Erinnern ans Vergessen
Eine Ausstellung von Normann Seils im großen Saal der Kulturwerkstatt Harburg
Titelfoto der Ausstellung "Erinnern ans Vergessen" im Programm der Kulturwerkstatt Harburg
Foto: Normann Seils
Das Konzept. Fünf (Selbst-)Portraits von Menschen, die an Demenz bzw. Alzheimer erkrankt sind. Normann Seils fotografierte jeweils die Person - präsentiert wird das Portrait überlebensgroß – und machte dazu ein Tonbandinterview. Über Kopfhörer kann man sich das Interview anhören und dazu das Gesicht der Person betrachten.
Erster Eindruck. Für eine Ausstellung sind die Wände des großen Saals der Kulturwerkstatt verblüffend leer. Man meint, fünf Portraits – das kann doch nicht die ganze Ausstellung sein? Wenn man dann aber die Tonbandinterviews hört, die 5-10 Minuten lang sind, merkt man, dass diese Ausstellung eine sehr intensive Beschäftigung vom Betrachter verlangt, sodass man gar nicht mehr verarbeiten könnte.
Ein überzeugendes Kunstprojekt. Es präsentieren sich und ihre Krankheit fünf sehr unterschiedliche Menschen. Sie sprachen überwiegend mit fester Stimme und können zumeist gut formulieren. Durch die Reichhaltigkeit bzw. der Begrenztheit der Antworten erschließt sich dem Zuhörer des Stadium der Krankheit. Durch die gelungene Mischung der Personen entsteht ein sehr vielschichtiger Eindruck, der für sich selbst spricht und keines Kommentars bedarf. Deutlich wird, dass mit zunehmender Krankheit die Wiederholungen und auch stereotype Antworten zunehmen. Allerdings scheint immer das Individuum durch, denn auch in der verengten Selbstwahrnehmung hat jede und jeder seinen ganz persönlichen Stil. So kann man den Persönlichkeitsverlust auch als eine Art Zuspitzung der persönlichen Eigenart wahrnehmen.
Die Mischung eines überlebensgroßen, nüchtern fotografierten Frontalportraits mit der Stimme des Interviewten, nur selten von knappen Fragen von Normann Seils unterbrochen, ist sehr stimmig. Eine Filmaufnahme könnte nicht besser sein. Denn so konzentriert man sich stärker auf das Gesagte und hat doch zugleich ein Bild des Sprechenden vor sich. Dadurch entsteht genau die richtige Spannung, die den Reiz gegenständlicher Kunst ausmacht. Und: man wird nicht von visuellen Krankheitsanzeigen, wie fahrigen Bewegungen oder einem starren Blick, abgelenkt von den oft doch sehr präzisen Aussagen.
Der Künstler. Normann Seils ist ein junger Hamburger Kameramann und Fotograf, der sich auf seiner Website sehr nüchtern präsentiert und nur wenig über sich verrät. Beachtlich, mit welchem Einfühlungsvermögen er die Kontakte aufgebaut und die Interviews geführt hat.
(2) Der amerikanische Maler William Utermohlen dokumentierte seine fortschreitende Alzheimer-Erkrankung, indem er sich immer wieder selbst portraitierte. 1995 erhielt er die Diagnose, das letzte hier abgebildete Portrait stammt aus dem Jahr 2000. 2007 starb Utermohlen.
Ein (zu) milder Blick auf die Krankheit? Die Tonbandmitschnitte sind sehr ruhig. Man hat den Eindruck, dass der Interviewte aktiv den Gesprächsverlauf bestimmt. Es gibt keine insistierenden Nachfragen oder Kommentare von Normann Seils, es entsteht fast kein Missklang zwischen Interviewten und Interviewer. Manchmal scheint Traurigkeit und Resignation durch. Die ganze Brutalität der Krankheit wird so weichgezeichnet. Wut und Frust äußern die Betroffenen nicht. Es liegt keine Aggressivität in den Stimmen. Die Angehörigen, die oft eine härtere Sicht auf den Krankheitsprozess haben, kommen nicht zu Wort. Aber vielleicht ist genau das gut so – sonst wäre es nur eins der üblichen Features über Alzheimer und Demenz. In Normann Seils Präsentation behalten die Personen ihre Würde, sind der Souverän der Interviews. Für viele ist das eine Eigenständigkeit, die sie im Alltagsleben vermutlich schon nicht mehr – oder schon bald nicht mehr – besitzen.
Normann Seils will das Projekt weiterführen. Ich bin gespannt, welche Entwicklung es nehmen wird. Vielleicht gibt es dann in einigen Jahren in der Kulturwerkstatt die Fortsetzung zu sehen und zu hören.
(3) Meine Schwiegermutter wurde im Verlauf ihrer letzten Lebensjahre immer vergesslicher. Aber nicht alle Erinnerungen verblassten. Im Gegenteil: Die vielen, lebenslang nicht verarbeiteten, Schreckenserlebnisse aus dem Krieg – wie die sterbenden Soldaten im Lazarett, im dem sie als junge Krankenschwester arbeitete – traten in ihren Alpträumen immer deutlicher hervor.
Die Ausstellung lief im September/Oktober 2016 in der Kulturwerkstatt Harburg.
Bildquellen:
(1) Normann Seils
(2) http://www.williamutermohlen.org/index.php/11-artwork/self-portraits/22-self-portraits
(3) Skizze: Angela Jansen