Das liberale Bürgertum lässt schießen

Die Harburger Reichstags-Stichwahl am 17. August 1878 und ihr blutiges Ende

Text: Christian Gotthardt
Veröffentlicht: Juni 2016

(1) August Grumbrecht 1811 - 1883: Nationalliberaler Frontmann der industriellen Interessen des Harburger Bürgertums

Verlust der politischen Macht – das ist die Kulisse, in der die herrschenden Eliten in Deutschland die Nerven verlieren und zur Gewalt greifen. Es folgen dann aufeinander parlamentarische und exekutive Rechtsentwicklung, Straßengewalt, Verfassungsbruch, Polizeiwillkür und juristische Verfolgung in unvorhergesehenem Ausmaß und atemberaubender Geschwindigkeit. So geschehen 1878 und 1932/33. Dass heute eine ähnliche Entwicklung möglich ist, wollen erst wenige erkennen.

 

Vorgeschichte

Ein nach demokratischen Grundsätzen gewähltes Parlament gab es in Deutschland erst seit der Bismarckschen Reichseinigung, als Norddeutscher Reichstag seit 1867 und als Deutscher Reichstag seit 1871. Wie demokratisch das damalige allgemeine, gleiche und direkte Männerwahlrecht und seine Handhabung wirklich waren, ist ein Thema für sich und soll hier nicht weiter beleuchtet werden.[1] Nur soviel: Bismarck konnte in seiner Zeit als Gesandter des preußischen Königs in Paris lernen, wie virtuos der französische Wahlkaiser Louis Bonaparte III. das allgemeine Wahlrecht nutzte, um sein Regime und die Macht der alten Eliten zu erhalten. Bismarck tat es ihm nach: Der deutsche Reichstag Baujahr 1871 wurde zum Instrument der deutschen Kaisermacht des preußischen Hofes. Vor allem diente er der politischen Verzwergung dessen notwendigen Bündnispartners, des wirtschaftlichen Riesens Bürgertum. Bismarcks Kalkül dabei: Wenn Volkes Stimme zählt, wird die traditionalistische und nationalistische Massenmobilisierung der Landbevölkerung durch Regierung und Adel dem bürgerlichen Liberalismus als der unsympathischen politischen Vertretung des egoistischen Unternehmertums stets den Rang ablaufen.

Die Arbeiterbewegung (deren universale historische Bedeutung der geniale Taktiker Bismarck eigenartigerweise nie begriffen hat) durchkreuzte dieses Kalkül. Nach der Vereinigung der lassalleanischen und marxistischen Gruppierungen auf dem Gothaer Parteitag 1875 erfuhr die dort aus der Taufe gehobene „Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands“ (SAPD) einen unaufhaltsamen Aufstieg. Die Versuche des mit Bismarck verbündeten nationalliberalen Besitzbürgertums, „kleine Leute“ als politisches Fußvolk an sich zu binden, mussten nun endgültig als gescheitert gelten: Die in den 1860er Jahren gegründeten Bildungs- und Konsumvereine, die „gelben“, also unternehmerfreundlichen Gewerkschaften, die nach dem Krieg 1870/71 herangezüchteten nationalistischen Kriegervereine hielten die wachsende Proletariermasse nicht mehr von der Partei und den Gewerkschaften der Sozialdemokratie fern.

 

Die Nationalliberalen verloren den Massenanhang, die Sozialdemokraten gewannen ihn. Wenn auch die Stimmen für die SAPD nur in einem beschränkten Umfang in Parlamentssitze mündeten – viele gingen bei der herrschenden Mehrheitswahl „verloren“, wenn Industriestädte geschickt mit ländlichen Regionen „verschnitten“ waren – so war doch der Trend deutlich und offenbar unumkehrbar.

Diese Entwicklung bedrohte Bismarck ebenso wie die Liberalen. Die Möglichkeit einer Addition der anwachsenden unabhängigen Volksstimme mit den traditionellen Bismarckgegnern (Partikularisten, Katholiken, Linksliberale) bei gleichzeitigem Abschmelzen der Nationalliberalen nagte an der Mehrheit des Regierungslagers. Für die mit Bismarck verbündeten Nationalliberalen ging es um das politische Überleben an sich. Zwar konnten sie im Schonraum des preußischen 3-Klassen-Wahlrechts ihre Vorherrschaft in den Städten und Landesparlamenten noch bewahren. Aber gegnerische Wahlbündnisse auf Wahlkreisebene könnten bei Reichstagswahlen schnell die gesamte Fraktion liquidieren.

 

 

Nun zu Harburg. Die Stadt war eine der Keimzellen der deutschen Arbeiterbewegung, mit dem Tischler Theodor York stellte sie einen ihrer damals bekanntesten und wirkungsmächtigsten Funktionäre. Die SAPD konnte im 17. Reichstagswahlkreis (Harburg Stadt und Land) ihren Stimmanteil auf lange Sicht ausweiten. Zwar waren Rückschläge dabei nicht zu vermeiden gewesen, die 1871er Wahl fand im Taumel des Sieges über Frankreich statt, und bei der 1874er Wahl wurden die Sozialisten durch Wahlfälschung vermutlich um rund 1000 Stimmen betrogen.[2]

 

(2) Theodor York 1830 - 1875: ADAV-Gründer 1863, SDAP-Gründer 1869, SAPD-Gründer 1875, Theoretiker und Praktiker der ersten deutschen Gewerkschaften

 

Der dennoch realisierte Vormarsch der Sozialisten hatte bis 1877 den Vorsprung des bürgerlichen Kandidaten, des nationalliberalen Harburger Oberbürgermeisters August Grumbrecht, deutlich geschmälert, wenn auch noch nicht bedroht. Dieser war ein erfahrener liberaler Parlamentarier und strategischer Interessenvertreter des Besitzbürgertums. Er war Mitglied der Frankfurter Nationalversammlung 1848/49, der Hannoverschen Ständeversammlung 1850 – 1852 und 1864 - 1879, des Hannoverschen Provinziallandtags 1867 – 1882, des Preußischen Landtags 1867 – 1882 und des Norddeutschen/ Deutschen Reichstags 1967 – 1878.[3]

Grumbrecht sah sich nach der Reichstagswahl 1877 veranlasst, selbstbewusst und selbstzufrieden festzustellen: „Die Tage der Welfenpartei sind jedenfalls gezählt. Wir wünschten sehr, das wir dasselbe auch von der social-demokratischen behaupten könnten.“

Im Laufe des Jahres 1878 aber wendete sich das Blatt. Bismarck, seit längerem entschlossen, die Sozialdemokratie durch schärfste Repression schlichtweg auszulöschen, nutzte die beiden Attentate auf den deutschen Kaiser und preußischen König Friedrich Wilhelm I (durch Hödel im Mai und Nobiling im Juni). Er ließ kurzerhand den 1877 gewählten Reichstag auflösen und sorgte für die programmatische Durchsetzung eines „Sozialistengesetzes“ im vermuteten künftigen Regierungslager. Dem sprangen wieder die Nationalliberalen bei, zumal sie eine Schwächung ihrer Position infolge der Neuwahlen befürchteten; sie neigten nun auch zu einem Verbotsgesetz. Eindeutig dagegen erklärten sich die Kandidaten der oppositionellen hannoverschen Welfenpartei, die aufgrund ihrer Preußenfeindschaft und ihrer Anhänglichkeit an das (1866 durch Eroberungskrieg von Preußen entmachtete) hannoversche Königshaus gerade in den ländlichen Regionen des Harburger Wahlkreises viele Anhänger hatte. Tatsächlich lag der Welfenkandidat Graf Grote[4] im ersten Wahlgang am 30. Juli 1878 so dicht hinter Grumbrecht, dass dieser die absolute Mehrheit und damit das Mandat verfehlte. Als nun die SAPD ihre Anhänger dazu aufrief, in der Stichwahl am 17.8.1878 den Sozialistengesetz-Gegner der Welfenpartei zu wählen, wurde es für Grumbrecht richtig eng.

 

(3) Adolf von Grote 1830 - 1898

 

Der Wahltag

Unter dem verharmlosenden Titel „Die Ruhestörungen in Harburg“ berichtete die preußische Provinzial Correspondenz, ein Sprachrohr Bismarcks, vom Wahltag:

„Die am 17. d. Mts. in Harburg vollzogene Stichwahl zwischen dem Kandidaten der nationalliberalen Partei Ober-Bürgermeister Grumbrecht und dem Kandidaten der partikularistischen Partei Grafen Grote hat bedauerliche Ausschreitungen im Gefolge gehabt. Wie der »Reichs- und Staats-Anzeiger« meldet, sammelte sich am Abend des Wahltages, nachdem bekannt geworden war, daß der Kandidat der partikularistischen Partei, mit welcher sich hierbei die sozialdemokratischen Elemente vereinigt hatten, eine erhebliche Majorität erzielt habe, eine Volksmenge vor dem Lokal, in welchem das Blatt der partikularistischen Partei verlegt wird,[5] unter Hochrufen auf den Prinzen Ernst August, sowie auf den erwählten Abgeordneten und das Blatt der Partei.

Die anwachsende Menschenmenge zog dann nach dem Sande – einem freien Platze im Mittelpunkte der Stadt – wo vor der Wohnung des Gegenkandidaten [Grumbrecht, Sand 2], sowie vor dem auf demselben Platze belegenen Hause des Herausgebers der nationalliberalen »Harburger Anzeigen und Nachrichten« [Lühmann, Sand 25] tumultuarische Auftritte stattfanden. Die Fenster des letztgenannten Hauses wurden durch Steinwürfe zertrümmert und gegen die Polizeibeamten, welche Ruhe zu stiften suchten, Steine geschleudert. Die Versuche einer gütlichen Einwirkung auf die Menge von Seiten des Chefs der Polizeibehörde blieben ohne Erfolg.

(4) Der Sand um 1902. Das Rathaus mit der Wohnung des Oberbürgermeisters im 1. Stock stand links unten außerhalb des Bildes etwa auf der Höhe des Betrachters. Die Redaktion der Hamburger Anzeigen und Nachrichten befand sich schräg gegenüber, links oben halb verdeckt durch den ersten Baum rechts

 

Dieser requirirte daher das von der zum Manöver ausgerückten Garnison zurückgelassene nur 10 Mann starke Militärkommando und ließ die Feuerwehr alarmiren, welche gegen 11 Uhr Abends versammelt war und am oberen Theile des Sandes neben den Polizei- und Militärmannschaften Aufstellung nahm. Der Versuch, die Volksmenge durch die Wasserstrahlen einer Feuerspritze auseinander zu treiben, blieb ohne Wirkung. Nachdem die tumultuirende Menge wiederholt vergeblich zum Auseinandergehen aufgefordert worden war, rückten Feuerwehr, Polizeimannschaft und Militär mit blanker Waffe und gefälltem Gewehr gegen die Menge vor, welche zurückgedrängt wurde, bis aus einer vom Platze sich abzweigenden Querstraße, an deren Eingange neben einem Neubau ein großer Haufe von Mauersteinen lag, Militär und Feuerwehr mit Steinwürfen empfangen wurden. Auf diese Weise angegriffen, gab das Militär zunächst hoch, dann scharf Feuer. Es gelang darauf, den Platz vollständig zu säubern und die in angrenzenden Straßen gemachten Versuche zu neuen Ansammlungen zu verhindern. Noch vor Tagesanbruch war die Ruhe wieder hergestellt und ist seitdem nicht wieder gestört worden.

Um 8 Uhr früh rückte das in Harburg garnisonirende Bataillon, welches zur Herbstübung nach der Umgegend von Buxtehude ausmarschirt und dort in der Nacht alarmirt worden war, in die Stadt ein. Einige Mitglieder der Feuerwehr, einige Polizeibeamte und ein Gensdarm sind durch Steinwürfe kontusionirt. Von den Tumultuanten ist ein Arbeiter getödtet, zwei andere sind in Folge der erhaltenen Verletzungen am folgenden Tage gestorben, während 19 mehr oder weniger schwer Verwundete sich in ärztlicher Behandlung befinden. Es haben zahlreiche Verhaftungen stattgefunden und die strafgerichtliche Untersuchung ist im Gange.“[6]

 

Interessenkonflikte im Regierungslager

Die Harburger Nationalliberalen hatten sich mit dieser brutalen Reaktion auf eine mehr oder weniger harmlose Volksdemonstration selbst ein politisches Armutszeugnis ausgestellt. Ihre Möglichkeiten, das Ereignis im Nachhinein noch weiter zu dramatisieren und zu skandalisieren, waren angesichts der Faktenlage und der tragischen Menschenopfer sehr gering. Daher strebten sie danach, das Ganze möglichst schnell dem Vergessen zu überantworten.

Bismarck sah dies anders. Der „Harburger Aufruhr“, wozu der Vorgang in seiner Darstellung wurde, gab ihm die Gelegenheit, die staatspolitische Gefährlichkeit der hannoverschen Partikularisten (hinter denen England stehe) und der umstürzlerischen Sozialisten auf einen Schlag und am gleichen Beispiel zu belegen. Daher auch die reichsweite Erwähnung dieser lokalen Vorgänge in einer seiner Hauspostillen. Möglicherweise hatte das Thema für ihn auch eine militärische Dimension, da er es zur Desavouierung der zahlreichen in der sächsischen Landesarmee dienenden ehemals hannoverschen Offiziere nutzen konnte.[7]

 

Das politische Ergebnis

Der Welfe Graf Grote gewann die Wahl mit 51,5 %. Er behielt seinen Sitz nur für eine Legislaturperiode, als (lutherischer) Hospitant in der Fraktion des katholischen Zentrums – ob zum Nutzen der Sozialdemokratie, sei dahingestellt. Grumbrecht verlor seinen Sitz im Reichstag, und zwar endgültig – er starb 1883. Bismarck konnte im neugewählten Reichstag schon im Oktober 1878 das Sozialistengesetz mit 221 gegen 149 Stimmen durchbringen.[8]

Die Harburger SAPD wurde in der Folge als Parteiorganisation zerschlagen bzw. gezwungen, sich illegal neu zu formieren. Ihr Leiter blieb zunächst der 1849 geborene Maschinenbauer, später Zigarrenarbeiter und Gastwirt David Steffens (Lange Straße Nr. 9), der in dieser Funktion seit Theodor Yorks Tod 1875 amtierte. 1880 war Steffens unter den Delegierten des konspirativen SAPD-Parteitags im schweizerischen Wyden. Unter steter Polizeiüberwachung stehend,[9] sah er sich bald zur Auswanderung gezwungen. Am 2. Februar 1881 bestieg er mit Ehefrau Caroline und den beiden Kindern August und Anna das Hapag Lloyd Schiff „Frisia“ in Richtung New York, wo die Familie am 24. Februar ankam. Über ihr weiteres Schicksal ist nur wenig bekannt. 1887 wurde das dritte Kind Augusta geboren. Steffens lebte inder Stadt Milwaukee/ Wisconsin, seit 1848 eine Hochburg demokratischer und sozialistischer deutscher Emigranten. Hier starb er bereits 1892. Nach Milwaukee war er entweder zielstrebig gleich von New York aus gekommen, oder er war zunächst nach Chicago gezogen und hat sich dann dort seinem Parteigenossen Paul Grottkau angeschlossen (Steffens und Grottkau kannten sich als Delegierte der SAPD-Parteitage Gotha 1876 und Gotha 1877), als dieser wegen Differenzen mit den in Chicago dominierenden Anarchisten nach Milwaukee überwechselte. Grottkau starb am 3. Juni 1898 in Milwaukee und wurde wie Steffens auf dem Forest Home Cemetary beerdigt.[10]

Die Leitung der örtlichen Partei in Harburg übernahm – vermutlich unmittelbar nach der Abreise Steffens - der Schuhmacher Heinrich Baerer. Er wurde auch Delegierter auf dem nächsten konspirativen Parteitag 1883 in Kopenhagen. Als bekannte Harburger Persönlichkeit wurde er bereits Anfang Januar 1885 aus der Stadt verbannt und lebte bis zum Fall des Sozialistengesetzes mit seiner Familie in Hannover.[11] Der Nachfolger Grumbrechts im Amt des Harburger Oberbürgermeisters, Wilhelm Schorcht, war während seiner 30-jährigen Tätigkeit als Syndikus des Harburger Magistrats als  ein Anhänger der Welfenpartei in Erscheinung getreten. Da er aber nach dem Tod Grumbrechts 1883 von den mehrheitlich nationalliberalen Harburger Honoratioren in das Oberbürgermeisteramt gerufen worden war, mußte er lavieren.[12] Schorcht unterstützte die Familie Baerer finanziell, bis der Vater eine wirtschaftliche Basis gefunden hatte.[13] Er soll Baerer bei der Abreise gesagt haben,: „Ich kann nichts dafür. Wenn ich etwas zu sagen hätte, wären Sie nicht ausgewiesen, da ich nur Gutes von Ihnen weiß.“ Gemeinsam mit Baerer war auch der Harburger Korbmachergeselle Friedrich Wilhelm Schellenberg verbannt worden.[14] Schellenberg wurde am 19.9.1856 in Bitterfeld geboren. Er zog mit Ehefrau und Kind von Wilstorf nach Buchau bei Magdeburg.[15]

 

(5) Heinrich Baerer 1842 - 1913: der Bebel Harburgs

 

Die Führung der Harburger Sozialisten ging im Anschluss an diese Ausweisungen an den Harburger Klempner und Gastwirt Friedrich Louis August Renz (geboren 1855) über, der die Ortsgruppe dann auf dem nächsten Parteitag 1888 in St. Gallen vertrat.[16]

In diesen Jahren war die Struktur der Partei grundlegend verändert und auf die Besonderheiten des Sozialistengesetzes ausgerichtet worden. Da dies die Parteiarbeit generell unter Strafe stellte, die Kandidatur sozialistischer Persönlichkeiten aber nicht automatisch untersagte, gab sich die Partei die Form unabhängiger, miteinander nicht verbundener Wahlkomitees. Eine Spitzelmeldung aus Harburg an die Politische Polizei in Hamburg berichtete 1885, an der Spitze des Harburger Komitees stehe nun der Former Friedrich Seitz, die Kassierung versehe der Korbmacher Johannes Hinze. Weitere Mitglieder des Führungskreises seien der Schneider Heinrich Dubber, der Arbeiter Johann Zobel, der Korbmacher Daustein sowie ein nicht näher benannter Peters. Die Anleitung erfolge von Hamburg aus durch den „Bezirksführer“ im Wahlkreis Hamburg Petersen. 

Diese Angaben des Spitzels sind nur im Fall Dubber belegbar.[17] Aber sie sind glaubwürdig. Eine Anleitung der Harburger Wahlagitationen von Hamburg aus, also aus einem anderen Wahlkreis, erscheint insofern plausibel, weil Harburg die einzige sozialistische Hochburg im ländlichen 17. hannoverschen Wahlkreis war und nur Hamburg eine noch größere politische Autorität hatte. Von den genannten Personen sind Dubber (1850-1930)  und Hinze (1855-1911) nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes im Jahr 1890 als führende Parteimitglieder in Erscheinung getreten: Dubber, der während des Sozialistengesetzes örtlicher Verteiler der illegalen, aus der Schweiz nach Deutschland geschmuggelten Zeitung "Sozialdemokrat" war, als Vorsitzender des wiedergegründeten SPD-Ortsvereins und gemeinsam mit Hinze als Gründer und Geschäftsträger der örtlichen SPD-Zeitung "Volksblatt".

(6) Johannes Hinze vor seiner Werkstatt, mit Familie (um 1910)

 

Ein Nachspiel

Grumbrecht und seine Parteifreunde erwiesen sich auch lange nach ihrer politischen Niederlage als sehr schlechte Verlierer. Sie legten unter Verweis auf mehrere angeblich vorgefallene Wahlmanipulationen von Amtsträgern zu Gunsten Grotes einen Protest gegen das Wahlergebnis ein, der die Wahlprüfungskommission des Reichstags bis 1880 beschäftigte. Aus diesem Vorgang geht allerdings hervor, dass auch den Nationalliberalen selbst Manipulationen vorgeworfen wurden. So habe die gerichtliche Feststellung der Ereignisse am Wahlabend ergeben, dass die Unruhen keineswegs von den örtlichen Vertretern der Welfenpartei, sondern von Fabrik- und Eisenbahnarbeitern ausgelöst worden waren, die unter Aufsicht ihrer Vorgesetzten für Grumbrecht stimmen sollten.[18] Der Wahltag war ein Sonnabend und selbstverständlich nicht arbeitsfrei.

 

Anmerkungen

[1] Gotthardt, Christian: Demokratie nach Gutsherrenart, in: Praxis Geschichte 5/95, S. 17 - 22.

[2] Gotthardt, Christian: Pyrrhussiege und glänzende Niederlagen. Die Kämpfe zwischen Liberalen und Sozialisten in den ersten Reichstagswahlen 1867 bis 1878 in Harburg, in: Ellermeyer/ Richter/ Stegmann: Harburg. Von der Burg zur Industriestadt, Harburg 1988, S. 206 - 218.

[3] Vgl. http://zhsf.gesis.org/biorabkr_db/biorabkr_db.php, 26.5.2016.

[4] https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_von_Grote_(Politiker,_1830), 18.6.2016.

[5] Der „Courier an der Unterelbe“ des Buchdruckers Heinrich Wendt in der Mühlenstraße 27, heute Schlossmühlendamm.

[6] Provinzial-Correspondenz v. 28. August 1878. Die Zahl der Toten erhöhte sich auf vier, als einer der verhafteten Arbeiter sich in der Zelle erhängte; Truels, Max: Geschriebene Harburgensien, Harburg 1986, S. 89.

[7] Maatz, Helmut: Bismarck und Hannover, Hildesheim 1970.

[8] http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k4_bsb00018398_00000.html, 16.6.2016

[9] Staatsarchiv Hamburg (StAH) S 200 David Steffens.

[10] StAH 331-3 Nr. 5200; Der Deutsche Correspondent, Baltimore, v. 19.2.1881; Grabstätte Steffens. Grottkau war, wie vor ihm York und Steffens, als Lassalle-kritischer Gewerkschafter vom ADAV zur SAPD gekommen. Beim Erlass des Sozialistengesetzes 1878 hat er sich einer drohenden Verhaftung durch Flucht nach Amerika entzogen. Er arbeitete dort für die deutsche „Chicagoer Arbeiter-Zeitung“, bis er 1883/ 84 mit den Anarchisten brach und nach Milwaukee zog, um hier ab 1886 die "Milwaukee´r Arbeiter Zeitung" herauszugeben.

[11] Groschek, Iris: „Dem Kämpfer für des Volkes Rechte.“ Heinrich Baerer und die Harburger SPD, Harburg 2013.

[12] Truels 1986, S. 89.

[13] Groschek 2013.

[14] Thümmler, Heinzpeter: Sozialistengesetz § 28, Berlin 1979, S. 66.

[15] Staatsarchiv Stade Rep. 74 Harsefeld Nr. 1789.

[16] Henze, Wilfried: Die Delegierten der Parteikongresse der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands unter dem Sozialistengesetz, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 8/1980, S. 765 ff.

[17] Der Spitzelbericht findet sich in StAH 331-3 Nr. 5149/ 294. Zur Biographie von Heinrich Dubber vgl. Volksblatt v. 3.5.1930.

[18] http://www.reichstagsprotokolle.de/Blatt3_k4_bsb00018408_00568.html, 16.6.2016.

 

Bildnachweis

(1) Hof-Photograf Hermann Günther, Berlin; Helms-Museum

(2) Gedenkkarte, um 1875; Internationales Institut für Sozialgeschichte, Amsterdam

(3) Photographie von Leopold Haase & Comp., Berlin, um 1878; Privates Photoalbum Ludwig Freiherr von Aretin (1845-1882); Artikel Adolf Graf v. Grote, https://de.wikipedia.org/wiki/Adolf_von_Grote_(Politiker,_1830), 16.6.2016

(4) Zeitgenössische Ansichtskarte "Harburg Sand", 1902; Helms- Museum

(5) Gedenkkarte, um 1900; 100 Jahre SPD Harburg

(6) Das Photo stellte mir freundlicherweise die Urenkelin Hinzes, Frau Silvia Wolter-Welge, zur Verfügung.

 

Ergänzung (Januar 2022): neu aufgefundene Quellen zu den "Harburger Unruhen"

Seit ein paar Monaten besteht im Rahmen des Online-Angebots deutsche-digitale-bibliothek.de die Präsentation "Deutsches Zeitungsportal". Sie enthält vollständige Digitalisate verschiedener Zeitungen zwischen dem 18. Jahrhundert und 1945, darunter z.B. den sozialdemokratischen "Vorwärts".

Mit Hilfe dieses Portals konnte ich den obigen Artikel durch Darstellungen der Ereignisse in Harburg ergänzen, die einer Preußen- und Bismarck-kritischen Sicht entsprangen.

 

"Vorwärts"

Der reichsweit erscheinende sozialdemokratische „Vorwärts“ mit Redaktionssitz in Leipzig hatte von den Vorgängen in Harburg zunächst nur Kenntnis aus den bürgerlichen Blättern. Am 23.8.1878 informierte er seine Leser kurz, man erwarte bald von den „dortigen Parteigenossen“ näheren Bericht. Am 25.8. druckte der Vorwärts dann eine Darstellung des Harburger Parteivorsitzenden David Steffens ab, die dieser am Folgetag der Ereignisse abgefasst und dem „Hamburg-Altonaer Volksblatt“ als der regionalen Parteizeitung übermittelt hatte:

„Unser Genosse Steffens aus Harburg schreibt an die Redaktion des „Hamburg-Altonaer Volksblatts“ folgenden Bericht:

„Harburg, 18. August. Unsere Stadt gleicht heute einem Heerlager. Anläßlich der gestern stattgehabten Stichwahl zwischen Grumbrecht und den Grafen Grote hatte sich gestern abend auf dem Sande eine Anzahl Neugieriger zusammengefunden, man hörte „Hochs“ auf Grote und wäre die Sache vielleicht ruhig verlaufen. Mit einem Male – es war vielleicht 10 ½ Uhr – wurde Feuerlärm geblasen, und es strömte alles nach dem Sande hin. Der Menschenknäuel wurde noch dichter. Dem liberalen Redakteur Lüdemann [richtig: Lühmann, s.o.] wurden die Fenster eingeworfen. Jetzt erschien Militär, zwar nur ein Wachtkommando, denn das hiesige Bataillon ist vor einigen Tagen ausgerückt zum Manöver. Es wurde in der Folge „scharf“ geschossen; ein Mann aus der Menge wurde sofort getödtet.

Zahlreiche Verwundungen sind vorgekommen. Auf sofortige telegraphische Nachricht ist heute nun das hiesige Bataillon wieder eingerückt und hat dasselbe auf dem Sande Aufstellung genommen. Patrouillen durchstreifen jetzt die Straßen, Warnungsplakate sind angeschlagen, den Inhabern von Wirtschaftslokalen ist Ordre ertheilt, heute Abend um 10 Uhr zu schließen. Zahlreiche Verhaftungen haben stattgefunden und dauern heute noch fort. Von den Verwundeten sind bereits einige heute gestorben. Unsere Genossen sind hieran nicht betheiligt. Steffens.“

Der „Vorwärts“ ergänzte Steffens Bericht noch durch frische Informationen. So sei unter den zahlreich Verhafteten nur ein einziger Parteigenosse gewesen, und dies irrtümlich, weshalb er sofort wieder freigelassen worden wäre. Dagegen seien die örtlichen Leiter des Welfischen Wahlkomitees Bremann und Tischler Moritz zusammen mit 15-20 Anhängern der Welfen noch in Haft. Der Schießbefehl an die Soldaten soll außerdem nicht von deren aktiven Führern ausgegeben worden sein, sondern von Reserve-Offizieren aus dem Kreis der nationalliberalen Honoratioren.

Zum Anlass des Unmuts auf dem Sand erklärt der „Vorwärts“ den Ärger einiger größerer Arbeitergruppen über ihre Vorgesetzten, die sie zur Wahl Grumbrechts nötigen wollten.[1]

 

"Düsseldorfer Volksblatt"

Dies bestätigen und präzisieren andere Zeitungen in jenen Tagen: Das Düsseldorfer Volksblatt (katholisch, vermutlich welfenfreundlich) erwähnte, dass Arbeiter der Eisenbahnwerkstätten große und auffällige Stimmzettel für Grumbrecht ausgehändigt bekamen, abteilungsweise zum Wahllokal geführt wurden und bei der Stimmabgabe von ihren Vorgesetzten (Bahnmeister Tabor) beobachtet wurden. Dafür bekam dieser schon am Vormittag eine Tracht Prügel.

Die Zeitung erwähnte auch den Inhaber einer Harburger Glashütte Eduard Röhl (Bahnhofstr. 14), der mit seinen Arbeitern ähnlich vorging. Im Unterschied zu Tabor würzte er sein Ansinnen mit der Ausgabe von Getränken. Auch er bekam eine Abreibung. „Darauf folgten Zusammenrottungen junger Leute und so entwickelte sich nach und nach der Tumult.“ Der Arbeiter Wilhelm Jarchow war nach einem Brustschuss sofort tot. Der Schneidermeister Georg Domeyer starb an seiner Schussverletzung nach wenigen Stunden. Der Former Heinrich Weseloh erhielt einen Schuss ins Knie, ihm musste das Bein amputiert werden. Den Arbeiter Voß trafen vier Kugeln, zwei davon verletzten ihn schwer. Der Gärtner Heinrich Remmers erlitt einen Säbelhieb auf den Kopf, der ihn blutüberströmt zusammenbrechen ließ.[2]

 

[1] Vorwärts v. 25.8.1878, 28.8.1878. Der Kaufman A. Bremann war Tuchhändler und Herrenausstatter in Wilstorf, W. Moritz betrieb eine Dampftischlerei in der Neuen Straße, der Redakteur G. Lühmann war Druckereibesitzer sowie Inhaber und Herausgeber der „Harburger Anzeigen und Nachrichten“ und wohnte Sand 24.

[2] Düsseldorfer Volksblatt v. 20.8.1878.

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