"König der Ausbrecher"

Seine Odyssee durch deutsche Kriegsgefangenenlager führte den Franzosen René Schilling 1944 auch nach Harburg

Text: Christian Gotthardt
Veröffentlicht im Oktober 2021

(1) René Schilling am Abend seines Lebens. Er war Träger hoher staatlicher Auszeichnungen, u.a. der „Medaille des Evadés“ (Medaille der Entkommenen).

Schillings Lebensgeschichte fasst drei epochale historische Gegebenheiten wie in einem Brennglas zusammen: die Terrorherrschaft der deutschen Wehrmacht über Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter im besetzten Europa, die Rolle der deutschen Rüstungsindustrie bei der Fortführung des Krieges, und nicht zuletzt die kollektive und individuelle Kampfbereitschaft und Entschlossenheit vieler Kriegsgefangener in der Gefangenschaft.

René Schilling kam 1917 in dem Pariser Arbeiterviertel Menilmontant zur Welt. Er hatte acht Geschwister. Der Vater kehrte aus dem Ersten Weltkrieg mit vom deutschen Kampfgas zerstörten Lungen zurück. Um seiner Gesundheit willen zog die ganze Familie Anfang der 1920er Jahre zunächst in das ländliche Hügelland des Loiret, einer Region nördlich der Loire in der Mitte Frankreichs. Bald fassten sie Fuß in deren Zentralort Montargis, Verwaltungssitz des gleichnamigen Arrondissements, einer bereits nennenswert industrialisierten städtischen Agglomeration von damals rund 15.000 Einwohnern.

Mitte der 1930er Jahre trat René als Arbeiter in die Gummifabrik Hutchinson ein, dem größten Industriebetrieb vor Ort. Seinen Militärdienst leistete er ebenfalls in Montargis ab. Er wurde hier zum Funker ausgebildet.

(2) Die Fabrik Hutchinson in Montargis 1931

Er war 1940, als Deutschland Belgien angriff und daraufhin Frankreich, 22 Jahre alt, gut ausgebildet, Fortbildungs-beflissen, als begeisterter Basketballer sportlich durchtrainiert. Er wurde eingezogen, nahm an den Kampfhandlungen teil und geriet in deutsche Kriegsgefangenschaft. Die Wehrmacht, der das Gefangenenregime oblag, teilte ihn einem Stammlager („Stalag“) im deutschen Reichsgebiet zu, im Bereich des Odenwalds. Er musste dort, in Neckarmühlbach, auf einem Bauernhof Zwangsarbeit verrichten.

Zum ersten Mal geflohen

Nach etwa anderthalb Jahren gelang ihm und einem Mitgefangenen die Flucht. In Nachtmärschen, sich an den Sternen orientierend, versuchten sie sich in Richtung Schweiz durchzuschlagen. Sie wurden aber aufgegriffen und von der Wehrmacht in Strafhaft genommen.

Im Frühjahr 1942 deportierte die Wehrmacht René und andere belgische und französische Gefangene per Viehwaggon in das Stalag 325 Rawa Ruska in der Westukraine. Es war ein KZ-ähnliches, mörderisch geführtes Straflager, das die Wehrmacht seit März desselben Jahres durch dessen Erstinsassen, es waren zumeist Ausbrecher und sog. Arbeitsverweigerer, aufbauen ließ.

Nach einer offenbar befristeten Haftzeit in diesem Lager wurde René in das Stalag Hammerstein verlegt [damals deutsches Gebiet Pommern, heute Czarne in Polen]. Der vermutliche Grund: Während im ukrainischen Rawa Ruska die brutale Bestrafung und Abschreckung im Vordergrund standen, konnten in entwickelteren Regionen westlich davon die Gefangenen produktiver in der Zwangsarbeit eingesetzt werden.

Wieder Flucht, über 100 Kilometer

René flüchtete hier erneut, trotz geringer Erfolgschancen und der Aussicht, nach Rawa Ruska zurückkehren zu müssen. Nach mehr als hundert Kilometern Richtung Nordwest erreichte er den Bahnhof Stettin [heute Szczecin in Polen], wo er auf die Hilfe französischer Gefangener hoffte. Einige versuchten, ihm zu helfen. Aber einer war dabei zu unvorsichtig und René geriet wieder in deutsche Haft.

Wir schreiben inzwischen vermutlich schon das Jahr 1943 oder 1944, und zwar im jeweiligen Beginn des Sommers, denn in einer anderen Jahreszeit wäre an eine Flucht über so weite Strecken nicht zu denken gewesen. D.h., die erneute Verhaftung Renés stand bereits im Schatten der deutschen Niederlage in Stalingrad im Winter 1942/43. Andererseits war der Arbeitskräftemangel in der hochspezialisierten deutschen Rüstungsindustrie ebenso gewachsen wie der Verschleiß und somit Bedarf an Rüstungsgütern an den unter Druck stehenden Fronten.

Das veränderte natürlich die Prioritäten der Wehrmacht im Umgang mit ihren Kriegsgefangenen. Einen hochqualifizierten, intelligenten und körperlich widerstandfähigen Facharbeiter in einem Straflager aus rein disziplinarischen Gründen unproduktiv herunterzuwirtschaften, konnte sich Deutschland nicht mehr leisten. So wurde René nicht nach Rawa Ruska in den militärisch prekären Osten zurückgeschickt, sondern nach Hamburg zum Einsatz in einer Gummifabrik abkommandiert.[1]

In Hamburg-Harburg

Bei diesem Betrieb handelte es sich um die größte Hamburger Gummifabrik, nämlich die „Phoenix Gummiwerke AG“ in dem im Süden der Stadt gelegenen Stadtteil Harburg.[2] Sie war mit der Rüstungskonjunktur stark gewachsen, hatte in den besetzten Ländern Europas zahlreiche Gummiwerke übernommen und war mehr und mehr von der Beschäftigung qualifizierter Zwangsarbeiter abhängig geworden.[3] Das ihr aus den Weiten des besetzten Ostens von der Wehrmacht und der Arbeitsverwaltung "passgenaue" Fachkräfte zugewiesen wurden, zeugt von der hervorragenden Vernetzung des Konzerns mit der nationalsozialistischen Administration.

Die Meldeämter Hamburgs führten aktuelle „Hausmeldekarteien“, die jeweils pro Hausnummer die derzeitigen Wohnbelegungen auflisteten. Dies geschah auch bei Kriegs- bzw. Zwangsarbeiterlagern, seien es solche mit 6 Belegungen oder solche mit 600.

Renés Meldeort Seehafenstraße 16 war ein großes Lager mit mehreren hundert Belegungen, ein sog. Gemeinschaftslager mehrerer Firmen und verschiedener Nationalitäten. Im einzelnen brachten hier die Autofabrik Vidal und Sohn, die Getränkefabrik Steinicke und Weinlig und die Phoenix AG Zwangsarbeiter unter. Alle Firmen hatten in der Nähe Fertigungsstätten, Standort war das westliche Erweiterungsgebiet des alten Harburger Hafens. Das Gebäude stand auf dem Gelände der Galalith, einer Kunststoffabrik im gemeinsamen Besitz der Phoenix und der Thörl-Gruppe. Hier waren offenbar einige „Böden“ von Lagergut und Gerät geräumt worden, um Platz zu schaffen. Zu René enthält die Hausmeldekartei den folgenden Eintrag:

Name: Schilling, René
Geburtstag: 1.12.1917
Geburtsort: Paris
Familienstand: l[edig]
Zugezogen von: Aus der Kriegsgefangenschaft
Verzogen nach: Hbg. Neugraben, Lager Falkenberg, 25.8.44
Verwendung im
Luftschutz: 2.9.44 im Lager Falkenberg

(3) Gelände und Bebauung der Galalith im Harburger Seehafen

Ob René vor Ort bei der Galalith arbeiten musste (deren Produkte waren Bakelit- oder Hartgummi-ähnlich) oder in den etwa 2–3 km vom Lager entfernten großen Fabrikanlagen der Phoenix (mit den extrem rüstungsrelevanten Weichgummiprodukten Reifen, Stiefel, Regenmäntel, Handschuhe, Schall-, Stoß- und Vibrationsdämmungen für Kettenfahrzeuge und Geschütze), lässt sich aus diesen Angaben nicht ersehen. Weichgummi hätte seinen Erfahrungen bei Hutchinson eher entsprochen.

(4) Zeitgenössische Produkte von Hutchinson und Phoenix

Seine Verlegung vom Seehafen ins Lager Falkenberg steht mit großer Wahrscheinlichkeit in Zusammenhang mit den seit Sommer 1944 erheblich zunehmenden alliierten Bombenangriffen. Sie hatten, bevor sie sich im Oktober zu Flächenbombardements mit Brandbomben auf Wohngebiete ausweiteten, im Juli und August mit gezielten Sprengbomben auf Betriebe im Hafengebiet begonnen. Hatten womöglich Bomben auch das Lager auf dem Galalith-Gelände getroffen?

(5) Bombenschäden auf dem Firmengelände der Phoenix 1944

 

Lager Falkenberg

Dieser Lagerkomplex lag westlich des Harburger Hafens in einem Waldstück zwischen den Harburger Ortsteilen Hausbruch und Neugraben. Er bestand aus zwei voneinander getrennten Bereichen: einem Außenlager des KZ Neuengamme für etwa 500 Frauen (von der SS betrieben), meist als Jüdinnen verschleppte Tschechoslowakinnen, und einem Lager für französische und belgische Kriegsgefangene sowie italienische Militärinternierte.

Beide Gruppen wurden unter Bewachung in Arbeitskommandos auf dem Lagergelände, beim Bau von Panzergräben im Wald, in der Harburger Industrie und bei Aufräumarbeiten nach Bombenangriffen im Stadtgebiet eingesetzt.[4]

(6) Das Lager Falkenberg am Waldrand in Neugraben

Noch einmal: Flucht und Gefangennahme

Der letzte René betreffende Eintrag im Hausmeldebuch lautet: „8.9.1944, Luftschutz Falkenberg.“ Unter dem Begriff Luftschutz fielen auch die Aufräumarbeiten.
Vermutlich bei einem dieser Einsätze in den unübersichtlichen Trümmerwüsten Harburgs hat sich René buchstäblich aus dem Staub gemacht – nach Westen hin, Richtung Holland. Wieder wurde er aufgegriffen, wo und wann genau, ist unklar. Es könnte März oder April 1945 gewesen sein, unter dem Eindruck der zügig heranrückenden Westfront, die sich schon mitten in Holland befand. Jedenfalls fand seine neuerliche Eingliederung in die Zwangsarbeit nicht mehr statt. Er wird irgendwo im Nordwesten Deutschlands in einem Polizeigefängnis gesessen haben, unter der Bewachung von Beamten, die bereits die Hosen voll hatten, von den Alliierten bald befreit und nach Hause entlassen.

Nach dem Krieg erlernte er das Uhrmacherhandwerk und führte Reparaturen für mehrere Juweliere in Montargis durch. Er heiratete Suzanne Paltrie, eine bekannte Hutmacherin und Geschäftsfrau in der Rue Doree. In der Gemeinschaft der Resistants und ehemaligen Zwangsarbeiter war er hoch dekoriert und sehr angesehen.[5] René Schilling starb am 5. Mai 2012.

 

P.S.

Dem Autor des zitierten Nachrufs auf René Schilling, Jacques Bourgon, schickte ich nach der Fertigstellung des vorstehenden Textes einen Link dazu und ein Dankeschön für seine Erinnerung. Er antwortete mir noch am selben Tag. Es stellte sich heraus, er ist nicht nur umtriebiger Vorsitzender des Geschichtsvereins in Montargis, sondern auch Renés Cousin, Nachbar und langjähriger Gesprächspartner. Er hob hervor ein wichtiges Motiv des Ausbrechers, und das will ich hier gern ergänzen: „Er war allein, sein Mädchen war sehr weit.“

cg

Anmerkungen

[1] Jacques Bourgon: Drei Mal auf der Flucht im Zweiten Weltkrieg, in: La Republique du Centre/ Montargis v. 9.5.2012. Diesem Nachruf auf den am 5.5.2012 verstorbenen René Schilling sind dessen hier vorgestellten wesentlichen biographischen Daten entnommen.

[2] Phoenix Harburg als den Einsatzort René Schillings zu identifizieren, gelang mir erst, als mir Kollege Holger Artus, der sich aus der Perspektive der italienischen Militärinternierten mit den Hamburger Zwangsarbeiterlagern beschäftigt, Namenslisten Harburger Firmenlager zugänglich machte: Staasarchiv Hamburg 332-8_A 51/1 741-4nK 2336. Herzlichen Dank dafür! Vgl. https://blog.holgerartus.eu/category/italienische-militaerinternierte/, 4.10.2021.

[3] Zur Phoenix siehe auf dieser Website: Die politische Geschichte der Phoenix, Teil 1 und Teil 2, sowie Denunziant Dr. Dahlgrün.

[4] Schulz, Heiner: Das KZ-Außenlager Neugraben, in: Ellermeyer, Jürgen; Richter, Klaus; Stegmann, Dirk: Harburg. Von der Burg zur Industriestadt, Hamburg [1988], S. 493-503.

[5] Er war Ritter des Nationalen Verdienstordens Frankreichs und der o.g. „Medaille des Evadés“, die denjenigen Franzosen verliehen wurde, die mindestens zweimal aus deutschen Lagern oder Gefängnissen ausgebrochen waren.

Bildnachweis

(1) Jacques Bourgon, s. Anm. 1; Wikipedia

(2) La Republique du Centre (Montargis) v. 17.8.2016

(3) Ellermeyer, Jürgen: Gib Gummi! Kautschukindustrie und Hamburg, Bremen 2006, S. 102

(4) https://cycling.hutchinson.com; Gib Gummi!, s. Bildnachweis (3), S. 124

(5) Gib Gummi!, s. Bildnachweis (3), S. 63

(6) Ellermeyer u.a. (s. Anm. 4), S. 502

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