppt, die der Firma völlig wehrlos gegenüberstanden, da sie der deutschen Sprache nicht mächtig waren. Arbeitshäuser und christliche Herbergen wurden nach Arbeiterinnen und Arbeitern abgesucht. Was that es, wenn diese, der Arbeit völlig unkundig, für viele Tausende von Mark Waare verdarben, wenn in Folge des Streiks die Aktien rapide sanken, wenn die eingelaufenen Aufträge nicht ausgeführt werden konnten und dadurch gewaltiger Schaden erwuchs? Durch jahrelange Frohn hatten die Arbeiterinnen und Arbeiter Schätze auf Schätze gehäuft, nicht für sich, aber für die Firma, da konnte diese es sich schon etwas kosten lassen, um ihren Arbeitsbienen zu zeigen wer „Herr im Hause“ sei. In ihrer Protzenhaftigkeit wurde die Direktion aufs Beste unterstützt von den Preßtrabanten der bürgerlichen Blätter, von den übrigen Arbeitgebern und – der Polizei. Auf jeden Arbeitswilligen, jede Arbeitswillige kam fast ein „Beschützer“ in Pickelhaube und Uniform, der es zu verhindern wußte, daß die Streikenden von der gütlichen Überredung der Arbeitswilligen, die der § 152 der Gewerbeordnung, unser Koalitionsrecht, uns ausdrücklich gewährleistet, Gebrauch machen konnten. Vom Eisenbahnkoupee bis zur „Arbeitswilligenpforte“ erfreuten sich die Streikbrecher polizeilicher Bedeckung. Im „Empfangskomite“ für Arbeitswillige ward ihnen folgender Kontrakt vorgelegt, der dem klaren Wortlaut des Gesetzes Hohn spricht.
„Die Arbeiterin ………………
tritt bei der Aktiengesellschaft
Vereinigte Gummiwaarenfabriken Harburg–Wien, Harburg a.d.E.,
für das halbe Jahr vom …… bis ……
in Arbeit.
Das Arbeitsverhältnis läuft jedesmal stillschweigend auf ein halbes Jahr weiter, wenn es nicht drei Tage vor Ablauf aufgekündigt ist.
Während der Lehrzeit, die bis zu vier Wochen nach dem Dienstantritt sich erstreckt, kann die Arbeiterin jederzeit dann entlassen werden, wenn sie entweder nicht die Fähigkeit hat, die aufgetragenen Arbeiten ordnungsmäßig auszuführen, oder sich als träge erweist.
Wird sie aus dem erstgenannten Grunde entlassen und will sie nach …… zurückkehren, so wird ihr von der Arbeitgeberin eine Fahrkarte vierter Klasse nach …… ausgehändigt.
Während der Lehrzeit erhält die Arbeiterin einen festen Lohn von 1,50 Mk. pro Tag. Alsdann kommt die Arbeiterin in Akkord und vergrößert sich der Arbeitsverdienst je nach Fleiß und Geschicklichkeit bis zu 3,40 Mk. pro Tag.
Im Uebrigen ist für das Arbeitsverhältniß die Fabrikordnung der Arbeitgeberin maßgebend. Dieser Vertrag bleibt auch dann in Kraft, wenn ein Nachtrag zur Fabrikordnung oder eine neue Fabrikordnung erlassen werden sollte.
Vorstehender besonderer Vertrag ist von der Arbeiterin …… mit dem Versprechen unterschrieben, den von der Arbeitgeberin geleisteten Reisevorschuß von …… Mk. in wöchentlichen Raten von einer Mark zurückzuzahlen.
Die Wochenrate kann vom Lohne einbehalten werden.
……, den …… 19 . . “
Darnach scheint die Direktion der Meinung, daß § 122 der Gewerbeordnung, laut dessen vereinbarte Kündigungsfristen für beide Theile gleich sein müssen, für sie nicht existiert. Die gesetzesunkundigen Arbeiterinnen, die nicht wissen, daß ein Kontrakt wie der vorstehende ungiltig ist, halten sich für verpflichtet und gebunden, und dies um so mehr, als der „Reisevorschuß“ abgearbeitet werden muß. Zu spät werden sie gewahr, in welche „Eldorado“ sie gerathen sind. In einem Betriebe, wo Arbeiterinnen, die 15 bis 20 Jahre dort thätig sind, es nicht auf 2,50 Mk. bringen konnten, stellt man Neueingestellten 3,40 Mk. pro Tag in Aussicht. Welcher Hohn!
War der famose Kontrakt unterzeichnet, so ging es an die Arbeit und Abends in die für die Streikbrecher erbauten Baracken, „Arbeiterwohnungen“ genannt. Der Bau grenzt unmittelbar an einen Wasserlauf, der mit den Abwässern verschiedener Fabriken angefüllt ist.3 Dieser Umstand trägt sicher nicht zur Verbesserung der Luft bei, wohl aber dazu, daß die „Arbeiterwohnungen“ feucht sind. In der Folge wird für die Bewohner der Keim zu rheumatischen und anderen Krankheiten gelegt. Das Wohnen in den Baracken ist umso ungesünder, als das Fundament und die einen halben Meter hohe Grundmauer des Baues nicht Zeit zum Austrocknen hatte. Die Baracken wurden so fabelhaft schnell fertig gestellt und bezogen, daß man billigerweise bezweifeln könnte, ob der verwandte Mörtel zu trocknen und zu binden vermochte. In der unmittelbaren Nähe dieser „Wohnungen“ befindet sich das Benzin- und Naphthalager der Fabrik. Vor der Berührung mit den Streikenden „schützte“ man die Arbeitswilligen sorgfältigst. Den Schutz ihres Lebens und ihrer Gesundheit ließ man sich jedoch offenbar weit weniger angelegen sein. Vom Vorsitzenden des Fabrikarbeiterverbandes, Genossen Brey, ward der Fabrikinspektor auf die geschilderten skandalösen Zustände mit dem Ersuchen aufmerksam gemacht, festzustellen, ob diese „Wohnungen“ und ihre Umgebung den berechtigten Ansprüchen auf Schutz für Leben und Gesundheit der Arbeiter sowie den Geboten der Sittlichkeit entsprechen.
Um die Streikenden zu Paaren zu treiben, wurden von der Direktion der Gummiwerke an sämmtliche Arbeitgeber schwarze Listen mit den Namen der Ausständigen „zur gefälligen Bedienung“ versandt. Ein während des Streiks von der Direktion der Gummifabrik errichtetes Preßbureau versorgte die bürgerliche Presse mit Tatarennachrichten und Hetzartikeln gegen die Streikenden. Allen voran prangte selbstverständlich die alte Mär, der Streik sei eine sozialdemokratische Kraftprobe, er solle beweisen, daß die Sozialdemokratie in dem ihr bisher verschlossenem Gebiet der Gummiindustrie Fuß fasse. Mit Recht höhnt Genosse Brey im „Proletarier“4: „Heiliger Schubiak! Hat der Mensch eine Ahnung, wieviel Stimmen die Sozialdemokratie aus der Gummiindustrie erhält! Um diese zu vermehren, veranlaßt die Sozialdemokratie einen Streik der Gummiarbeiterinnen – also politisch Rechtloser! Um der Sozialdemokratie einen parteipolitischen Vortheil zu verschaffen, opfert der Fabrikarbeiterverband circa 100000 Mk. Daß dich der Geier!“ Die „Harburger Zeitung“5, die sich besonders in der Beschimpfung der Streikenden hervorthat, entblödete sich nicht, einen Aufruf der „Gummi“ zu veröffentlichen, worin 100 Mk. Belohnung Jedem versprochen wurde, welcher einen Streikenden nachwies, der versucht hatte, durch Drohung die Streikbrecher zur Arbeitsniederlegung zu bewegen. In die unangenehme Lage, diesen „Judaslohn“ auszuzahlen, ist die Firma jedoch nicht gekommen.
Lorbeeren hat übrigens in diesem Kampfe weder die bürgerliche Presse noch die Firma geerntet. Dagegen gab sich Bürgermeister Denicke, der auf Veranlassung des Genossen Brey wiederholt Verhandlungen anbahnte, die größtmögliche Mühe, einen für beide Theile acceptablen Friedensschluß herbeizuführen. Bei der letzten Verhandlung am 15. Juni kam es zu dem oben erwähnten Vergleich. Die vom Genossen Brey und der Harburger Zahlstellenleitung formulierten Forderungen lauteten: „1. Beibehaltung der bereits gemachten Zugeständnisse für die besseren Schuhsorten. 2. Garantie eines mittleren Arbeitslohnes für die bei den Canevasschuhen beschäftigten Arbeiterinnen. 3. Gewährung einer Lohnerhöhung für Canevasschuhe (eventuell in vier Wochen). 4. Einstellung der Ausständigen nach Möglichkeit.“ Dagegen war die Firma nur zu folgenden Zugeständnissen zu bewegen, die von den Streikenden angesichts der ganzen Sachlage angenommen wurden:
„1. Die Direktion wird die in der Fabrik beschäftigt gewesenen Arbeiter und Arbeiterinnen nach Möglichkeit wieder einstellen, behält sich aber freie Auswahl vor. 2. Die Fabrik wird die von ihr am 25. März d.J. bewilligten und bereits in Kraft getretenen höheren Lohnsätze für diejenigen Sorten Schuhe, bei deren Herstellung durch veränderte Konfektion eine Mehrarbeit entstanden ist, auch den wieder eintretenden Arbeitern und Arbeiterinnen zahlen. 3. Der tägliche Lohn für eine mittlere in der Fabrik beschäftigte Arbeiterin wird bei genügendem Fleiße und regelmäßiger Arbeit mindestens zwei Mark betragen, selbstverständlich nach vollendeter Lehrzeit. 4. Eine Lohnerhöhung auf Canevasschuhe kann die Direktion bis auf Weiteres nicht in Aussicht stellen.“
Punkt 1 und 4 der Zugeständnisse also bleiben hinter den Forderungen der Arbeiterinnen zurück. Da aber bei der allgemeinen wirthschaftlichen Depression der Arbeitsmarkt ständig ein Plus an Arbeitskräften aufweist und die Firma alles daransetzte, dieses Mehr an Arbeitskräften nach Harburg zu locken, so fühlte sich der Verbandsvorsitzende verpflichtet, die Beendigung dieses opferreichen Kampfes auf dieser Grundlage zu befürworten. Wie die Dinge lagen, konnte eine längerere Fortdauer des Streiks die erzielten moralischen und materiellen Errungenschaften ganz in Frage stellen. Nach reiflicher Überlegung stimmten die Ausständigen dem Vergleich zu. In einer Resolution gaben sie außerdem der Erwartung Ausdruck, daß Punkt 1 Einstellung der Ausständigen in loyaler Weise von der Direktion gehalten werde, eventuell sei nochmals der Bürgermeister als Vermittler anzurufen. Eine andere Resolution forderte, daß nunmehr die Direktion die Streichung der Namen der Ausständigen von der schwarzen Liste veranlasse.
Was die Direktion unter loyaler Auslegung ihrer Zugeständnisse zu verstehen scheint, beweist ihr Vorgehen nach Beendigung des Streiks. Tagelang holte sie noch Arbeitskräfte von auswärts heran und die Wiedereinstellung der Streikenden in die Fabrik wurde an zwei Bedingungen geknüpft: Austritt aus der Organisation und Ablieferung des Verbandsbuches an die Firma. Dank der Vermittlung der Harburger Zahlstellenleitung des Fabrikarbeiterverbandes ließ die Direktion die letztere Forderung fallen. Es war den Herren von der „Gummi“ klar gemacht worden, daß die Mitgliedsbücher Verbandseigenthum sind. Die Forderung des Austritts der Arbeiter und Arbeiterinnen aus der Gewerkschaft und der Partei hält die Direktion aufrecht.
Die Zähne beißt man zusammen vor Empörung ob solcher Brutalität! Kann es wohl etwas Unsittlicheres geben als das Vorgehen der Firma? Heißt es nicht alles Menschenbewußtsein, alle Menschenwürde mit Füßen treten, wenn man von Arbeiterinnen und Arbeitern, die soeben ein Vierteljahr von ihrer Organisation in den Stand gesetzt worden sind, den Kampf um Verbesserung ihrer Lage führen zu können, den Austritt aus dieser Organisation verlangt? Die Haltung der Direktion beleuchtet scharf, wie es in der kapitalistischen Ordnung um die vielgerühmte „Gleichberechtigung der Arbeiter“ steht. Die Kapitalgewaltigen führen diese Gleichberechtigung im Munde, wenden aber die schmutzigsten Mittel an, um die Arbeiter zu willenlosen Sklaven zu erniedrigen. Es ist den Herren Schlotbaronen nicht genug, ihre soziale Macht zu mißbrauchen, um die Frauen und Töchter des Proletariats körperlich zu prostituieren. Sie setzen noch alles daran, um Männer und Frauen der Arbeiterschaft geistig zu prostituieren. Bitternoth thut es, daß den § 153 der Gewerbeordnung der Passus eingefügt wird: „Wer Andere durch Drohung u.s.w. zu zwingen sucht, von solchen Vereinigungen zurückzutreten, wird mit Gefängniß bis zu drei Monaten bestraft.“ Streikende, um ihre Existenz ringende Arbeiter müssen oft auf Monate ins Gefängniß, wenn sie nur durch die Macht der Ueberredung Arbeitswillige zur Arbeitsniederlegung bewegen wollten und im Eifer sich dabei im Ausdruck vergriffen – auch in Harburg schwelen verschiedene Strafverfahren gegen Streikende. Unternehmer dagegen, die in der offenkundigsten Weise sich der Nöthigung schuldig machen, werden von keinem Staatsanwalt behelligt.
Die bekannte „Noblesse“ der Kapitalgewaltigen zeigt sich auch darin, daß Streikende, die wieder eingestellt werden wollen, sich vom Arzte auf ihren Gesundheitszustand untersuchen lassen müssen. Mit anderen Worten: die Direktion bestraft mit Entziehung von Beschäftigung und Brot diejenigen Lohnsklaven, die ihre Gesundheit in der Fabrik zum Nutz und Frommen der Dividendenschlucker ruiniert haben.
Zum tausendsten und abertausendsten Male zeigt uns der Kampf der Arbeiterinnen und Arbeiter in Harburg und seine Folgen, welch gewaltiges Stück Arbeit auf dem Gebiet der Organisation noch zu leisten ist. Wären in der Gummibranche die Ausgebeuteten fester in ihrer Organisation zusammengeschlossen gewesen, so würde nicht in derselben Zeit, wo in Hamburg Arbeitgeber eine Solidaritätserklärung für die Harburger Fabrik votirten, von den Arbeitern in Gelnhausen, Linden und Hannover Streikbrecherarbeit geliefert worden sein. Mögen daher unsere Genossen und Genossinnen allerorts die Meinung beherzigen: Organisiert Euch! Agitiert für die Organisation! Gestaltet sie allerorts mehr und mehr zu einem gewaltigen Bau, in dem alle Ausgebeuteten Schutz finden vor den Nücken und Tücken, den Schlägen des immer mächtiger werdenden Kapitals!
Bildnachweis
(1) Gib Gummi! S. 86 (s. Anmerk. 1)
(2) Gib Gummi! S. 121
(3) Gib Gummi! S. 82
(4) Louise Zietz 1919/ Staatliche Museen zu Berlin, Kunstbibliothek, Photothek Willy Römer
Anmerkungen
1 Heinrich Denicke (1856–1943) war Harburger Oberbürgermeister von 1899 bis Ende 1924. Julius Tilemann amtierte seit 1895 als rechtskundiger Senator des Magistrats, später von 1910–26 als Stadtsyndikus. Tilemann starb 1930. Zu den Beschäftigtenzahlen der Harburg-Wien s. Jürgen Ellermeyer: Gib Gummi! Kautschukindustrie und Hamburg, Bremen 2006, S. 30.
2 Otto A. Friedrich: Ein Werk im Spiegel der Weltwirtschaft. Zum 100jährigen Gründungstag der Phoenix Gummiwerke AG 1856 - 1956, Freiburg 1956, S. 73 f. Zur "Qualität" der sozialen Maßnahmen Marets s.u. den hier als Anhang beigefügten Bericht von Louise Zietz, zur vorbereitenden Agitation der SPD s. Die Gleichheit v. 19.12. 1900.
3 Hier ist der Fluss Seeve gemeint – er durchläuft die Nordheide, gelangt im Süden Harburgs in die Elbmarsch und mündet dort in die Süderelbe. Er war 1901 bereits seit 70 Jahren massiv durch die Harburger Industrie verschmutzt worden.
4 Mitgliederzeitung des FAV.
5 Die „Harburger Zeitung“ war ein Ende des 19. Jahrhunderts gegründetes, heute würde man sagen, Boulevard-Blatt, das auf ein kleinbürgerliches und proletarisches Massenpublikum zielte. Die SPD kennzeichnete es 1919 im Rückblick als "ein billiges Inseratenblatt", das "die sozialdemokratische Partei systematisch bekämpfe"; Peter Stein: Die Harburger Tagespresse (1750 - 1918), in: Harburg - Von der Burg zur Industriestadt. Beiträge zur Geschichte Harburgs 1288 - 1938. Hrsg. von Jürgen Ellermeyer, Klaus Richter und Dirk Stegmann. Hamburg 1988, S. 369 - 382.