Im Heimfelder Kiez gescheitert

Neues zum „Harburger Blutmontag“ 1920

Text: Christian Gotthardt
Veröffentlicht im Mai 2022

(1) Tatort Heimfeld: „Mietskasernen“ südl. der Schule boten Deckung und freies Schussfeld für die Belagerer der Putschisten.

Im März 2020 jährten sich die vom Kapp-Putsch gegen die amtierende Reichsregierung ausgelösten Ereignisse des „Harburger Blutmontags“ am 15. März 1920 zum hundertsten Mal. Damals war zur Abwehr der Putschisten ein großer Teil der Harburger Bevölkerung nicht nur in den Generalstreik getreten, sondern hatte auch in Gestalt einer Einwohnerwehr zu den Waffen gegriffen. Erst nach blutigen Schießereien konnten die in die Stadt eingedrungenen und in einem Heimfelder Schulgebäude verschanzten Freikorps-Söldner entwaffnet werden.

25 Tote waren damals zu verzeichnen, und zwar 13 männliche Harburger, ein Soldat des in Harburg stationierten Pionierbataillons (dessen Mannschaften überwiegend auf der Seite der Einwohnerwehr standen), sowie elf Angehörige des Freikorps, darunter ihr Kommandant, der als Weltkriegsheld („Fliegerass“) bekannte Hauptmann Rudolf Berthold. Die Zahl der Verwundeten lag bei ca. 40. Da der Kapp-Putsch reichsweit ganz überwiegend durch Generalstreiks friedlich und schnell unterbunden wurde, fanden die Harburger Vorgänge hohes und anhaltendes Interesse im Reich und auch im Ausland und wurden vielfach kontrovers bewertet.

So ist es naheliegend und begrüßenswert, dass Mitglieder der Harburger Geschichtswerkstatt zum 100. Jahrestag des Blutmontags eine Darstellung auf dem aktuellen Stand der Forschung und Diskussion vorgelegt haben.[1] Ihr im Vorwort dargelegtes Bestreben, die Vorgänge in Harburg „als Einzelereignis“ und vor allem quellennah nachzuzeichnen, lässt sich als Wunsch nach zurückhaltender Bewertung und anschlussfähigen Resultaten lesen.

Die Autorinnen und Autoren beginnen mit einer kurzen Einführung in die Lebenswirklichkeit der Industriestadt Harburg (1920: rd. 69.000 Einwohner). Diese und auch der anschließende Abschnitt um die Vorgänge in den Monaten vor dem Kapp-Putsch widmen sich der Versorgungslage und der damit verbundenen Krisenstimmung in der Stadt. Es folgt das ereignisgeschichtliche Herzstück der Darstellung, die Chronologie der Tage vom 13. März 1920 (Nachricht vom drohenden Einmarsch des ca. 700 Mann starken, bewaffneten Freikorps in die Stadt Harburg zur Unterstützung des Kapp-Putsches) bis zum 17. März 1920 (Entwaffnung und Inhaftierung der Freikorpssoldaten und Ende des örtlichen Generalstreiks). Eine Schilderung des Schwurgerichtsverfahrens am Landgericht Stade im Juni des Folgejahres schließt sich an. Hier waren zwei Teilnehmer der Schießereien als vorsätzliche Mörder des Berthold angeklagt und am Ende freigesprochen worden. Danach beleuchten die Autorinnen und Autoren den Umgang der Nationalsozialisten mit dem Thema Blutmontag. Den Abschluss des darstellenden Teils bilden facettenreiche Einblicke in die Rezeptionsgeschichte der Ereignisse (Bertholdkult, Literatur, Memoiren), die für das Verstehen der andauernden Berthold-Verehrung notwendig sind.

Ich kenne die Probleme der schwierigen Quellenlage beim Blutmontag aus eigenen Forschungen,[2] gerade auch im Hinblick auf seine Chronologie: Alle direkt Beteiligten hielten in ihren Aussagen eigentümlich Abstand vom entscheidenden Handlungsstrang, der zur Bewaffnung der Einwohnerwehr, zur Waffenausgabe an zusätzliche Arbeiter, schließlich zur Belagerung der Schule und zur bewaffneten Auseinandersetzung führte. Niemand schien etwas befohlen zu haben, manche gaben vor, an anderen Orten gewesen zu sein. Alle mussten damals damit rechnen, dass die reaktionären Kräfte in Deutschland doch noch erfolgreich putschen und dann Rache nehmen würden.

Also ist bei der Analyse ohne Zweifel Vorsicht geboten. Betrachtet man aber die entscheidenden Wendepunkte der Ereigniskette, die zu Lasten der Putschisten gingen, erkennt man den roten Faden, der in den publizierten Quellen und Gerichtsakten explizit so nicht zu finden ist: Die Infiltrierung der zunächst bürgerlich dominierten Einwohnerwehr durch Linke seit ihrer Gründung im Herbst 1919, die rechtzeitige Verhaftung der Kapp-freundlichen Kommandeure des Pionierbataillons, die schnelle Durchsetzung des Generalstreiks in den Betrieben, die subtile Entmachtung des Interessenvertreters der örtlichen Großindustrie Graepel als Chef der Einwohnerwehr, die (wiederum rechtzeitige) Ausgabe zusätzlicher Gewehre an Arbeiter – das sind Aktionen, die nur organisationserfahrenen und einig handelnden Funktionären der Arbeiterbewegung möglich waren. Was auf den im Verlauf der Krise eingerichteten „Aktionsausschuss“ verweist, d.h. den Personenkreis aus Carl Gehrmann (SPD), Friedrich Nowack und Hugo Paul (USPD) und Franz Neuring (KPD). Hier lebte eine typische Organisationsform der Einheitsfront auf, die in Harburg schon in der Novemberrevolution 1918 und bei den Lebensmittelprotesten 1919 eine Rolle spielte. Dieses Korn Salz hinzugefügt, hätte die im Ganzen gelungene Chronologie noch schmackhafter gemacht.

Gleiches gilt für die Einflussnahme der Harburger Großindustrie auf das Geschehen. Es gab sie, warum sonst der Besuch von Leutnant d.Res. Dr. Max Thörl (Sohn von Friedrich Thörl sen. und begeisterter Flieger) bei Berthold in der Nacht vom Sonntag, dem 14. März, auf Montag, 15. März (Beginn des Generalstreiks). Und nicht zu vergessen: Nur ein paar Monate später gründete ein anderer Harburger Industriellensohn, Leutnant d.Res. Dr. Karl Weinlig, die Harburger Gruppe der „Organisation Escherich“ (Orgesch), einer der Programmatik Kapps verpflichteten paramilitärischen Vereinigung .

Aber klar: Man kann nicht alles auf einen Schlag klären. Vielleicht sind dies Fragen, auf die man in einer gedrängten Darstellung verzichten darf, die noch der Bearbeitung harren. So ist den Autorinnen und Autoren in jeder Hinsicht zu einer überzeugenden Leistung zu gratulieren. Das Text-Bildverhältnis des schmalen Bändchens ist ausgeglichen und inhaltlich gut abgestimmt. Die gezeigten Fotos, Postkartenmotive und Kartenausschnitte sind zum Teil erstmals veröffentlichte Fundstücke, sie sind alle relevant und wurden sorgfältig und brillant aufbereitet; ebenso die Texte, die im Bemühen um Verständlichkeit souverän formuliert und gegliedert wurden (in Fließtext, Infokästen, Bildunterschriften). Eine besonders glückliche Idee: Ein Anhang bietet eine wichtige Quelle für die weiter erforderliche kritische Rekonstruktion der Chronologie, nämlich den Bericht des Harburger Bürgermeisters Denicke an den Untersuchungsrichter im Stader Verfahren vom 21. Dezember 1920, als faksimiliertes Aktenstück. Ein präzises umfangreiches Quellen- und Literaturverzeichnis sowie ein ebensolcher Bildnachweis beschließen den Band. Viel Inhalt, viel Anschauung ‒ ein bei aller Leichtigkeit wirklich gewichtiges Buch.*

Das hier besprochene Werk regte mich jedenfalls an, im Nachgang noch ein wenig im Thema zu stöbern. Das mache ich regelmäßig 1-2 Jahre nach der Veröffentlichung eigener Texte, denn oft geben Leser*innen fruchtbare Hinweise, oder es gilt neu erschlossene Quellen auszuwerten. So stieß ich auf ein Fundstück, das zwar keine der noch offenen Fragen des Harburger Ereignisses berührt, aber eine interessante Facette der Persönlichkeit Bertholds offenlegt.

Im Juni 1921 berichtete das sozialdemokratische Zentralorgan Vorwärts über den zweiten „Blutmontags“-Prozess am Landgericht Stade gegen des Mordes verdächtigte Harburger (Verfahren Bartmann und Krelle). Er hatte wie der erste Stader Prozess gegen andere Beteiligte mit Freisprüchen geendet.

Der Vorwärts kommentierte zurückhaltend. Berthold sei sicher ein tapferer Mann, aber letztlich habe er als Rebell auf der Seite Kapps gegen die Republik konspiriert. Er sei ein „schwankender und phantastischer Charakter“ gewesen. Und weiter: „In den Wochen nach der Revolution hat er mehrfach auf der Redaktion des Vorwärts vorgesprochen, sich als Anhänger der sozialistischen Idee ausgegeben und mehrere Artikel für die Sozialisierung des Flugwesens im Vorwärts veröffentlicht, die von den stärksten Ausfällen gegen den Privatkapitalismus wimmelten.“[3]

(2) Berthold: ein bizarres Produkt des Wilhelminischen Militarismus.

Diese Texte ließen sich in den überlieferten Exemplaren des Vorwärts finden: Es handelt sich um den Artikel „Das Flugzeug – ein Stück deutscher Zukunft“ in Vorwärts (Abendausgabe) v. 15.3.1919, S. 1 f., sowie den Artikel „Wer verhindert die Ausbreitung des Flugverkehrs?“ in Vorwärts (Morgenausgabe) v. 21.3.1919, S.7.[4]

Diese Artikel sind bemerkenswert in dreierlei Hinsicht. Einmal enthalten sie realistische Einschätzungen zur volkswirtschaftlichen Bedeutung der Luftfahrt und ihren langfristigen Perspektiven. Auch seine Einschätzung des zeitweiligen Leiters des Reichluftamts August Euler und seiner persönlichen Interessen waren treffend.

Dann aber geriet seine Anbiederung an Sozialisierungspositionen (der SPD?) naiv und inkonsistent. Berthold war durch und durch Militarist und Antidemokrat. Er hatte keinen Begriff von öffentlicher Daseinsvorsorge, er wollte staatliche Verfügungsgewalt (in diesem Fall über die Infrastruktur Luftverkehr) als Basis autoritärer Machtausübung. Zu sehr scheint zudem die Existenzangst eines faktisch demobilisierten Kriegshelden durch, der seine Kompetenzen entwertet sieht und um Anschluss an Karriereoptionen ringt. Berthold war zu diesem Zeitpunkt noch auf dem Militärflugplatz in Döberitz im Westen Berlins stationiert, musste aber mit der Privatisierung der Anlagen und seiner Außerdienststellung rechnen.

Aufschlussreich ist schließlich die Position der Vorwärtsredaktion. Warum hatte sie die Artikel aufgenommen? Hatte sie 1919 versucht, mit dem Nimbus des Kriegshelden zu punkten? Die Erfolgsmeldungen des Kaiserlichen Heeres über seine „gewonnenen Luftkämpfe“ hatte sie jedenfalls bis zum Ende des Krieges stets wortgetreu abgedruckt. In ihrer bräsigen Abgrenzung von Berthold 1921 verlor sie aus den Augen, was diese Liaison im März 1919 über sie selbst aussagte.

Berthold begann noch in eben diesem März 1919, in dem er sich inkompetent und schleimig bei der SPD anbiederte, mit der Organisation eines Freikorps in Bayern, was ihm Ende April 1919 in Hammelburg gelang. Das Freikorps aus 1.200 ehemaligen Soldaten, das sich zunächst "Fränkisches Bauern-Detachement" nannte, nahm unter dem Kampfnamen „Eiserne Schar Berthold“ zunächst an den Kämpfen gegen die Münchener Räterepublik teil, in allerdings nachgeordneter Stellung: als Wachpersonal für Gefangene. Im September wurde die Truppe von Berthold ins Baltikum kommandiert, wo sie sich an Kämpfen der sog. Westrussischen Befreiungsarmee gegen die Rote Armee der Sowjetunion und das Militär der Republik Lettland beteiligte. Schon Mitte Dezember 1919 wurde die Gegenwehr der lettischen Streitkräfte und ihrer britischen Schutzmacht so übermächtig, dass sich die Eiserne Schar und andere deutsche Freikorps auf deutschen Boden retten mussten. Die meisten von ihnen quartierten sich im Raum Berlin ein, Berthold jedoch zog mit verbliebenen 700 Mann, 200 Gewehren und je 4 schweren und leichten Maschinengewehren weiter nach Stade, weil er von dort den Anschluss an die Marinebrigade von Loewenfeld suchte. Gleichzeitig erbot er sich den späteren Putschisten um Kapp und Lüttwitz, ihr Ziel einer Diktatur in Bayern militärisch zu stützen.

Anmerkungen

[1] Fabian Pleiser, Kirstin Rachow, Thomas Steege, Jan Stöver und Regine Wörmer, Der Harburger Blutmontag. Der Kapp-Putsch in Harburg im März 1920. Hg. von der Geschichtswerkstatt Harburg e.V. Hamburg 2020. 74 S., Abb., 12 EUR.

[2] Christian Gotthardt: Die radikale Linke als Massenbewegung – Kommunisten in Harburg Wilhelmsburg 1918–1933, Hamburg 2007; ferner auf dieser Website: Tucho und Harburg? (2015).

* Der vorstehende Text erschien Ende 2021 als Rezension in der Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Band 107, Hamburg 2021, S. 399-401.

[3] Vorwärts v. 27.6.1921.

[4] Die Ausgaben sind bei der Friedrich Ebert Stiftung aufrufbar unter https://fes.imageware.de/fes/web/.

 

 
Bildnachweis

(1) S. Anmerk. 1

(2) S. Anmerk. 1

 

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