Die Anhörung
Ein Tag im Niemannsweg 220
Text: džessika
Veröffentlicht im September 2017
(1) Ort der Handlung
Anhörung nach § 25 Abs. 1 AsylG: Die Person muss selbst die Tatsachen vortragen, die ihre Furcht vor Verfolgung oder die Gefahr eines ihr drohenden ernsthaften Schadens begründen, und die erforderlichen Angaben machen. Zu den erforderlichen Angaben gehören auch solche über Wohnsitze, Reisewege, Aufenthalte in anderen Staaten und darüber, ob bereits in anderen Staaten oder im Bundesgebiet ein Asylverfahren eingeleitet wurde oder durchgeführt wird beziehungsweise wurde.
Ich wusste nicht viel von Dir: 24 Jahre alt – wirkst wie 14, kannst ein bisschen Deutsch, im September kannst Du einen Tag nicht zur Schule kommen, weil Du den Interviewtermin hast und Du hast mir erzählt, dass Du vor dem ersten Interviewtermin umbringen gemacht hast. Doch das war genug, um zu wissen, dass ich handeln muss. Ich hab mir einen Tag freigenommen und Dir angeboten mitzukommen. Ich glaub, ich habs für mich getan. Wenn Dir umbringen gelungen wäre vor diesem Termin, ich hätte bestimmt ein Jahr lang nicht gelacht.
So sind wir nach Kiel gefahren. Haben uns morgens um halb sieben auf dem Schulparkplatz getroffen, Du hast gesagt, es geht Dir gut. Ich hab Till Brönner trompeten lassen. Wir waren eine Stunde zu früh da.
Es roch noch nach Gehorsam und nach Krankenhaus. Es regnete, später kam der Sturm. Die Security war nett. Mit uns kam ein älteres russisches Paar. Wir wurden in einen Warteraum gebracht, dort saß schon ein etwa 14-jähriges Mädchen mit einer älteren Deutschen. Eine zweite Deutsche, der Vormund des Mädchens, kam etwas später. Als Lektüre lagen ein Kinderatlas und ein Bildband über Kommissar Rex bereit, an den Wänden Plakate des BAMF. 20 Holzstühle, kein Kaffee, nicht mal ein Wasserspender. Etwas später kam ein Flüchtling im Jackett, kurz darauf sein Anwalt. Ein Kotzbrocken. Wir haben dort sechseinhalb Stunden gewartet. Jede volle Stunde durch den Regen zum Haupteingang getrottet und eine Kippe geraucht. Der Anwalt hat einen Zwergenaufstand gemacht und er und sein Flüchtling haben einen neuen Termin bekommen, der alte Russe musste sein Interview unterbrechen und kam weinend zu seiner Frau zurück, das Mädchen brauchte auch eine Pause und bekam von seiner Betreuerin Butterkekse. Wir auch. Als der Anwalt weg war, waren alle liebevoll miteinander.
Dann kam das Interview – für mich endlich, für Dich weiß ich nicht. Vor uns saßen ein deutscher Beamter und ein junger, adretter Dolmetscher. Deutschland hat zuerst Fragen gestellt und sich dann angehört, warum Du zu ihm gekommen bist. Die Fragen betrafen Deine letzte Meldeadresse, Deine Route und wieviel Du für Deine Flucht bezahlt hast. Du hast geantwortet und dann hast Du erzählt.
Jetzt weiß ich alles von Dir. Kenne jede Narbe – ach was, vernarbt ist da noch gar nix. Perverse Situation, Du willst die drei Jahre und musst total strippen und Deutschland sitzt da mit ausdruckslosem Antlitz und glaubt Dir nicht und interessiert sich mehr für Deinen THC-Konsum als für Deine Seele. Auf dem Tisch ne Tempobox und ein Krug mit Leitungswasser und Pappbecher. In Deutschlands Griffweite Desinfektionsmittel.
Als Du erzählt hast, dachte ich nur: nein, jetzt nicht weinen oder kotzen und habs wie Deutschland mit versteinerter Miene ertragen. Irgendwann war es vorbei. Wir haben am Haupteingang eine letzte Zigarette geraucht und sind schweigend in mein Auto gestiegen. Navi an, Autobahn, Burger King, Leben kehrte in Dich zurück. Danach ging SmallTalk wieder, Till Brönner hat weiter trompetet und ich bin wegen des Orkans und Regens mit 85 km/h nach Norderstedt zurückgekrochen.
Zwölf Stunden später waren wir wieder auf dem Schulparkplatz und ich war am Ende meiner Kräfte. Jetzt sind zwei Tage vergangen und ich habe sehr viel geschlafen.
Bildnachweis
(1) https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Niemannsweg_20_Kiel.jpg