Stumme Zeugen

Wegweiser zu den Stätten von Widerstand und Verfolgung in Harburg und Wilhelmsburg 1933–1945

Text: Hans-Joachim Meyer und Christian Gotthardt
Veröffentlicht im
November 1993












(1)

Die Broschüre von 1993 ist vergriffen. Sie steht hier unverändert in digitaler Form zur Verfügung und als pdf-Datei zum Download (12,8 MB).

(Wo es mittlerweile neuere Forschungsergebnisse auf dieser Website gibt, führt ein Link zum entsprechenden Artikel.)

 

Grabe, wo du stehst …

Vor einigen Monaten ackerte ein Bekannter, stolzer Neubesitzer eines schon älteren Harburger Einfamilienhauses, in seinem Gemüsebeet – etwas tiefer als gewöhnlich.

Plötzlich förderte der Spaten ein eigenartiges Objekt zutage; nach einigem Säubern, Drehen und Wenden mußte der Finder erkennen, daß es sich um eine kleine Hitler-Büste handelte. Billige Massenware der 40er Jahre, die ein Dunkelmann vergangener Zeiten hier verbuddelt hatte, um sie nicht der allzu öffentlichen Mülltonne preiszugeben.

Nachforschungen ergaben, daß der frühere Hauseigner ein großmäuliger „Märzhase“ war, der nach der Machtergreifung der Nazis seine Nachbarn, zumeist Sozialdemokraten, durch Aufziehen einer übergroßen Hakenkreuzfahne zu provozieren pflegte.

Eine alltägliche Entdeckung? Sie macht jedenfalls deutlich, daß zwischen der Gegenwart und dem vermeintlich Vergangenen und Vergessenen oft nur Zentimeter historischen Fortschritts liegen, und daß manches Alte noch in unseren Alltag hineinragt.

Diese Broschüre will anregen, solch historisches Sperrgut näher zu begutachten. Vor allem um den bisher wenig beachteten „kleinen“ Widerstand gegen die Nazis soll es dabei gehen, und um die zu schnell vergessene Barbarei dieser Zeit. Den jüngeren und den neuen Harburgern soll sie ihren Wohnort begreiflicher machen, den älteren bei der Erinnerung helfen.

Der Lücken unserer Darstellung sind wir uns bewußt. Gibt sie Anstoß, die Kenntnisse zu vervollständigen, hat sie ihren Zweck erfüllt.

Unser Rundgang durch die Zeit 1933–1945 führt uns durch Hamburgs südlichsten Bezirk Harburg, der auch die Ortsamtsgebiete Wilhelmsburg und Süderelbe umschließt. Vor dem Groß-Hamburg-Gesetz, das 1937 in Kraft trat, gehörte von diesem Gebiet nur Moorburg zu Hamburg. Der Rest mit der Großstadt Harburg-Wilhelmsburg lag in Preußen.

Hauptquellen für dieses Buch waren Berichte und Dokumente, die auch für das Buch „die anderen“ über die Zeit der Nazidiktatur in Harburg und Wilhelmsburg gesammelt und ausgewertet wurden. Vielfach mußten noch die genauen Örtlichkeiten und Adressen ermittelt werden. Außerdem wurden spätere Forschungsarbeiten zu Einzelthemen berücksichtigt: zur Lage der Harburger Juden und Sinti, zum Schicksal der Familie Leipelt, zum KZ-Außenlager Neugraben und zum „Arbeitserziehungslager“ Wilhelmsburg. Allen Menschen und Institutionen, die uns unterstützt haben, gilt unser herzlicher Dank.


Hamburg-Harburg, im November 1993

Hans-Joachim Meyer, Christian Gotthardt

A. HARBURG-INNENSTADT

 

stadtplan harburg innenstadt

(2) Stadtplanausschnitt ca. 1930

A.1 Rathaus,
Harburger Rathausplatz

Der Bau im Stile der flämischen Renaissance wurde am 15. Oktober 1892 eingeweiht. Er ersetzte das viel kleinere Rathaus in der Harburger Schloßstraße und das Stadthaus am Sand. Der Standort dieses neuen Gebäudes symbolisierte gleichzeitig die Verlagerung des Harburger Zentrums von der Schloß- und Hafengegend nach Süden. Obwohl Harburg seit 1866 zu Preußen gehörte, galt weiterhin die hannöversche Städteordnung. Dem Bürgermeister bzw. Oberbürgermeister und dem teils besoldeten, teils ehrenamtlichen Magistrat stand ein Parlament („Bürgervorsteherkollegium“)gegenüber. Wahlberechtigt waren nur die „Bürger“, also nur diejenigen, die das „Bürgerrecht“ besaßen. Dies war wiederum vom Einkommen und der gesellschaftlichen Stellung abhängig. So waren z..B. im Jahre 1912 nur·drei Prozent der Harburger Einwohner „Bürger“. Am 7. November 1918 bildete sich in Harburg ein Arbeiter- und Soldatenrat, vor dem Rathaus wehte die rote Fahne. Bei den Bürgervorsteherwahlen im März 1919 konnten erstmals Abgeordnete der Arbeiterbewegung ins Rathaus einziehen. Die SPD erhielt 29 der 48 Sitze, die USPD 5. Dennoch blieb der konservative Bürgermeister Denicke im Amt. Der letzte demokratische Oberbürgermeister war der Sozialdemokrat Dr. Walter Dudek. Am 11. März 1933 wurde er auf Betreiben des Nazi-Gauleiters Telschow abgesetzt und von SA- und SS-Leuten gewaltsam aus dem Rathaus entfernt. Vor dem Rathaus und an anderen Stellen der Stadt gab es darauf Menschenansammlungen, die Polizeiposten mußten verstärkt werden. Diese Aktion der Nazis war als Demonstration für die Kommunalwahl am nächsten Tag vorgesehen. Dennoch bekamen die Nazis keine absolute Mehrheit: Sie gewannen 18 Mandate, die SPD 16, die KPD 8, Zentrum 2 und „Bürgerliche Einheitsliste“ 5. Die Kommunisten konnten ihre Mandate nicht wahrnehmen, weil ihre Abgeordneten mit Verhaftung rechnen mußten. Daher gelang es den Nazis, mit Hilfe der Bürgerlichen scheinbar legal die Macht zu übernehmen.

A.2 Hannoversche Bank, Ecke Harburger Rathausstraße/ Bremer Straße

Erbaut wurde sie im Jahre 1911. Die Nazis hatten ihre politischen Vorläufer: Beim Kapp-Putsch im Jahre 1920 erhoben sich Reichswehrtruppen und Freikorps „mit Hakenkreuz am Stahlhelm“ gegen die demokratische Republik. „Mit Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band, die Brigade Ehrhardt – so werden wir genannt.“ Dieses Lied wurde damals bei der „Brigade Ehrhardt'' und anderen konterrevolutionären Freikorps-Truppen gesungen. Am 13. und 14. März 1920 fanden in der Hannoverschen Bank Verhandlungen mit Major Hueg, dem Kommandeur des in Harburg stationierten Pionierbataillons 9, statt. Hueg wollte sich nicht eindeutig für die Republik und gegen die Putschisten erklären. Darauf wurden er und sein Stellvertreter Curtze von einem Trupp Einwohnerwehr unter der Führung des Sozialdemokraten Carl Gehrmann verhaftet. Es war ein Überraschungsangriff: Die bewaffneten Arbeiter schlugen die Scheiben ein und nahmen die beiden Militärs fest. Heute ist in diesem Gebäude eine Filiale der Deutschen Bank untergebracht.

A.3 Volksblattgebäude, Großer Schippsee 8

Hier wurde seit 1912 das sozialdemokratische „Volksblatt für Harburg-Wilhelmsburg und Umgegend“ herausgegeben und gedruckt (erstmals erschien die Tageszeitung 1894). Es war ein hohes, dreistöckiges Gebäude. Neben der Druckerei (sie war im Besitz der Firma H. Baerer & Co.) waren hier die SPD, die Freien Gewerkschaften, eine Arbeiterbibliothek, eine Buchhandlung und die Gaststätte „Neue Welt“ untergebracht. Das Haus war ein Zentrum der Harburger Arbeiterbewegung.

Nach dem Reichstagsbrand wurde das „Volksblatt“ am 28. Februar 1933 „für die Dauer von 14 Tagen“, faktisch jedoch für immer, verboten. Die Räume wurden mehrmals von Polizei und SA durchsucht. Am 24. April wurden bei einer ähnlichen Aktion ein Passant verhaftet und die Hakenkreuzfahne gehißt. Am 2. Mai besetzten die Nazis das Haus – wie alle Gewerkschaftshäuser in Deutschland –, beschlagnahmten es und übergaben es der faschistischen „Deutschen Arbeitsfront“ in Harburg.

Im Krieg wurde der Bau durch Bomben schwer in Mitleidenschaft gezogen. 1946 tagte hier vorübergehend die SPD hinter mit Pappe vernagelten Fenstern. Heute existiert das Haus nicht mehr. Es stand etwa gegenüber der Ecke Harburger Ring / Großer Schippsee.


(3) Das Volksblattgebäude

A.4 Lokal „Stadt Hannover“, Großer Schippsee 9

Inhaber dieses Arbeiterlokals war während der Weimarer Republik Georg Reus, der zuerst der SPD und seit 1932 der KPD angehörte. Am 7. Februar 1933 wurde vor dem Eingang der Gaststätte der Metallarbeiter und Kommunist Martin Leuschel von SA-Leuten erschossen.

Der Sozialdemokrat Karl Karcz wurde schwer verletzt und starb zwei Monate später an den Folgen des Attentats. Der Täter wurde zwar gefaßt und verhaftet, jedoch bald von SA-Leuten aus dem Gefängnis herausgeholt.

Der Mord an Martin Leuschel war Anlaß zur letzten großen Demonstration der Arbeiterbewegung in Harburg, während die Nazis ihre Macht allmählich festigten. 20.000 Leute bewegten sich am 10. Februar in einem Trauerzug von der Gaststätte Wolkenhauer auf der Eichenhöhe in Eißendorf zu den Elbbrücken. Tausende säumten die Straßen. Aufgerufen hatten SPD und KPD, in allen größeren Betrieben ruhte die Arbeit.

Später wurde das Lokal wiederholt von den Nazis durchsucht. So Ende Februar 1933, wo die Gäste zusammengeschlagen und Bücher, Transparente und andere Materialien eingesammelt wurden. Das Lokal blieb dennoch ein Treffpunkt der Arbeiter, wo Informationen und illegale Schriften ausgetauscht wurden. So kursierte hier auch das „Braunbuch“ über die Hintergründe des Reichstagsbrands und über den Naziterror in Deutschland. 1936 wurden Georg Reus und einige andere Antifaschisten deswegen zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt.

Nach dem Krieg wurde die Gaststätte weiter betrieben, zuletzt von Hermann Reus (dem Sohn von Georg Reus), der nach 1945 zeitweise Vorsitzender der Harburger KPD war. Im Zuge der Innenstadtsanierung wurde das Lokal abgerissen. Es stand etwa dort, wo der Harburger Ring den Großen Schippsee kreuzt.

A.5 Großer Schippsee 34

Im heute verschwundenen Haus Nr. 34 befand sich die Buchdruckerei I. Daltrop. Deren Inhaber Ignatz Reis wandte sich in einem Flugblatt gegen den Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933. Er stellte sich als Teilnehmer des Ersten Weltkriegs vor und schrieb: „Ich überlasse es Ihrer Beurteilung, ob es angebracht oder gerecht ist, mein Geschäft zu boykottieren, nur weil ich Jude bin.“ Nach wenigen Jahren wurde die Buchdruckerei von Sost und Co. übernommen.

A.6 Lüneburger Straße / Wilstorfer Straße

Hier im Zentrum Harburgs gab es zahlreiche Geschäfte, die Jüdinnen und Juden gehörten. Dazu zählten: Sally Laser, Textilgeschäft Schloßmühlendamm (alte Adresse: Sand 1). Goldmann und Schönfeld, Ecke Deichhausweg/Lüneburger Straße. Gebr.Apteker/Heinrich Rotter, Zigarrengeschäft (alte Adresse Lüneburger Straße 32). M. M. Friedmann, Textilgeschäft, 120 Beschäftigte, Lüneburger Straße gegenüber dem Deichhausweg (alte Adresse: Lüneburger Straße 20/21 ). Kaufhaus Horwitz, Ecke Bremer Straße/Lüneburger Straße – wo heute „Uhren-Weiß“ steht – dieses Geschäft machte 1928/1929 Konkurs. Max Stein, Lüneburger Straße schräg gegenüber „Uhren-Weiß“ – in diesen Laden fuhr manchmal die Straßenbahn aus Richtung Bremer Straße hinein (Alte Adresse: Wilstorfer Straße 5). Joseph Meier, Lüneburger Straße, wo der Schuhladen Schüttfort steht. Iwan Hahn, gegenüber Woolworth, Textilien (alte Adresse: Wilstorfer Straße 12). Bernhard Meier & Co.: Großes dreistöckiges Textilkaufhaus Ecke Wilstorfer Straße/Moorstraße, Maidanek & Mandel , Schuhgeschäft, gegenüber der Phoenix, heute: Wilstorfer Straße 76.

Vor den meisten dieser Geschäfte zogen am 1. April 1933 SA-Leute in Uniform auf mit der Forderung „Kauft nicht bei Juden!“ Zuvor, am 30.März, wurde im Heimfelder Lokal Gambrinus auf einer Nazi-Veranstaltung zum Boykott dieser Läden und Kaufhäuser gehetzt, wobei sich besonders ein Kaufmann namens Lölsack hervortat.

In der Pogromnacht zwischen dem 9. und 10. November 1938 und vor allem in der folgenden Nacht wurden in mehreren Geschäften die Scheiben eingeworfen, es kam zu Plünderungen. Die Feuerwehr meldete einen Einsatz „in mehreren Straßen“ am 11. November gegen 2 Uhr früh wegen umherliegender Glasscherben.

Schon vor Beginn der Deportationen wechselten einige Geschäfte ihren Besitzer, weil die Inhaber verstarben, enteignet wurden oder nach Palästina oder in andere Länder auswanderten.

Nach 1945 kehrte Sally Laser wieder nach Harburg zurück und betrieb sein Textilgeschäft weiter.

A.7 Lüneburger Straße, Ecke Lüneburger Tor

In dem Haus, das früher an der Ecke Lüneburger Straße/ Schüttstraße stand (alte Adresse: Lüneburger Straße 27), besaß Adolf Rieckhoff, der Pazifist und führende Liberale Harburgs, eine Drogerie. Er war vor 1933 Mitglied der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP). Sein Sohn Adolf Rieckhoff jr. vertrat die gleiche politische Richtung wie sein Vater und gehörte dem Reichsbanner an. Er wurde von den Nazis mißhandelt (s. A.9) und zu Schrubbaktionen gezwungen. Nach dem Krieg gehörte er als FDP-Politiker zu den „Frauen und Männern der ersten Stunde“ in Harburg.

Nach beiden Politikern sind eine Straße (Rieckhoffstraße) und das Kommunikationszentrum „Rieckhof ' benannt. Die Drogerie fand in dem Haus Lüneburger Straße 1 4 ein neues Domizil. Sie existiert heute nicht mehr.

Drogerie Rieckhoff
(4) Drogerie Rieckhoff

A.8 Deichhausweg 2

ln diesem Gebäude hatten Johanna und Felix Plewa ihre Wohnung (damalige Adresse: Deichstraße 11). Sie versteckten und vertrieben illegale Materialien der KPD. Felix Plewa war ab 1935 mehrere Jahre Politischer Leiter der illegalen KPD-Unterbezirksorganisation Harburg-Wilhelmsburg. 1941 wurde die Wohnung nach der Verhaftung Felix Plewas von der Gestapo durchsucht. Ein Koffer mit politischen Schriften konnte gerade noch rechtzeitig versteckt werden. Felix Plewa wurde am 9. März 1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet.

A.9 Deichhausweg 5

Hier hatte der Harburger Kommunist Karl Kröger seine Wohnung (alte Adresse: Deichstraße 2) und seinen Friseurladen. Von den Nazis wurde er 1933 wiederholt bedroht und schikaniert. So sollte er dem Harburger Liberalen und Pazifisten Adolf Rieckhoff jr. ein Hakenkreuz ins Haar schneiden. Trotz massiver Einschüchterungen weigerte er sich standhaft, dies zu tun. Er kam darauf ins Konzentrationslager Börgermoor im Emsland. Später war er im Widerstand aktiv (bei der illegalen KPD unter Felix Plewa).

A.10 Ecke Eißendorfer Straße/ Knoopstraße

Hier stand früher die Synagoge der jüdischen Gemeinde Harburgs. Der Bau wurde 1862 genehmigt. Die alte Synagoge am Karnapp mußte wegen Einsturzgefahr geschlossen werden. 1889 und 1910 wurde das neue Gotteshaus umgebaut und vergrößert. 1933 gehörten der Harburger jüdischen Gemeinde 350 Personen an, 1937 waren es nur noch 150. Ein großer Teil war in zwischen emigriert. Gottesdienste fanden seit 1936 kaum noch statt.

Am 10. November 1938 – also einen Tag später als die Pogromnacht – wurde die Synagoge in den Abendstunden von einer „Volksmenge“ (in Wirklichkeit waren es meist SA-Männer in Zivil) gestürmt und verwüstet. Kultgegenstände und andere Einrichtungen wurden entwendet und auf dem Sand verbrannt.

„Durch beide Eingänge war ein Teil der Menge in das Gotteshaus hineingestürmt. Diese Leute begannen sofort ein barbarisches Verwüstungswerk. Möbelstücke, Gebetbücher und Kultgegenstände wurden aus den mit Steinen eingeworfenen und mit Stuhlbeinen eingeschlagenen Fenstern des oberen Stockwerks in den Vorhof gestürzt. Mit Äxten und Hämmern wurden das Kirchengestühl zerschlagen und sonstige Verwüstungen angerichtet. Es war ein unübersehbares Durcheinander entstanden. Plötzlich erscholl aus dem Getümmel der Ruf ,Benzin herʻ. Nunmehr begann die Polizei, den Tempel zu räumen... Die aus dem geplünderten Gebäude herausstürmenden Menschen nahmen an sich, was sie an Gebetbüchern, Talaren, Mützen und anderen Kultgegenständen erlangen konnten, und bildeten einen großen und mehrere kleinere Menschenströme, die sich in widerlichem Aufzug durch die Albersstraße und die Eißendorfer Straße in Richtung Stadtmitte fortbewegten ... Das Ziel der mit Kultgegenständen abziehenden Menschenmassen war der Harburger Marktplatz, der Sand. Hier wurde unter häßlichem Ulk und Mummenschanz der Tempelraub auf einen Haufen geworfen und verbrannt.“ Das Zitat stammt aus den Unterlagen des Drescher-Prozesses, zitiert in: Matthias Heyl: Das Schicksal der Juden in Harburg-Wilhelmsburg 1933–1942. Eine Arbeit für den „Schülerwettbewerb zur deutschen Geschichte“ der Kurt A. Körber-Stiftung mit dem Thema: Alltag im Nationalsozialismus.

In einer Kellerwohnung unter der Synagoge mußte die Jüdin Helene Maidanek, die dort zu Hause war, zusammen mit einer Bekannten die Verwüstungen miterleben.Sie hörte die Menge im Chor rufen: „Jude, komm heraus, gleich fliegt die Synagoge hoch!“ Die beiden Frauen konnten schließlich den Raum verlassen. Helene Maidanek kam – wie auch ihr Mann Karl (Inhaber des Schuhgeschäftes Maidanek und Mandel) und ihr Sohn Herbert – 1942 in Łódź um.

Der Bau wurde einige Tage später mit Brettern vernagelt und 1941 abgerissen.

50 Jahre nach der Zerstörung der Synagoge, am 10. November 1988, wurde hier vom Bezirksamt Harburg eine Gedenkstätte eingeweiht. Sie ist dem Portal der alten Synagoge nachgebildet worden. Der Text auf der Gedenktafel lautet: „Hier – an der Eißendorfer Straße 15 – stand die Synagoge der ehemaligen Synagogen-Gemeinde Harburg. Das Gotteshaus wurde 1863 eingeweiht. Zuvor hatte es Betsäle in Häusern am Schippsee und am Karnapp gegeben. Noch 1930 wurde die Synagoge erweitert. Seit 1936 konnte sie von Harburgern jüdischen Glaubens wegen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft in Deutschland nicht mehr für Gottesdienste genutzt werden. Am Abend des 10. November 1938 fiel die Synagoge dem Novemberpogrom im Deutschen Reich zum Opfer. Sie wurde von Nationalsozialisten und weiteren Harburger Bürgern erstürmt, im Innern verwüstet und beraubt. Das Grundstück mußte 1939 zwangsverkauft werden. 1941 wurde das Gebäude abgebrochen. Möge dieses an einem Teil unseres Volkes begangene Unrecht uns ständig Mahnung sein. Wenn Menschenrechte mit Füßen getreten werden, wird Widerstand zur Pflicht. Harburg, den 10. November 1988“.

A.11 Knoopstraße 34

Hier gab es 1932 ein Büro der KPD (alte Adresse: Knoopstraße 6), das hauptsächlich für Öffentlichkeitsarbeit genutzt wurde. 1933 mußte die Arbeit eingestellt werden.

A.12 Julius-Ludowieg-Straße 43

In dem früheren Eckhaus Karlstraße 10 (heute Kroosweg/ Julius-Ludowieg-Straße) gab es die Möbel- und Textilhandlung der Geschwister Stapelfeld. Am Abend des 10. November 1938 wurden das Schaufenster zertrümmert und Möbel auf die Straße geworfen.

A.12a Marienstraße 4 (Bauamt)

In diesem Verwaltungsgebäude war früher neben dem Stadtbauamt auch das Polizeirevier Nr. 1 untergebracht. Hier wurden nach dem 30. Januar 1933 zeitweise auch Antifaschisten inhaftiert. Der Raum, in dem sie festgehalten wurden, existiert heute noch, hinter Gittern und von Büschen zugewachsen.

A.13 Eißendorfer Straße 27: Logenhaus

Hier hatte die Johannis-Loge „Ernst August zum Goldenen Anker“ ihr Domizil. 1934 wurde das Haus von den Nazis beschlagnahmt und dem Guttemplerorden zugewiesen. Heute ist es wiederum Logenhaus.

A.14 Eißendorfer Straße 83

In der Wohnung von Gerhard Krause wurde 1933 ein Abzugsapparat beschlagnahmt, den die Gruppe „Einheit“ (ehemalige Mitglieder des „Roten Frontkämpferbundes“) benutzt hatte.

A.15 Denicke-Straße, Ecke Am Irrgarten

Dort stand früher das Allgemeine Krankenhaus Harburg; auch eine „Volksküche“ war hier untergebracht. Am 27. Juni 1933 mußten hier mehrere Kommunisten unter Aufsicht von SA und SS antifaschistische Losungen mit Bürsten und Schrubbern entfernen. Fotos von der Aktion wurden zur Abschreckung der Bevölkerung bei den „Harburger Anzeigen und Nachrichten“ am Sand ausgestellt.

Das Krankenhaus war auf Grund des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (vom 14. Juli 1933) für Zwangssterilisationen vorgesehen (für Männer und Frauen). Ob sie tatsächlich stattfanden, ist bisher nicht bekannt. Auf diesem Gelände steht heute das Hauptgebäude der Technischen Universität Harburg.

A.16 Harburger Ring, Nähe Rathaus und Sand

Hier steht ein Mahnmal gegen den Faschismus: eine Bleisäule mit Platz für 60.000 Unterscbriften. Sie wurde am 10. Oktober 1986 eingeweiht. Die Säule soll von Zeit zu Zeit in die Erde versenkt werden.Ein kleiner Teil der Fläche mit den Unterschriften wird dann nur noch durch ein Fenster von der Unterführung Ratbausplatz- Sand aus zu sehen sein. Diese Konzeption hat in der Harburger Bevölkerung zu heftigen Diskussionen geführt. Die Inschrift vor dem Mahnmal lautet „Wir laden die Bürger von Harburg und die Besucher der Stadt ein, ihren Namen hier unseren eigenen anzufügen. Es soll uns verpflichten, wachsam zu sein und zu bleiben. Je mehr Unterschriften der zwölf Meter hohe Stab aus Blei trägt, um so mehr von ihm wird in den Boden eingelassen. Solange, bis er nach unbestimmter Zeit restlos versenkt und die Stelle des Harburger Mahnmals gegen den Faschismus leer sein wird. Denn nichts kann auf die Dauer an unserer Stelle sich gegen das Unrecht erheben.“ Dieser Text ist auch auf französisch, türkisch, arabisch, englisch, russisch und hebräisch übersetzt.

A.17 Sand

Am 10. November 1938 wurden hier jüdische Kultgegenstände aus der Synagoge verbrannt (s. A.10).

A.18 Sand

In einem heute verschwundenen Teil des Sand stand das Haus Nr. 38. Hier wohnte der Vorsteher der Synagogengemeinde Harburg-Wilhelmsburg, der Kaufmann Ludwig Fließ. Im Oktober 1935 wandte er sich schriftlich gegen die Wohnungskündigung von elf jüdischen Familien durch die Stadtverwaltung.

Ludwig Fließ wanderte später nach Argentinien aus.

A.19 Am Centrumshaus 5

1935 teilte die Stadt der Besitzerin des Ladens Bergstraße 5, Martha Mosbach, mit, daß die Wohnungskündigung trotz Beschwerde nicht zurückgenommen werden könne, da die Frau mit einem „Nichtarier“ verheiratet sei und sich deshalb„außerhalb der deutschen Volksgemeinschaft'' gestellt habe. Martha Mosbach emigrierte 1938 nach Palästina.

A.20 Buxtehuder Straße 9 – Amtsgericht Harburg

Hier stehen das Gerichtsgebäude und das ehemalige Gerichtsgefängnis. Dieses Gefängnis wurde 1933 und später Zwangsaufenthalt für viele Harburger und Wilhelmsburger Antifaschisten, von wo sie, wenn sie verurteilt waren, in andere Gefangnisse oder Zuchthäuser abtransportiert wurden. Es war wegen der schlechten Behandlung der Häftlinge berüchtigt. Im Juli 1933 wurde hier der sogenannte „Wilhelmsburger Aufruhrprozeß“ gegen mehrere Wilhelmsburger Antifaschisten wegen der Schießerei mit Stahlhelmern (s. J.7) geführt. Richard Trampenau wurde, obwohl er nicht geschossen hatte, zum Tode verurteilt. Der Staatsanwalt hatte diese Strafe gefordert, um dem „roten Wilhelmsburg“ ein Exempel zu statuieren. Trampenau gelang es gerade noch rechtzeitig, das Todesurteil in eine lebenslange Zuchthausstrafe umzuwandeln.

A.21 Martin-Leuschel-Ring

Diese neue Straße (früher hieß ein Teilstück der Straße Helmsweg) entstand beim Bau der Seehafenbrücke über die Buxtehuder Straße im Jahre 1985 und wurde nach dem von den Nazis ermordeten Metallarbeiter Martin Leuschel benannt (siehe auch A.4).

A.22 Harburger Hafen, Schloßbezirk

Die Werft Gebr. Sachsenberg forderte im Oktober 1942 eine Baracke mit 200 „Ostarbeitern“ an, „voraussichtlich Kriegsgefangene“.

A.23 Dampfschiffsweg

Gelände der Baufirma August Prien. Die führende Baufirma Harburgs setzte während des Krieges in großem Umfang Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter ein. Im November 1943 waren hier rund 150 internierte Italiener untergebracht.

A.24 Goldschmidtstraße, früher: Lange Straße 25

Dieses Haus beherbergte – mit dem Parteilokal Schneider – den Sitz der Harburger KPD. Am 10. Dezember 1932 wurde das Büro auf Anweisung des Polizeipräsidenten von Harburg, Danehl, durchsucht, weil das „Kommunistische Manifest“ dort offen auslag. Dem Harburger Politischen Leiter der KPD, Emil Matthews, wurde einige Tage später wegen des „Manifests“ Anklage wegen „versuchten Hochverrats“ angedroht. Nach dem Reichstagsbrand wurde das Haus am 28. Februar 1933 erneut von der Polizei besetzt. Eine politische Tätigkeit war seitdem hier nicht mehr möglich. Heute existiert das Gebäude nicht mehr.

A.25 Goldschmidtstraße: Herberge zur Heimat, früher: Lange Straße 15a

Sie wurde von der Inneren Mission betrieben. Hier übernachteten wandernde Handwerker,aber auch Obdachlose. 1934 sollte das Haus zur Bekämpfung der Homosexualität unter die Lupe genommen werden. Die Aktion stand im Zusammenhang mit der verschärften Verfolgung der Homosexualität in ganz Deutschland und wurde bei einer Besprechung in Hamburg mit Polizei, Jugendamt und Hitler-Jugend geplant. Ob dort tatsächlich eine Razzia durchgeführt wurde und welches Ergebnis sie hatte, wissen wir bisher nicht. Das Gebäude steht heute nicht mehr.

A.26 Amalienstraße (früher Friedrichstraße)

In einem heute verschwundenen Abschnitt der Amalienstraße wohnte Erich Kromberg in Nr. 2a. In seiner Wohnung wurde 1933 eine Schreibmaschine beschlagnahmt. Die KPD-Unterbezirksleitung unter Berthold Bormann brauchte sie für die illegale Arbeit.

A.27 Lauterbachstraße

Am 6. September 1933 gab es in der ganzen Straße Hausdurchsuchungen. Von SA und Polizei wurden Bilder, Literatur und Fahnen der Arbeiterbewegung geraubt.

A.28 Seevestraße: Harburger Eisen-·und Bronzewerke (heute: Krupp)

Wie in vielen Großbetrieben wurden hier während des Krieges Zwangsarbeiter beschäftigt. Im August 1942 entstand eine Baracke für 100 „Zivilarbeiter“, meist aus den besetzten Gebieten.

Hier gab es während des Faschismus (ab 1935 oder 1936) einen Stützpunkt der illegalen KPD, zuerst eingebunden in die Widerstandsarbeit der KPD-Unterbezirksleitung Harburg-Wilhelmsburg unter Felix Plewa, später während des Krieges der Organisation Bästlein-Jacob-Abshagen. In den Harburger Eisen- und Bronzewerken (HEB) gehörten der Ingenieur Wilhelm Stein und der Maschinenschlosser Richard Gohert der Organisation an. Wilhelm Stein war mit Bernhard Bästlein eng befreundet. Beide trafen sich wiederholt –auch in Harburg – und besprachen die politische Lage. Ein weiterer Freund Steins war der HEB-Arbeiter und Sozialdemokrat Karl Pollkehn (nach 1945 Betriebsratsvorsitzender in den HEB). Beide hatten während des Krieges den Werkluftschutz unter sich, konnten im Luftschutzbunker des Betriebes ausländische Sender hören und Flugblätter herstellen.

Im Oktober wurden Stein und Gohert – wie viele andere Mitglieder der Widerstandsorganisation – von der Gestapo verhaftet. Als das Stadthaus, die Hamburger Gestapo-Zentrale, im Juli 1943 von Bomben schwer zerstört wurde, wurde Wilhelm Stein für fünf Wochen auf „Hafturlaub“ geschickt. Um seine Familie nicht zu gefährden, tauchte er nicht unter, sondern nahm seine Arbeit in den HEB wieder auf. Wegen „Vorbereitung zum Hochverrat “ und „Feindbegünstigung“ wurde er zum Tode verurteilt und am 26. Juni 1944 in Hamburg hingerichtet. Richard Gohert erhielt sechs Jahre Zuchthaus und kam Ende 1944 in der Untersuchungshaft ums Leben. Nach dem Krieg rief der Betrieb dazu auf, an den Beisetzungsfeierlichkeiten für Wilhelm Stein und die anderen Widerstandskämpfer in Ohlsdorf am 14. September 1947 teilzunehmen.

A.29 Walter-Dudek·Brücke (in der Nähe des Bahnhofs Harburg)

Benannt wurde sie nach dem letzten demokratischen Oberbürgermeister von Harburg-Wilhelmsburg (1925–1933). Am 11. März 1933 wurde er von den Nazis abgesetzt und aus dem Rathaus vertrieben (siehe A.1). Von 1946 bis 1953 war Dudek Finanzsenator in Hamburg. Am 11. März 1988 wurde an der Brücke eine Gedenkplatte mit den Porträt Dudeks eingeweiht (an der Einmündung zur Hannoverschen Straße). Der Text lautet: „Dr. Walter Dudek, Oberbürgermeister von Harburg 1925–1933, Finanzsenator von Hamburg 1946–1953“.

A.30 Ehemaliges Polizeigefängnis Wetternstraße

1897 wurde dieses Gebäude fertiggestellt, abseits der Stadt hinter den Bahngleisen, sozusagen für die Außenseiter der Gesellschaft. Es war Armenhaus, „Arbeitsanstalt“, Obdachlosenasyl und ein Altersheim für Mittellose. Die Harburger Stadtverwaltung glaubte damals, es werde dort „an geeigneter Arbeit für die Insassen des Armenhauses nicht fehlen“. 1899 kam in einem Teil des Gebäudekomplexes ein Polizeigefängnis hinzu.


(5) Polizeigefängnis Wetternstraße 1935

Während der großen Wirtschaftskrise Ende der zwanziger Jahre kamen viele in dieses Obdachlosenasyl, die ihre Miete nicht bezahlen konnten und „exmittiert“, d.h. von den Hauswirten oder Gerichten aus ihren Wohnungen vertrieben wurden. Das Polizeigefängnis wurde 1933 Durchgangsstation für viele verhaftete Sozialdemokraten und Kommunisten. Die Behandlung war – verglichen mit den Folterkellern der Gestapo – noch erträglich. So waren z.B. recht problemlos Besuche von Verwandten und Freunden möglich. Die Gefangenen blieben allerdings nie lange hier. Sie wurden weitertransportiert – in die Emslandlager oder ins Konzentrationslager Fuhlsbüttel. 1935 wurde das Gefängnis aufgelöst. Als Ersatz gab es ein moderneres Gefängnis am Polizeigebäude in der heutigen Nöldekestraße. Heute sind in den Gebäuden an der Wetternstraße Asylsuchende untergebracht.

A.31 Wetternstraße

Am 6. September suchten die Nazis in der ganzen Straße nach Literatur, Fahnen und anderen Materialien der Arbeiterbewegung.

A.32 Hörstener Straße

Auf dem Gelände eines Gartenbauvereins wurde am 12. Juni 1934 eine rote Fahne mit dem Emblem der KPD gehißt und von der Polizei wieder heruntergeholt.

A.33 Hannoversche Straße 88: Phoenix AG

Während der Nazidiktatur gab es hier fast ununterbrochen Widerstand. Es existierte eine illegale kommunistische Betriebsgruppe, während des Krieges zuletzt als Teil der Organisation Bästlein-Jacob-Abshagen. Zu ihr gehörten die Phoenix-Arbeiter Karl Kock, Heinrich Cohrs, später Willi Milke und Herbert Bittcher. Während der Vertrauensratswahlen im Jahre 1935 wurden von 2347 Beschäftigten nur 950 Ja-Stimmen für die von den Nazis und Unternehmern befürwortete Liste abgegeben. 1938 berichtete die Hamburger Gestapo, daß – zum Teil in Taschenspiegeln getarnt – illegale Schriften aus Kopenhagen über Kuriere in die Phoenix gelangt sind.

Im Krieg mußten hier rund 500 „Ostarbeiter“ Zwangsarbeit leisten. Etwa die Hälfte von ihnen waren Frauen. Zusätzlich wurden Kriegsgefangene zur Arbeit herangezogen. Besonders Karl Kock unterstützte während des Krieges sowjetische Zwangsarbeiter auf der Phoenix; sie bekamen Lebensmittel, Rasierapparate und ein Radio. Im Oktober 1942 wurden Willi Milke und Herbert Bittcher verhaftet. Auf der Phoenix streute die Polizei das Gerücht aus, die beiden hätten das Werk in die Luft sprengen wollen. Auch Karl Kock sollte festgenommen werden; er konnte sich jedoch bis zum 6. März 1943 verborgen halten. Die Nazi-Justiz verurteilte alle drei zum Tode. Karl Kock wurde am 26. Juni 1944 in Hamburg hingerichtet, Willi Milke und Herbert Bittcher haben angeblich in Berlin-Tegel ihrem Leben ein Ende gemacht. Am Tor 4 der Phoenix in der Wilstorfer Straße hängt eine Tafel mit den Namen der Phoenix-Beschäftigten, die im Krieg umgekommen sind. Auch Herbert Bittcher, Karl Kock und Willi Milke stehen dort – ohne Hinweis darauf, daß es sich um Opfer der Nazi-Justiz handelt.

A.34 Phoenix-Viertel (zwischen Wilstorfer Str., Hohe Str., Maretstr., Krummholzberg)

Dieses Viertel entstand im vorigen Jahrhundert, nachdem am damaligen südlichen Rand der Stadt ein ganzer Gürtel von Fabriken emporwuchs (Phoenix, Jute, Christiansen & Meyer und andere). 1888 war der Bebauungsplan fertig, 1889 wurden die ersten Straßen gebaut. Das Viertel wurde stark von der Arbeiterbewegung bestimmt. Die Kreuzung Eddelbüttelstraße/Kalischer Straße/Bunatwiete hieß im Volksmund „Roter Platz“. Die Nazis überfielen dieses Viertel am 17. September 1933 mit einer spektakulären Hausdurchsuchungsaktion. Eine SA-Postenkette (etwa 3.000 SA-Leute waren daran beteiligt) sperrte alle Zugänge zum Viertel ab. Massenweise wurden Bücher und Fahnen beschlagnahmt, mehrere Einwohner wurden festgenommen. Die geraubte Literatur türmte sich – so die „Harburger Anzeigen und Nachrichten“ – zu „kleinen Bergen“ auf den Bürgersteigen. Mehrere Straßen des Viertels wurden von den Nazis umbenannt, so die Lassallestraße (in „Schlageterstraße“), die Friedrich-Engels-Straße in „Konsul-Renck-Straße“ (sie heißt heute noch so), die Marxstraße in „Reinholdstraße“ (obwohl sie gar nicht an Karl Marx, sondern an einen Harburger Kaufmann erinnern sollte).


(6) Demo auf dem „Roten Platz“ 1931

A.35 Schule Bunatwiete

Während der Weimarer Republik gab es „Freie Weltliche Schulen“, die nach den Vorstellungen sozialdemokratischer Bildungspolitikerinnen und -politiker eingerichtet wurden. Sie wurden von der konservativen Schulpolitik erbittert bekämpft. Im Oktober 1923 wurde eine solche Schule auch im Harburger Schulgebäude Bunatwiete/ Maretstraße gegründet. Statt Religion gab es hier „Lebenskunde“, außerdem Friedenserziehung und Werkunterricht. 1933 wurde die Schule schrittweise „gleichgeschaltet“, fortschrittliche Lehrerinnen und Lehrer wurden versetzt oder in den Ruhestand geschickt. Ab Ostern 1939 gab es in dieser Schule eine Sammelklasse für etwa 40–45 Sinti-Kinder. Die Klasse existierte bis zum Mai 1940, dann wurden die meisten Schülerinnen und Schüler nach Polen deportiert (siehe Nr. C.1).

(7) Die Freie Weltliche Schule

A.36 Maretstraße 68 (Eckhaus Hohe Straße/ Maretstraße)

Im Parterre, an der Seite zur Hohen Straße hin, wohnten Hansine und Heinrich Klafack. Sie stellten ihre Wohnung für die illegale Arbeit der KPD zur Verfügung. Ein einfacher Druckapparat wurde hier untergebracht, die Setzbuchstaben und die Druckmaschine hatte der Sozialdemokrat und Buchdrucker Otto Dennstedt besorgt. Mit diesem Apparat wurden 1934 illegale Zeitungen, Flugblätter und Streuzettel gedruckt.

A.37 Reinholdstraße 1

Am 10. November 1938 wurde der Laden des jüdischen Kaufmanns Sonnenberg zerstört.

A.37 a Eddelbüttelstraße 24

In diesem Haus wohnte der Phoenix-Arbeiter Willi Milke, der während des Krieges der Widerstandsorganisation Bästlein-Jacob-Abshagen angehörte (siehe A.33). Er wurde von Freislers „Volksgerichtshof' zum Tode verurteilt und soll im Januar 1944 im Zuchthaus Berlin-Tegel Selbstmord verübt haben.

A.38 Wilstorfer Straße 54

Im Haus, das an der Stelle des jetzigen Neubaus stand, befand sich die Praxis des Arztes Dr. Kurt Hirschfeld. Dieser Arzt war bei Arbeitern sehr beliebt. Sein Vater Emil Hirschfeld, der ebenfalls Arzt war, hatte den Harburger Arbeiter-Samariter-Bund gegründet und wurde 1919 sozialdemokratischer Bürgervorsteher. Dr. Kurt Hirschfeld wurde 1933 zu einem angeblichen Hausbesuch in die Bremer Straße gerufen und dort von SA-Leuten überfallen und mißhandelt. Er emigrierte später in die USA.
Die ehemaligen Praxisräume Dr. Hirschfelds in den 50er Jahren
(8) Die ehemaligen Praxisräume Dr. Hirschfelds in den 50er Jahren

A.38a Wilstorfer Straße 96

ln diesem Haus war ein Papiergeschäft untergebracht. Der Besitzer Bernhard Terpe belieferte den kommunistischen Widerstand mit Büromaterial. 1934 wurde das Geschäft von der Polizei geschlossen.

A.39 Bremer Straße 32

Ehemalige Praxis des Arztes Dr. Hellmuth Bartsch. Er war mit einer Jüdin, und zwar mit der Tochter des Arztes Dr. Emil Hirschfeld, verheiratet. Er beging 1935 Selbstmord, seine Frau emigrierte.

A.40 Steinikestraße 12 (früher Talstraße)

ln diesem Haus wohnte der Harburger Kommunist Adolf Wendt. Hier trafen sich im September 1940 mehrere Kommunisten, die aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen entlassen worden waren.

Neben Adolf („Addi “) Wendt waren es u.a. Bernhard Bästlein, Wilhelm Guddorf, Robert Abshagen und Heinrich Bretschneider. Man beschloß, vor allem in Hamburger Betrieben eine illegale Organisation aufzubauen. Aus diesen Kontakten entwickelte sich später die Organisation Bästlein-Jacob-Abshagen. Adolf Wendt wirkte dort im Agit-Prop-Apparat unter Franz Jacob und besuchte mehrmals Wilhelm Guddorf in Berlin, der Mitglied der Widerstandsgruppe Schulze-Boysen/Harnack war. Am 18. Oktober 1942 wurde Adolf Wendt verhaftet.

A.41 Hastedtstraße 18

Hier wohnte Alfred Gordon, Prediger der jüdischen Gemeinde Harburgs (siehe auch E 6). Er wurde während des Krieges nach Łódź deportiert und kam dort um.

A.42 Harmsstraße 16

Die Wittingstraße kreuzte früher die damalige Elisenstraße und führte fast bis zur Hohen Straße. Im früheren Eckhaus Elisenstraße 57 (etwa an der Stelle des Neubaus Harmsstraße Nr. 16) wurde im Keller hinter einem mit Brettern vernagelten Loch in der Wand ein Abzugsapparat versteckt. Hier wurden 1933 und 1934 illegale Ausgaben der „Norddeutschen Zeitung“ und andere Materialien der KPD gedruckt. Die Kellerräume hatte Hulda Mantey zur Verfügung gestellt, die in diesem Haus eine Wäscherei betrieb. Weil die Druckkapazität zu gering war, gab die Partei den Raum später wieder auf.

A.43 Bremer Straße 73

Hier stand früher die Turnhalle der „Arbeiterturnerschaft Harburg von 1893“. 1908 wurde sie eingeweiht. Die Baukosten waren durch Spenden und Geldsammlungen aufgebracht worden. Vorher mußte meist in Sälen von Gaststätten geturnt werden. Städtische Einrichtungen blieben dem Arbeitersport verwehrt.

1933 wurde der Arbeitersport aufgelöst oder gleichgeschaltet. Die Turnhalle wurde am 29. April beschlagnahmt. Heute existiert das Gebäude nicht mehr. Im Neubau mit der Nr. 73 gibt es jetzt eine Geschäftsstelle des Sportvereins, der sich jetzt „Freie Sportvereinigung Harburg von 1893 e.V. “nennt.

B. STADTEILE NEULAND, GUTMOOR

 

B.1 Elbdeich (heute Neuländer Elbdeich) 6

1942 forderte die Firma Vidal & Co (später Tempowerk, heute Daimler-Benz) eine Baracke und 200 „Zivilarbeiter“ aus den besetzten Gebieten an.

B.2 Gut Moor

Die Polizei suchte hier im Mai 1933 ein Versteck für illegale kommunistische Materialien. Außer einer Landkarte und einigen alten Zeitungen wurde aber nichts gefunden. In der Presse wurde die Aktion als „Schlag gegen den Kommunismus“ verkauft.

C. STADTTEIL WILSTORF

 

C.1 Polizeigebäude Nöldekestraße

Das große Polizeigebäude in der Nöldekestraße Nr. 17 ist seit 1931 Polizeiwache. Vorher gehörte das Haus der gegenüberliegenden Vereinigten Jute-Weberei und Spinnerei (heute ein Teil der Phoenix) und diente als Kindergarten und Wohnheim für ledige Arbeiter. Am 20. Februar 1933 wurde der sozialdemokratische Polizeipräsident von Harburg, Danehl, auf Betreiben des Nazi-Gauleiters Telschow durch den ehemaligen Korvettenkapitän Christiansen (NSDAP) abgelöst. Ab Mai 1933 war hier auch die Gestapo untergebracht. Ihr damaliger Leiter, Freiherr von Diepenbroick-Grüter, ebenfalls NSDAP- und SA-Mitglied, war gleichzeitig Christiansens Stellvertreter und oberster Gestapo-Chef des ganzen Regierungsbezirks Lüneburg. Über Verbrechen der Harburger Gestapo sind u ns bislang keine Unterlagen bekannt. Das liegt auch daran, daß die Harburger Antifaschisten nach ihrer Verhaftung nie lange in Harburg blieben, sondern nach Hamburg ins Konzentrationslager Fuhlsbüttel, in andere Konzentrationslager oder später ins Untersuchungsgefangnis am Holstenglacis gebracht wurden. Später bekam die Gestapo ein eigenes Gebäude (s. C.5).

1935 wurde der Bau erweitert, es entstand ein zusätzliches Gefangnis als Ersatz für das Polizeigefängnis in der Wetternstraße.

Während des Krieges beschlossen Polizei und SS, zur „Bekämpfung der Zigeunerplage“ die in Hamburg lebenden Sinti nach Polen zu deportieren. Am 16. Mai 1940 wurden vor sechs Hamburger Polizeirevieren, darunter vor dem Polizeigebäude Nöldekestraße, insgesamt 550 der rund 3000 in Hamburg lebenden Sinti zusammengetrieben. Sie kamen in ein Sammellager im Freihafen, wurden wie Vieh mit einer roten Nummer bemalt und am 20. Mai ins Vernichtungslager Belźec in Ostpolen abtransportiert. Nur wenige haben überlebt. Weitere Transporte gingen 1943 und 1944 nach Auschwitz.

Am heutigen Polizeigebäude in der Nöldekestraße wurde am 16. Mai 1986 auf Initiative der Rom- und Cinti-Union eine Gedenktafel angebracht: „Eure Leiden, Euer Schmerz sind die Narben im Fleisch der Welt (Lani Goldschabi Rosenberg). Zum Gedenken unserer toten Hamburger Cinti und Roma. Am 16. Mai 1940 wurden aus diesem Gebäude die im Einzugsgebiet Harburg lebenden Roma und Cinti verhaftet und in die nationalsozialistischen Konzentrationslager deportiert.“

C.2 Nöldekestraße

Hier steht die schon erwähnte (s.C.1) Jute-Fabrik. 1883 gegründet, wurde sie bald größter Textilbetrieb Harburgs. Am 10. Februar 1933, am Tag der Beisetzung des von der SA ermordeten Metallarbeiters Martin Leuschel, wurde hier – wie in vielen anderen Harburger Betrieben –gestreikt; die meisten Beschäftigten beteiligten sich am kilometerlangen Trauerzug. 1934 und 1935 gab es hier eine kommunistische Widerstandsgruppe, über deren Tätigkeit bisher nichts bekannt ist.

Während des Krieges gab es auf dem Fabrikgelände ein überwachtes Lager für Frauen aus den besetzten Gebieten, meist für Polinnen und später auch Sowjetbürgerinnen. Sie arbeiteten auf der Jute, teilweise auch als Putzhilfe in benachbarten Gebäuden wie dem Margaretenhort. Die Frauen aus der Sowjetunion wurden ab und zu – das war ihre einzige Freizeitbeschäftigung – unter Bewachung in die Stadt ins Kino geführt.

Heute gehört „die Jute“, wie die Fabrik im Volksmund hieß, zur Phoenix AG.

C.2a Juteplatz

Auf diesem Platz zwischen der alten „Jute“ und dem Phoenix-Gebäude standen während der Weimarer Republik Imbißbuden. Das Gelände war Aufenthaltsort für die Arbeiterinnen und Arbeiter während ihrer Pause. Nach 1933 begannen hier Einsätze der „Deutschen Arbeitsfront“, später diente es als Exerzierplatz für die Polizei. Ab 1938 wurden hier Jüdinnen und Juden zur Zwangsarbeit zusammengetrieben. Im „Grauen Haus“ gegenüber dem Phoenix-Eingang an der heutigen Hannoverschen Straße waren während des Krieges polnische Arbeiterinnen untergebracht, die auf der „Jute“arbeiten mußten. Gegen Kriegsende gab es auf dem Platz Baracken für durchreisende Soldaten, Flüchtlinge und später auch für befreite KZ-Häftlinge und Zwangsarbeiter.
Der Juteplatz nach dem Krieg
(9) Der Juteplatz nach dem Krieg

C.3 Winsener Straße 51

Früher war hier die Wilstorfer Zweigstelle der Stadtbücherei Harburg-Wilhelmsburg untergebracht (die Hauptstelle stand in Heimfeld, Petersweg 6, eine weitere Zweigstelle gab es in Wilhelmsburg). In einem Hinterzimmer dieser Stadtbücherei hatte die KPD-Unterbezirksleitung Harburg-Wilhelmsburg 1933 einen Abzugsapparat versteckt. Hier wurden Flugblätter und zeitweise auch die illegale „Norddeutsche Zeitung“ hergestellt. Der Raum ist von der Polizei nie entdeckt worden.

C.4 Winsener Straße 30

In diesem Haus wohnten im zweiten Stock zwei Harburger Kommunisten. Bei Willi Nilges fanden wiederholt illegale Zusammenkünfte statt. Nilges mußte in die Tschechoslowakei emigrieren, lebte dann illegal wieder in Deutschland und verbrachte mehrere Jahre in Zuchthäusern und Konzentrationslagern. Alfons Teschke war vor 1933 ein von vielen Kolleginnen und Kollegen sehr geschätzter Betriebsrat bei Karstadt in Harburg. 1937 kam er in Spanien beim Kampf gegen die Franco-Putschlsten ums Leben.

C.5 Außenmühlenweg

Ab 1938 hatte die Harburger Gestapo ein eigenes Gebäude am Außenmühlenweg, und zwar bekam sie die Dienstvilla des von den Nazis abgesetzten Harburger Oberbürgermeisters Dudek. Hier wurde eine umfangreiche Kartei eingerichtet mit Spitzelberichten und Vermerken über Denunziationen, Verhöre und Verhaftungen. Nach dem Groß-Hamburg-Gesetz wurde aus der selbständigen Gestapoleitstelle eine Außendienststelle der Hamburger Gestapo. Leiter waren die Kriminalsekretäre von Holt und Meyer; dem Polizeiinspektor Oehmke unterstand später das Arbeitserziehungslager in Wilhelmsburg.

Bei großangelegten Aktionen und Fahndungen griff die Hamburger Gestapo ein, um die Außendienststelle zu unterstützen. So erschien zum Beispiel der berüchtigte Hamburger Gestapomann Helms, der für das Referat „Kommunismus und Marxismus“ zuständig war, bei der Verfolgung von Mitgliedern der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe wiederholt selbst in Harburg. Kurz vor Kriegsende wurde das Gebäude bei einem Bombenangriff völlig zerstört. Einige Akten konnten von Antifaschisten gerettet werden, das meiste wurde vernichtet.

Nach 1945 wurde das Haus nicht wieder aufgebaut. Heute verläuft hier die Stadtautobahn.
Bürgermeister Dudeks Dienstvilla
(9a) Bürgermeister Dudeks Dienstvilla

C.6 Am Mühlenfeld 107

Hier wohnte der Phoenix-Arbeiter und Kommunist Karl Kock mit seiner Ehefrau Elfriede und seiner Tochter Renate. Während des Krieges gehörte Karl Kock zur Widerstandsorganisation Bästlein-Jacob-Abshagen. Er unterstützte die sowjetischen Zwangsarbeiter auf der Phoenix mit Lebensmitteln, Rasierapparaten und anderen Gebrauchsgegenständen, ließ ihnen sogar ein Radio zukommen. Später half er bei der Quartiersuche für den von der Gestapo gesuchten Antifaschisten Willi Fellendorf. Nach den Massenverhaftungen von Mitgliedern der Bästlein-Organisation im Oktober 1942 mußte Karl Kock flüchten und hielt sich bei Freunden in Harburg und Hamburg versteckt.

Die Wohnung Am Mühlenfeld 107 stand seitdem unter ständiger Beobachtung der Gestapo. Manchmal – so im März 1943 – mußte die Ehefrau Elfriede drei Tage hintereinander bei der Gestapo erscheinen. Ihre damals zwölfjährige Tochter überbrachte als Kurierin Nachrichten für ihre antifaschistischen Nachbarn. Karl Kock wurde im März 1943 aufgespürt (siehe auch C.7), verhaftet und am 26. Juni 1944 in Hamburg hingerichtet. In den letzten Monaten des Krieges wurde seine Wohnung bei einem Bombenangriff zerstört, dabei kamen seine Frau und Tochter ums Leben.

C.7 Kapellenweg 15

In diesem Haus wohnten die Kommunisten Emma und August Quest. Beide unterstützten den Widerstand der illegalen KPD. Das Haus war Anlaufstelle für Materialien, die von der KPD-Abschnittsleitung Nord in Kopenhagen nach Harburg transportiert wurden. Einer der Kuriere war der später von den Nazis hingerichtete Karl Nieter. Emma Quest wurde im Januar 1942 zu drei Jahren Zuchthaus verurteilt und kam kurz vor Kriegsende ins Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg. August Quest unterstützte trotz der Verhaftung seiner Frau später die Arbeit der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe. Als Karl Kock von der Gestapo gesucht wurde, stellte August Quest das Haus für ihn als Versteck zur Verfügung. Das blieb der Gestapo jedoch nicht verborgen. Am 6. März 1943 wurde das Haus von der Polizei gestürmt, August Quest und Karl Kock verhaftet, die Wohnung durchwühlt und das Inventar auf dem Hof verbrannt. August Quest kam ins Zuchthaus Celle, dann kurz vor Kriegsende nach Bützow-Dreibergen und starb kurz nach der Befreiung an den Folgen der Haft und des Transports.

C.8 Heinrich·Heine-Straße

Zwei Häuser in dieser Straße (während der Nazizeit hieß sie Dietrich-Eckart-Straße) waren ebenfalls Stützpunkte der Organisation Bästlein-Jacob-Abshagen. Im Haus Nr. 30 wohnten Margarete und Paul Dreibrodt, fast gegenüber im Haus Nr. 39 Margarete und Martin Glißmann. Der Zimmermann Paul Dreibrodt arbeitete mehrere Jahre lang in der illegalen KPD und der Bästlein-Organisation. Seine Frau Margarete hörte den Moskauer Rundfunk ab und benachrichtigte die Angehörigen, wenn etwas über das Schicksal deutscher Kriegsgefangener durchgegeben wurde. Als sich Karl Kock vor der Gestapo verbergen mußte, halfen beide Familien, ihn zu verstecken und mit Lebensmitteln und frischer Wäsche zu versorgen. Paul Dreibrodt suchte vergeblich nach Fluchtwegen für Karl Kock über die dänische Grenze. Die Häuser wurden ständig von der Gestapo und ihren Spitzeln beobachtet, schließlich galten die beiden Familien von vornherein als verdächtig. Nach der zweiten Verhaftungswelle im März 1943 mußte Margarete Dreibrodt allein drei Gefangene betreuen: ihren Mann Paul, ihre Schwägerin Margarete Glißmann und deren Mann Martin. Sie selbst wurde wiederholt von der Gestapo verhört; die Verhafteten gaben jedoch von Margarete Dreibrodts Tätigkeit nichts preis, und auch sie hielt stand. Paul Dreibrodt wurde 1944 zu Zuchthaus verurteilt, kam wie August Quest nach Celle und Bützow-Dreibergen und starb kurz nach der Befreiung durch die Alliierten vor Hunger und Entkräftung.

 

C.9 Walter-Flex-Straße

Die Nazis gaben 1933 dieser Straße den Namen nach dem nationalistischen und kriegsverherrlichenden Dichter Walter Flex. Vorher hieß sie Käthe-Kollwitz-Straße, benannt nach der Malerin, Graphikerin und Bildhauerin Kollwitz (1867–1945), die sich für die Linke engagiert und in ihren Werken vor allem das Leben der Arbeiterschaft dargestellt hatte.

C.9a Lönsstra8e 35

Hier wohnte der Sozialdemokrat Herbert Bittcher, der in den Jahren des Krieges die Widerstandsorganisation Bästlein-Jacob-Abshagen unterstützte (siehe A.33). Er wurde zum Tode verurteilt und soll im Januar 1944 im Zuchthaus Berlin Tegel Selbstmord verübt haben.

C.10 Kapellenweg 1 ehemaliger Wilstorfer Schützenplatz

Auf dem alten Wilstorfer Schützenplatz wurde nach dem Überfall auf die Sowjetunion ein bewachtes Lager für Kriegsgefangene und Deportierte errichtet. Hier waren vorwiegend Ukrainerinnen und Ukrainer eingesperrt. Sie mußten auf der Phoenix und in anderen Betrieben Zwangsarbeit leisten. Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung waren streng untersagt. Dennoch wurden sie in Betrieben wie der Phoenix, wo das Kontaktverbot naturgemäß lockerer gehandhabt werden mußte, von Antifaschisten versorgt (siehe auch A.33).

Nach dem 8. Mai 1945 wurden einige der schlimmsten Scharfmacher von den Zwangsarbeiterinnen und -arbeitern auf der Phoenix zur Verantwortung gezogen. So konnte sich ein Abteilungsleiter nur mit einem Sprung aus seinem Wohnungsfenster vor Racheakten retten.

Im Zuge der Repatriierung wurde das Lager nach und nach aufgelöst. Heute erinnert nichts mehr daran. Es befand sich etwa an der Kreuzung Kapellenweg/Lönsstraße in Richtung Heckengang.

C.10a Winsener Straße 98

An dieser Stelle – an der Seite des Sportplatzes – stand die Gaststätte „Wilstorfer Harmonie“ (früher „Sahlings Harmonie“). Gegen Ende 1933 wurde die Gaststätte von dem führenden Harburger Sozialdemokraten Rudolf Gottschalk übernommen. Gottschalk war als Leiter der städtischen Bauunterhaltung 1933 entlassen worden.

Das Haus hatte einen großen Saal für Tanzveranstaltungen. Beliebt waren auch die Sonntagnachmittage bei Kaffee und Kuchen. Unter den Gästen (zeitweise waren es bis zu 300) fanden sich viele frühere Mitglieder der SPD, der Gewerkschaften und des Reichsbanners. Die Gaststätte dtente als „legaler Treffpunkt“ zum Austausch von Informationen unter Sozialdemokraten. Mindestens einmal fand nach einer Denunziation eine Hausdurchsuchung statt.

1936 (oder 1937) wurde Rudolf Gottschalk wegen „politischer Unzuverlässigkeit“ die Konzession entzogen. Gottschalk wurde 1944 bei der „Gewitteraktion“ verhaftet. Nach 1945 war er der erste SPD-Distriktsvorsitzende in Harburg. Die Gaststätte steht heute nicht mehr.
Das Lokal des SPD-Bürgervorstehers Gottschalk
(10) Das Lokal des SPD-Bürgervorstehers Gottschalk

C.11 Anzengruberstraße

Hier wohnten viele Arbeiterinnen und Arbeiter der Jutefabrik. Weil ein großer Teil von ihnen aus der Donaumonarchie stammte (hauptsächlich aus Österreich und Böhmen), hieß das Viertel um diese Straße im Volksmund „Klein-Österreich“. Am 18. September 1933 wurde hier von der SA Wohnung für Wohnung durchsucht. Bücher, Zeitungen und Fahnen der Arbeiterbewegung wurden beschlagnahmt.

C.12 Wasmerstraße (in der Höhe des Sportplatzes)

Seit 1930 lebten hier – teilweise in Wohnwagen – mehrere Sinti-Familien. Während der Nazidiktatur wurden fast alle Sinti aus Harburg hier angesiedelt. 1938 wurden die ersten von ihnen als „Asoziale“ in die Konzentrationslager, u.a. nach Sachsenhausen, verschleppt. Am 16. Mai 1940, am Tage der Massenverhaftung der Hamburger Sinti und Roma (Siehe C.1), wurde das Lager umstellt, man versprach den Bewohnern, sie würden umgesiedelt und bekämen Häuser und Bauernhöfe. Einige Sinti, die die Vernichtungslager überlebt hatten, kamen nach dem Krieg auf diesen Platz zurück. Nach Protesten gegen diese erneute „Zigeunerplage“ wurde das Lager am 2. August 1945 von der britischen Militärverwaltung geräumt und nach Wilhelmsburg verlegt.

C.13 Bittcherweg

Die Straße ist nach dem Harburger Widerstandskämpfer Herbert Bittcher benannt worden. Er war vor 1933 Sozialdemokrat und unterstützte während des Krieges die Organisation Bästlein-Jacob-Abshagen bei dem Versuch, den von der Gestapo gesuchten Antifaschisten Willi Fellendorf (der ein Cousin von Bittcher war) in Sicherheit zu bringen. Bittcher wurde in Berlin am 12. Januar 1944 zum Tode verurteilt und danach entweder von den Nazis ermordet oder in den Tod getrieben.

C.14 Karl-Kock-Weg

Benannt nach dem von den Nazis am 26. Juni 1944 hingerichteten Harburger Widerstandskämpfer Karl Kock (s. C.6).

C.15 Oswald-Kanzler-Weg

Benannt nach dem Harburger Sozialdemokraten Oswald Kanzler. Vor 1933 war er hauptamtlicher Parteisekretär der SPD. Während der „Aktion Gewitter“ des Jahres 1944 wurde er verhaftet und kam im Zuchthaus Fuhlsbüttel um, weil ihm wichtige Medikamente verweigert wurden.

D. STADTTEIL RÖNNEBURG

 

D.1 Haus Vogteistraße 23

In dieser Villa wohnte seit Anfang der zwanziger Jahre vorübergehend die Familie Leipelt. Der Vater Konrad Leipelt wurde Betriebsleiter bei den Wilhelmsburger Zinnwerken. Besonders seine Ehefrau Katharina und sein Sohn Hans beteiligten sich am antifaschistischen Widerstand. Da Katharina Leipelt Jüdin war, wurden sie und ihre beiden Kinder auch aus diesem Grunde diskriminiert (siehe auch J.9).

1937 zog die Familie nach Wilhelmsburg. Heute ist in der Villa ein Kinderzentrum untergebracht. Am Haus befindet sich eine Gedenktafel: „Wohnhaus der Familie Leipelt bis 1937. Dr. Katharina Leipelt wurde als Jüdin vom NS-Regime verfolgt. Ihr Sohn Hans nahm als Student in München am Widerstand der ,Weißen Roseʻ teil. Nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl baute er eine Widerstandsgruppe in Hamburg auf. Ende 1943 verhaftete die Gestapo etwa dreißig Angehörige der Gruppe, darunter Hans Leipelt,seine Mutter und seine Schwester Maria. Die Mutter kam im Gestapogefängnis Fuhlsbüttel um, Hans wurde vom ,Volksgerichtshofʻ zum Tode verurteilt und im Januar 1945 hingerichtet.“

D.2 Radickestraße

In dieser Straße befand sich (vermutlich auf dem Grundstück einer ehemaligen Gastwirtschaft) ein Lager für Kriegsgefangene aus der Sowjetunion (meist Ukrainer). Sie mußten auf der Phoenix und in anderen Betrieben arbeiten.

E. STADTTEIL LANGENBEK

 

In einem ganzen Wohnviertel – dem Langenbeker Feld – wurden nach einem Beschluß des Hamburger Senats von 1988 die Straßen nach Opfern der Nazidiktatur benannt.

E.1 Hellmuth-Bartsch-Weg

Der Harburger Arzt Hellmuth Bartsch (seine Praxis hatte er in der Bremer Straße) war mit einer Jüdin verheiratet. 1935 nahm er sich das Leben (s. auch A 39).

E.2 Blättnerring

Die jüdische Kaufmannswitwe Georgine Blättner wurde – ebenso wie ihre Schwester Arondine – im Juli 1942 nach Theresienstadt deportiert. Sie kamen dort im Dezember 1942 bzw. im Oktober 1943 ums Leben.

E.3 Johannes-Bremer-Weg

Der sozialdemokratische Kontrolleur Johannes Bremer war bei den Nazis verhaßt, weil er sich im März 1920 aktiv an der Abwehr der Putsch-Truppen des Hauptmanns Berthold beteiligt hatte. 1933 wurde er verhaftet und am 1. Dezember 1937 im KZ Buchenwald ermordet.

E.4 Noackstieg

Aus den gleichen Gründen wurde der Maler und Sozialdemokrat Otto Noack verhaftet. Er kam am 25. Juni 1941 im KZ Flossenbürg um.

E.5 Einhausring

Der Arbeiter Georg Einhaus beteiligte sich im Juni 1933 an der Verbreitung illegaler Schriften der „Revolutionären Gewerkschaftsopposition“ (RGO). Er wurde vor Gericht gestellt und verurteilt. 1949 starb er an den Folgen der Haft.

E.6 Gordonstraße

Alfred Gordon war Prediger der jüdischen Gemeinde in Harburg. Als das Leben in der Nazizeit immer schwieriger wurde, half er anderen Gemeindemitgliedern, nach Palästina auszuwandern. Er war auch selbst kurzzeitig in Palästina, kehrte aber wieder nach Harburg zurück, weil er der Auffassung war, daß sein Platz bei der Gemeinde sei. Am 25. Oktober 1941 wurde er nach Łódź deportiert und ist dort verschollen.

E.7 Gromballring

Der Harburger Arbeiter Otto Gromball beteiligte sich am Widerstand gegen die Nazidiktatur, wurde verhaftet und verurteilt. Am 30. April 1944 kam er im Zuchthaus Rendsburg um.

E.8 Guttmannring

Das jüdische Kaufmannsehepaar Helene und Jacob Guttmann wurde im November 1941 nach Minsk verschleppt und ist dort verschollen.

E.9 Habigerstieg

Der Wilhelmsburger Arbeiter Kaspar Habiger wurde während des Krieges verhaftet, weil er Auslandssender gehört haben soll. Er kam ins Zuchthaus Fuhlsbüttel, wurde ins Krankenhaus Langenhorn verlegt und starb dort am 21. Februar 1945.

E.10 Horlebuschweg

Der Feinmechaniker Johann Horlebusch wurde wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ verhaftet und kam 1939 im Zuchthaus Fuhlsbüttel um.

E.11 Karczweg

Der Harburger Gußputzer Karl Karcz wurde beim Überfall von SA-Leuten auf die Gaststätte Stadt Hannover am 7. Februar 1933 (siehe A.4) so schwer verletzt, daß er einige Wochen später (am 10. April) starb.

E.12 Elisabeth-Lange-Weg

Die Hausfrau Elisabeth Lange wohnte in Harburg in der Hoppenstedtstraße. Sie gehörte zum Freundeskreis Katharina Leipelts und damit zur Widerstandsgruppe, die später „Weiße Rose Hamburg“ genannt wurde. Sie wurde verhaftet und kam ins Zuchthaus Fuhlsbüttel. Dort nahm sie sich am 28. Januar 1944 das Leben.

E.13 Leiserweg

Das jüdische Ehepaar Hedwig und Julius Leiser wurde im Dezember 1941 nach Riga deportiert und kam dort um.

E.14 Karl-Reese-Weg

Der Bibelforscher Karl Reese wurde wegen seiner Überzeugung ins KZ Sachsenhausen verschleppt und starb dort am 4. Januar 1940.

E.15 Schendelstieg

Der jüdische Kaufmann Bugen Schendel hatte sein Geschäft in der Straße Am Radeland. Er wurde am 15. Juni 1943 in Auschwitz ermordet.

E.16 Herbert·Thörl·Weg

Der Harburger Unternehmer Dr. Herbert Thörl (seinen Wohnsitz hatte er später in Hamburg) wurde wegen „staatsfeindlicher Äußerungen“ und Abhörens von „Feindsendern“ zusammen mit zwei Töchtern kurz vor Kriegsende im April 1945 verhaftet. Er starb am 4. Juni 1945 an den Folgen der Haft.

F. STADTTEIL SINSTORF

 

F.1 Sinstorfer Kirchweg

Auf dem Friedhof in der Nähe der Kirche stehen einige Grabsteine mit Namen von Sowjetbürgern und anderen Ausländern (vermutlich Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter, die bei Bombenangriffen ums Leben kamen).

F.2 Sinstorfer Kirchweg, Barackenlager

Ursprünglich war das Lager für (britische?) Kriegsgefangene vorgesehen. Seit 1940 hatte hier deutsche Flak Stellung bezogen. In den Baracken waren die Soldaten untergebracht, es gab sogar ein Offizierskasino. Als die Flakstellung 1945 beim Herannahen der britischen Truppen abzog und die Baracken militärisches Niemandsland wurden, „bediente“ sich die Sinstorfer Bevölkerung aus den zurückgelassenen Vorräten. Heute stehen nur noch einige wenige Baracken (hauptsächlich von Ausländerinnen und Ausländern bewohnt), der Rest mußte der Autobahn und der Raststätte weichen.

F.3 Landesgrenze

Gegen Kriegsende (August–Oktober 1944) sollte am sog. inneren Verteidigungsring Hamburgs ein Panzergraben ausgehoben werden. Die Aufsicht im Harburger Bereich hatten NSDAP-Kreisleiter Drescher sowie Angehörige des Militärs und der Verwaltung. Zum Ausschachten wurden neben Einheiten der Hitlerjugend auch Zwangsarbeiter und Häftlinge des Neugrabener KZ-Außenlagers eingesetzt. Spuren dieser Arbeiten sind heute noch im Höpen sichtbar. Militärisch war der Graben bedeutungslos.

G. STADTTEIL MARMSTORF

 

G.1 Stadtpark Harburg

Wiederholt fanden hier geheime Treffen illegaler KPD-Leitungen statt. Die Presse berichtete von einer „kommunistischen Versammlung“ im Mai 1933. Die Polizei fand zwei „Verdächtige“, einer wurde verhaftet.

H. STADTTEIL EISSENDORF

 

H.1 Kirchenhang 29

In dem Waldstück namens Eichenhöhe stand das Lokal Wolkenhauer. Auf dem Schützenplatz hinter dem Lokal fanden vor 1933 viele Kundgebungen der Arbeiterbewegung statt. So sprach dort z.B. der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann im Sommer 1932 zur Reichspräsidentenwahl vor mehreren tausend Zuhörern. Am 7. Februar 1933 wurde in Harburg der Metallarbeiter Martin Leuschel von SA-Leuten ermordet (mehr dazu unter A.4). Sein Leichnam wurde im Lokal Wolkenhauer aufgebahrt. Von hier nahm der Demonstrationszug am 10. Februar 1933 seinen Anfang. Nach dem Krieg stand hier das Lokal Eichenhöhe. Das Gebäude wurde Anfang 1993 abgerissen.

H.2 Hoppenstedtstraße 53

Im sogenannten Hoppenstedtblock wohnten viele (besonders sozialdemokratische) Funktionäre und Mandatsträger der Arbeiterbewegung, die 1933 aus ihren Ämtern entfernt oder auf andere Weise gemaßregelt wurden.

In Haus Nr. 53 war die Wohnung von Oswald Kanzler. Er war bis 1933 hauptamtlicher Sekretär der SPD in Harburg. Nach der „Gewitteraktion“ kam er im Gefängnis Fuhlsbüttel am 16. September 1944 ums Leben (siehe auch C.15).

H.3 Hoppenstedtstraße 78

Hier wohnte Elisabeth Lange. Sie gehörte zum Freundeskreis um Dr. Katharina Leipelt. Mit vielen anderen Angehörigen dieser Widerstandsgruppe wurde sie verhaftet. Sie soll angeblich am 28.Januar 1944 in ihrer Zelle in Fuhlsbüttel Selbstmord verübt haben (Siehe auch E.12).

H.3a Adolf v. Elm Hof 3

Hier existierte 1932 eine Geschäftsstelle der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP), Ortsgruppe Harburg-Wilhelmsburg. Nach dem Machtantritt der Nazis mußte die SAP – die sich 1931 als linke Opposition von der SPD abgespalten hatte – ihre legale Arbeit einstellen, auch in Harburg.
Der Adolf v. Elm Hof kurz nach der Fertigstellung
(11) Der Adolf v. Elm Hof kurz nach der Fertigstellung

 

H.4 Hirschfeldplatz

Der Platz ist benannt nach dem Harburger Arzt Emil Hirschfeld. Er war Sozialdemokrat und Harburger Bürgervorsteher. Von den Nazis wurde der Platz in „Horst-Wessel-Platz“ umbenannt. Die neuen Straßenschilder wurden von Antifaschisten heimlich mit „Martin-Leuschel-Platz“ überklebt – zur Erinnerung an die Ermordung Leuschels am 7. Februar 1933 (siehe auch A 38).

H.5 Bremer Straße

Im heute verschwundenen Haus Nr. 165 wohnte die Familie Kock. Der Vater Jakob (von seinen Freunden auch „Jonny“ oder „Jolly“ genannt) wurde als Kommunist von den Nazis verfolgt und mußte nach Skandinavien emigrieren. Er kämpfte später im Bürgerkrieg an der Seite der Spanischen Republik gegen Franco. Sein Sohn Karl Kock wurde arn 26. Juni 1944 in Hamburg hingerichtet. Auch seine anderen Söhne Hans und Arnold wurden während der Nazizeit inhaftiert. Kurz nach 1933 fanden in der Wohnung auch illegale Treffs der KPD statt. Das Haus wurde im Krieg von Bomben völlig zerstört.

H.6 Dahlengrund 4

Wohnung des Harburger Sozialdemokraten und Gewerkschafters Robert von der Heyde. Auf dem Grundstück wurde eine Traditionsfahne der Harburger Gewerkschaften von 1869, die im Gewerkschaftshaus (Volksblatt-Gebäude) am Großen Schippsee aufbewahrt wurde, vor den Nazis versteckt. Sie wurde in einem Benzinkanister verlötet und unter einem Stein vergraben.

H.7 Bremer Straße 241 Lokal „Blockhaus“ (Ecke Am großen Dahlen)

Der Harburger Widerstandskämpfer Wilhelm Stein (Organisation Bästlein-Jacob-Abshagen) traf sich hier während des Krieges mit Freunden und Gesinnungsgenossen zum Schachspiel. Solche Treffen wurden auch als „Nachrichtenbörse“ genutzt (siebe auch A. 28). Die Gestapo hat von diesen Kontakten nie erfahren.

H.8 Neuer Friedhof (zwischen Bremer Straße, Friedhofstraße und Beerentalweg)

Viele Zwangsarbeiter, die in Harburger Betrieben, bei der Beseitigung von Trümmern oder beim Bau von Behelfsheimen für die Ausgebombten schwer arbeiten mußten, fanden bei Bombenangriffen den Tod. Für 472 dieser Opfer wurde auf dem Neuen Friedhof ein Massengrab ausgehoben. Heute steht neben dem Grab ein Gedenkstein mit dem Text: „Hier ruhen 472 Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft 1943–1945 aus Belgien, Frankreich, Holland, Italien, Kroatien, Lettland, Polen, Rumänien, Rußland, Spanien, Tschechoslowakei.“ Die meisten kamen aus der Sowjetunion, Polen und Italien. Nicht weit davon befinden sich auf einer großen freien Fläche Gräber für etwa 1000 Harburger Opfer des Bombenkrieges. Insgesamt ruhen auf dem Neuen Friedhof 1768 Harburgerinnen und Harburger, die als Zivilisten in dem von den Nazis entfesselten Krieg umkamen. Mehr als ein Drittel aller Harburger Wohnungen wurde zerstört.
Gedenkstein auf dem Neuen Friedhof
(12) Gedenkstein auf dem Neuen Friedhof

H.9 Volkswohlweg

Auf diesem Gelände wurde im Jahre 1911 von den Harburger Gewerkschaften eine Sport- und Spielplatzanlage namens Volkswohl geschaffen. Dazu gehörte auch ein gleichnamiges Arbeiterlokal. Hier fanden Maikundgebungen und andere Demonstrationen der SPD und Gewerkschaften statt. Die letzte Maikundgebung vor der Nazidiktatur im Jahre 1932 stand unter der Losung: „Gegen Kapitalismus, für höhere Löhne und 40-Stunden-Woche! Gegen Kriegshetzer, für Völkerverständigung! Für Arbeitsbeschaffung und sozialistische Planwirtschaft!“

Am ll. Mai 1933 wurde das Lokal von den Nazis beschlagnahmt und später als „Deutscher Garten'' der „Deutschen Arbeitsfront“ übergeben. Nach 1945 begannen hier wiederum die Maidemonstrationen der Harburger Gewerkschaften.
Volkswohl
(13) Volkswohl

I STADTTEIL HEIMFELD

 

I.1 Schule Woellmerstraße

Diese Heimfelder Schule wurde während des Kapp-Putsches im März 1920 von Baltikum-Truppen besetzt. Es handelte sich um Reichswehr- und Freicorpseinheiten, die im Baltikum gegen die Sowjetmacht gekämpft hatten und nun bei Stade untergebracht worden waren. Jetzt wollten sie nach Hamburg marschieren, um den Kapp-Putsch zu unterstützen. Die Militärs wurden in der Schule von bewaffneten Arbeitern eingeschlossen und nach einem Schußwechsel zur Übergabe gezwungen. Der Anführer der Putschistentruppe, Fliegerhauptmann Rudolf Berthold, wurde von der aufgebrachten Volksmenge getötet. Zwölf Harburger Arbeiter, ein Schüler und ein Soldat der Pionierkaserne kamen bei der Verteidigung der Republik ums Leben. Die Nazis machten aus Berthold einen Märtyrer. Alljährlich fanden „Berthold-Feiern“ statt, die Schule wurde nach Berthold umbenannt. Vor der Schule wurde am 30. Mai 1933 ein großer Gedenkstein errichtet.

Dieser Stein wurde mehrmals nachts mit Parolen gegen die Nazis bemalt, so z.B. in der Nacht vom 2. auf den 3. September 1933. Harburger Antifaschisten, meist Kommunisten, mußten dann unter SA-Bewachung den Stein säubern, manchmal sogar mit Zahnbürsten. Zur Abschreckung wurde in der Presse über solche Schrubbaktionen groß berichtet. Nach der Befreiung Harburgs wurde der Stein von Antifaschisten umgestürzt und beseitigt.
Schule Woellmerstraße: Schauplatz des Kapp-Putsches
(14) Schule Woellmerstraße: Schauplatz des Kapp-Putsches

I.2 Gerlachstraße (früher: Tannenstraße), Nr. 5

In diesem Haus wohnte der Student Riko Graepel, der mit der Widerstandsgruppe um Hans Leipelt in Verbindung stand. In seiner Wohnung hatte er verbotene Bücher versteckt, die vom Freundeskreis um Hans Leipelt besorgt und gelesen wurden. Graepel kam kurz vor Kriegsende deswegen vor Gericht, wurde aber freigesprochen.

I.3 Eißendorfer Pferdeweg 65

Hier wohnte der Harburger Widerstandskämpfer Wilhelm Stein. Er arbeitete bei den „Harburger Eisen- und Bronze-Werken“(heute Krupp), war Mitglied der Organisation Bästlein-Jacob-Ashagen und wurde am 26. Juni 1944 hingerichtet (siehe auch A.28).

I.4 Haakestraße 17

Hier wohnte der Richter Dr. Richard Katzenstein mit Familie. Er war Senatspräsident des Oberlandesgerichts Celle. Am 13. Juli 1933 wurde er vom preußischen Justizministerium ans Amtsgericht Harburg strafversetzt, weil den Einwohnern von Celle ein jüdischer Richter nicht zu zumuten gewesen sei. Als er am 6. Oktober seinen Dienst in Harburg antreten wollte, wurde seine Wohnung von einer aggressiven Menschenmenge belagert. Von der Polizei bekam er die Auflage, seine Wohnung nicht mehr zu verlassen. 1934 wurde er in den Ruhestand versetzt. Im gleichen Jahr zog die Familie nach Berlin. 1936 emigrierte sie nach Palästina.

I.5 Wattenbergstraße/ Niemannstraße/ Winkelstraße/Baustraße

In diesem Arbeiterwohngebiet führten Polizei und SA am 7. September 1933 eine großangelegte Hausdurchsuchungsaktion durch. Sie dauerte vom frühen Morgen bis in den Vormittag. Bücher, Fahnen und anderes Material wurden beschlagnahmt.

I.6 Alter Postweg 30, Friedrich-Ebert-Halle, Gymnasium

Im Februar 1931 erregte ein Zeitungsbericht über antijüdische Vorkommnisse im Gymnasium Aufsehen. Ein jüdischer Schüler wurde von seinen Mitschülern symbolisch gekreuzigt.

Am 26. Juli 1932 fand vor der Eberthalle eine antifaschistische Massenkundgebung der sozialdemokratischen „Eisernen Front“ statt. Rudolf Breitscheid, Mitglied des SPD-Parteivorstands, warnte vor der drohenden Nazidiktatur: „Wir müssen bereit sein, auf jedem Kampfplatz unseren Gegnern entgegenzutreten. Das Parlament ist nur eine der Waffen, über die die Arbeiterschaft verfügt. Eine Arbeiterschaft, die die Räder der Maschinen in Gang setzen kann, die kann auch die Räder der Maschinen zum Stillstand bringen.“ (Volksblatt, 27.7.1932)

Nach 1933 wurde aus der Eberthalle die „Stadthalle“. Eine Büste Eberts wurde zu einer „Berthold-Gedächtnis-Tafel“ umgeschmolzen und in der Schule Woellmerstraße angebracht (siehe I.l). Schon im Mai 1933 wurden in der Halle Vorträge über Luftschutz, über die Einrichtung von Schutzräumen und die Wirkung von Brandbomben gehalten.

Im April 1943 wurden der Direktor, einige Lehrer und Schüler des Gymnasiums von der Gestapo verhört. Ein Schüler soll im privaten Kreis geäußert haben, Hitler könne den Krieg nicht gewinnen, und seine Schulkameraden dächten genau so.

Die Halle wurde ausgebombt und nach dem Krieg als „Friedrich-Ebert-Halle“ wiederaufgebaut.

I.7 Alter Postweg 46, Pauluskirche

Hier wirkte Pastor Robert Hesse. Er schloß sich der „Bekennenden Kirche“ an. Ab 1935 war er Obmann des Kirchenkreises Harburg der „Bekennenden Kirche“. Seine Gottesdienste wurden von der Gestapo bespitzelt und von der „Hitlerjugend“ mit lautem Trommelwirbel gestört. Krankenhausbesuche wurden ihm vorübergehend untersagt, wegen „staatsfeindlicher Beeinflussung der Jugend“ wurde gegen ihn ein Prozeß vorbereitet. Hesse wurde 1941 eingezogen und kam kurz vor Kriegsende ums Leben.

I.8 Schwarzenbergstraße/ Ecke Kasernenstraße: Pionierkaserne

Hier war in der Weimarer Republik das Pionier­ bataillon 9 stationiert. Im März 1920 wurden die Putsch-Truppen des Hauptmanns Berthold, die damals die Kaserneeinnehmen wollten, von Soldaten und Arbeitern gestoppt. Die Soldaten hatten an die Arbeiter Waffen ausgegeben.

Später war hier Polizei einquartiert. Am 24. Februar 1933 zog SA als „Hilfspolizei“ in diese Kaserne ein. Vorübergehend diente sie damals auch als Gefängnis für Antifaschisten. Der Schwarzenberg wurde von den Nazis in „Hermann-Göring-Platz“ umbenannt. Heute wird die Kaserne für zivile Zwecke genutzt.
SA-Marsch in die Pionierkaserne
(15) SA-Marsch in die Pionierkaserne

1.9 Schwarzenbergstraße, Jüdischer Friedhof

Neben diesem Friedhof (und zwar westlich vom jüdischen Kriegerdenkmal) stand eine Leichenhalle. Sie wurde am Abend des 10. Novembers 1938, einen Tag nach der Reichspogromnacht, von SA-Leuten in Brand gesteckt. Der Leichenwagen wurde von der „Hitlerjugend“ auf dem Festplatz verbrannt. Die Berufsfeuerwehr beschränkte sich bei der Brandbekämpfung auf den Schutz des benachbarten Lokals „Schützenpark“. Das Grabmal der Familie Rosenschein erinnert auch an die im KZ umgekommenen Hedwig und Julius Leiser.

Am 10. November 1992 wurde hier eine Gedenktafel eingeweiht. Der Text lautet: „ ,Der Allgegenwärtige tröste Euch inmitten der übrigen, die um Zion und Jerusalem trauern.ʻ An diesem Ort befand sich die Friedhofshalle der Jüdischen Gemeinde Harburg. Sie wurde 1857 erbaut, 1900 erweitert und am 10. November 1938 von Harburger Nationalsozialisten geschändet und zerstört. Diese Tafel ist von der Bezirksversammlung Harburg im Gedenken an das geschändete Haus und an die Menschen, die hier von ihren Toten Abschied nahmen, errichtet worden. 10. November 1992“

I.9a Buxtehuder Straße

An den nördlichen Hängen des Schwarzenbergs standen mehrere bekannte Lokale: „Zum Gambrinus“ (Buxtehuder Straße 80), in der Nähe „Sanssouci“ (Nr. 67). Nach dem Kapp-Putsch wurden in beiden Lokalen von Harburger Arbeitern gefangene Söldner der Baltikum-Truppen untergebracht.

Besonders im großen Saal des „Gambrinus“ fanden häufig Kundgebungen der verschiedenen Parteien statt. So sprach am 6. März 1931 auf einer SPD-Versammlung der italienische Sozialist Pietro Nenni (nach 1945 langjähriger Vorsitzender der Italienischen Sozialistischen Partei). Am 30. Januar 1933 rief die Harburger KPD unter der Losung „Mobilmachung“ zu einer Protestveranstaltung im „Gambrinus“auf; sie wurde jedoch von der Polizei verboten.

Am 30. März 1933 wird auf einer NSDAP-Versammlung der Boykott jüdischer Geschäfte in Harburg vorbereitet; besonders scharfmacherisch tritt ein Kaufmann namens Lölsack auf.

Während des Krieges diente der große Saal im „Gambrinus“ als Lager für Zwangsarbeiter. Heute stehen beide Lokale nicht mehr.
Das Lokal Gambrinus
(16) Das Lokal Gambrinus

I.10 Schwarzenberg, Schützenpark

Nachdem Italien kapituliert hatte und von den Nazis besetzt wurde, gab es hier ein Lager für gefangene Italiener. Sie mußten hauptsächlich für die Baufirma August Prien arbeiten.

I.11 Weitere Lager für Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter

Stader Straße 154–156: „Ostarbeiter“-Lager für die Firma Karl Koever.
Lauenbrucher Straße: „Ostarbeiter“-Lager bei der Bahnmeisterei.
Lauenbruch Ost 45: Überwachtes Lager für die HOBUM und das Hartsteinwerk Harburg (Thörl & Co.).
Heimfelder Straße 123: Lager für Italiener neben dem Lokal „Goldene Wiege“(für die Firma Rhenania-Ossag, heute Shell).
Seehafenstraße16: Lager für die Internationale Galalith-Gesellschaft (heute Phoenix).
Heimfelder Straße 44: Gasthof Lindenhof-Brunnenthal, überwachtes Lager für die Rhenania-Ossag (heute Shell).
Konsul-Ritter-Straße 15: Überwachtes Lager für die Metallwerke Niedersachsen Brinckman und Mergell (Menibum).
Stader Straße 35: Überwachtes Lager für die Autofirma Vidal & Sohn (später Tempowerk, dann Daimler-Benz).

I.12 1. Hafenstraße – Thoerls Vereinigte Harburger Oelfabriken

Im März 1933 wurde wegen der Festsetzung der Akkordlöhne die Arbeit niedergelegt. Zwei Gewerkschafter wurden verhaftet, die Polizei löste eine Versammlung im Betrieb auf. Anfang 1934 kam es hier zu einem weiteren Streik wegen Lohnkürzungen. Otto Götzke und zwei ehemalige Betriebsräte wurden darauf entlassen. Die illegale KPD berichtete davon in einem Flugblatt „Drei Streikkämpfer“. Während des Krieges gab es hier ein Lager für „Ostarbeiter“.

1.13 Seehafenstraße Harburger Oelwerke Brinckman und Mergell (HOBUM)

Hier arbeitete eine starke illegale Betriebsgruppe der KPD. Leiter war Christoph Coerber. Er rechnete 1933 und 1934 bei seinem Verbindungsmann zur KPD-Unterbezirksleitung Gelder aus dem Verkauf von etwa 60 Exemplaren der illegalen „Norddeutschen Zeitung“ (später „Arbeiterzeitung“) ab. Auch unter der Leitung Felix Plewas (Politischer Leiter des Unterbezirks Harburg-Wilhelmsburg) existierte eine kommunistische Betriebsgruppe. Felix Plewa selbst bastelte Knallkörper mit Zeitzünder, die er mit Flugblättern füllte und am HOBUM-Eingang Seehafenstraße explodieren ließ; von einer solchen Aktion berichtete die Gestapo am 19.Juli 1935.

Während des Krieges gab es hier einen Stützpunkt der Organisation Bästlein-Jacob-Abshagen (Heinrich Hartig, Karl Johst).

Auch die HOBUM beschäftige Zwangsarbeiter; es gab ein „Ostarbeiter“-Lager und eins für Italiener.

J. STADTEIL WILHELMSBURG

 

J.1 Mengestraße 19, Wlilhelmsburger Rathaus

Am 30. Januar 1933, also am gleichen Tag, als Hitler in Berlin zum Reichskanzler ernannt wurde, stürmten etwa 800 aufgebrachte Wilhelmsburger das Rathaus. Anlaß waren nicht unmittelbar die Ereignisse in Berlin, sondern die Forderung einer Wilhelmsburger Erwerbslosenversammlung nach Feuerungsgutscheinen. Die Polizei hatte das Rathaus umstellt, wagte aber nicht einzugreifen. Am nächsten Tag wurden Gutscheine für zwei Zentner Kohle bewilligt.

Gegen mehrere Beteiligte bei der Aktion wurde später von der Nazijustiz der Prozeß gemacht. Der Wilhelmsburger Kommunist Wilhelm Kors erhielt als „Rädelsführer“ Ende August 1933 zwei Jahre Zuchthaus, mehrere andere bekamen Gefängnisstrafen.

Heute ist hier das Ortsamt Wilhelmsburg untergebracht. Zwei Gedenktafeln erinnern an die Nazidiktatur und ihre Opfer. Die linke Tafel zeigt drei Hände, die ein Gitter umfassen. Auf der rechten ist zu lesen: „Dem ehrenden Gedenken an die Wilhelmsburger, die im Widerstand gegen den Hitlerfaschismus ihr Leben ließen, und dem Andenken der unzähligen Opfer, die Faschismus und Krieg in unserem Stadtteil gefordert haben. Stellvertretend für sie:
Rudolf Mokry, Schlosser, geb. 24.04.05, hingerichtet 11.10.44
Hans Leipelt, Student, geb. 18.07.21, hingerichtet 29.01.45“

J.2 Neuenfelder Straße 106: Gesamtschule Kirchdorf

In dieser Schule erinnert eine Gedenktafel an die Opfer des Faschismus: „Zum Gedenken an die Kinder, Frauen und Männer, die in den Jahren der nationalsozialistischen Willkürherrschaft 1933–1945 in Wilhelmsburg verfolgt, ausgebeutet und gequält wurden, sowie an jene, die Widerstand gegen furchtbares Unrecht leisteten. Gesamtschule Kirchdorf, Februar 1990.“

Schallmei Capelle Wilhelmsburg

(17) Schallmei Capelle Wilhelmsburg

(J.3 existiert nicht)

J.4 Leipeltstraße

Diese Straße wurde nach dem hingerichteten Studenten Hans Leipelt benannt (s. auch J.9).

J.5 Georg Wilhelm Straße zwischen Fährstraße und Vogelhüttendeich

Räume der Wilhelmsburger Erwerbslosen-Selbsthilfe. Hier wurden mit einem Abzugsapparat 1933 „Rote Blätter“ und andere Materialien der illegal arbeitenden Wilhelmsburger Sozialdemokraten hergestellt. Mit dabei war Hans Sander, der später in Wilhelmsburg eine illegale SPD-Gruppe aufbaute. Nachdem die Polizei den Ort entdeckt hatte, mußte die Arbeit eingestellt werden.

J.6 Rotenhäuser Damm 98: Gesamtschule Wilhelmsburg

Früher war hier die Oberschule für Jungen und Mädchen von Wilhelmsburg. 1990 wurde am Haupteingang dieser Schule eine Gedenktafel für die Familie Leipelt angebracht (siehe auch J.9). Der Text lautet:

„Hans und Maria Leipelt besuchten von 1936–1938 bzw. von 1936–1941 als Schüler unser Schulgebäude. Hans (18.7.1921–29.1.1945) leistete aktiv Widerstand gegen die NS-Willkürherrschaft und wurde daher in München enthauptet. Maria (geb. 13.12.1925) ertrug im sog. Polizeigefängnis Fuhlsbüttel ab 1943 elf Monate lang Einzelhaft. Dr. Katharina Leipelt (1893–1944), ihre Mutter, unterhielt Kontakte zum Widerstand und endete im Zwangstod. Hermine Baron (1866–1943), ihre Oma, wurde nach Theresienstadt deportiert. Gleich ihr wurden auch andere Wilhelmsburger Juden deportiert und vernichtet. Wehre auch du den Anfängen von Unrecht und Menschenverachtung! Gesamtschule Wilhelmsburg 1990.“

J.7 Vogelhüttendeich/Ecke Ernastraße

Hier kam es am 31. Januar 1933 zu einem bewaffneten Zusammenstoß. Als ein Trupp Stahlhelmer von einer Nazidemonstration in Harburg nach Hause zurückkehrte, wurde die Gruppe beschossen. Drei Stahlhelmer wurden verletzt. Gleichzeitig lagen in der Straße „Häuserschutzstaffeln“ der Antifaschisten in Bereitschaft. Obwohl ein unorganisierter Einzeltäter geschossen hatte, wurden unmittelbar nach dem Eintreffen der Polizei mehrere bekannte Wilhelmsburger Kommunisten verhaftet. Im „Wilhelmsburger Aufruhrprozeß“ wurde Richard Trampenau am 28. Juli 1933 im Harburger Amtsgericht wegen „versuchten Mordes“ zum Tode verurteilt, Eduard Hotze bekam acht Jahre Zuchthaus. Die Hinrichtung Trampenaus sollte in Hannover vollzogen werden. Dort gelang Trampenau jedoch noch rechtzeitig die Umwandlung des Urteils in lebenslängliches Zuchthaus. Rotze kam im Konzentrationslager Sachsenhausen ums Leben.

J.8 Stübenplatz

Hier und in der näheren Umgebung war während des Krieges die Swing-Jugend aktiv. Von den Nazis wurde sie „Pfennig-Bande“ geschimpft, weil ihre Anhänger als Erkennungszeichen einen durchbohrten Pfennig trugen. Sie begeisterten sich für Jazz und Swing. Wie ein Zeitzeuge berichtet,ließen sie von einem Dachfenster Swing-Musik über den Platz ertönen, ein anderes Mal spielten sie ihre Musi k im Kino „Filmburg“ ab. Die Jugendlichen und ihre Eltern kamen mit Verwarnungen davon.

J.9 Mannesallee / früher Kirchenallee, Nr. 19

Hier wohnte die Familie Leipelt (s. auch D.1). Konrad Leipelt war Betriebsleiter bei den Zinnwerken Wilhelmsburg, seine Ehefrau Katharina Chemikerin. Die beiden Kinder Hans und Maria besuchten später die Oberschule in Wilhelmsburg am Rotenhäuser Damm (s. J.6). Der Freundeskreis, der sich in diesem Haus traf, war Teil einer Widerstandsgruppe, die später als „Hamburger Zweig der Weißen Rose “ bezeichnet wurde. Die Ursprünge dieser Gruppe lassen sich bis in die Zeit vor dem Ausbruch des Krieges zurückverfolgen. Zu den Freundinnen und Freunden der Familie Leipelt gehörten vor allem Schüler und Studenten, Wissenschaftler und Künstler.

Obwohl die Familie rassisch verfolgt wurde und deshalb besonders vorsichtig sein mußte, traf man sich mit gleichgesinnten Antifaschisten, las verbotene Schriften und Flugblätter, veranstaltete Feiern, bei denen, wie es später in der Anklageschrift hieß, „der deutsche Gruß und der Führer verhöhnt wurden“.

Katharina Leipelts Mutter Hermine Baron, die ebenfalls in diesem Hause wohnte, wurde 1942 nach Theresienstadt deportiert und kam dort wenige Monate später ums Leben. Im März 1942 gelangten durch die Studentin Traute Lafrenz erstmalig Flugblätter der Münchener „Weißen Rose“ nach Hamburg. Auch Hans Leipelt, der in München sei n in Hamburg begonnenes Chemiestudium fortsetzte, vervielfältigte Flugblätter der Münchener und brachte sie nach Hamburg. Auch nach der Hinrichtung der Geschwister Scholl im Februar 1943 ging der Widerstand der Hamburger Freundeskreise weiter.

Hans Leipelt wurde im Oktober 1943 in München verhaftet und am 29. Januar 1945 hingerichtet. Ebenfalls Ende 1943 wurden Katharina und Maria Leipelt und viele ihrer Freundinnen und Freunde festgenommen. Katharina mußte als Jüdin fürchten, in ein Vernichtungslager abtransportiert zu werden. Sie soll sich am 9. Januar 1944 im Gefängnis Fuhlsbüttel erhängt haben. Ihre Tochter Maria, in verschiedenen Gefängnissen festgehalten, wurde von amerikanischen Truppen befreit und wanderte nach dem Krieg in die USA aus.

Heute steht das Haus nicht mehr.

J.10 Georg-Wilhelm-Straße 9

In der Gaststätte Sörensen (sie hieß auch während der Nazizeit so) traf sich der „Schachklub Wilhelmsburg von 1936 e.V.“, der von dem Wilhelmsburger Kommunisten Walter Szameitat gegründet wurde. Antifaschisten nutzten diesen Schachklub als legale Möglichkeit, Verbindungen zu knüpfen und Nachrichten auszutauschen.

Walter Szameitat wirkte schon in der Weimarer Republik im damaligen „Arbeiterschach“. Nach dem Krieg leitete er bis 1971 den Wilhelmsburger Schachklub und arbeitete im Hamburger Schachverband mit. Zeitweise war er „Internationaler Problem-Preisrichter“ des Weltschachbundes. Am 13.September 1978 verstarb er.

J.11 Hövelweg

In dieser Straße lag die Wohnung des Antifaschisten Adolf Probian (nach vorheriger Nummerierung: 8a). Hier wurde 1933 eine illegale Nummer der „Norddeutschen Zeitung“ hergestellt und auf Wachsbögen getippt.

J.12 Am kleinen Kanal 5 a

Wohnung von Franz Glowalla. Auch hier wurde eine illegale Ausgabe der „Norddeutschen Zeitung“ hergestellt.

J.13 Industriestraße

Hier gab es ein großes Gelände mit Kleingärten. Bis 1936 wurden hier illegale Materialien der KPD hergestellt. Die Verstecke in den Lauben sind von der Polizei nie entdeckt worden. Heute sind die Kleingärten verschwunden.

J.14 Mokrystraße

Früher war sie ein Teil der Industriestraße. Benannt wurde sie nach dem Neuhöfer Antifaschisten und Widerstandskämpfer Rudolf Mokry (siehe auch J.l5).

J.15 Nippoldstraße/ Köhlbrandstraße

Hier war der Kern des alten Arbeiterviertels Neuhof. Es war eine kommunistische Hochburg und hieß deshalb im Volksmund auch „Klein-Moskau“. Der zentrale Platz zwischen diesen beiden Straßen hieß inoffiziell „Roter Platz“; bei bedeutenden Ereignissen der revolutionären Bewegung wurde hier immer eine rote Fahne mit Hammer und Sichel gehißt.

An der Nippoldstraße (früher Freihafenstraße) gab es einen Sportplatz der kommunistischen Sportbewegung „Fichte“. In der Gaststätte „Haus Wilke“ am Reiherstiegdeich fanden die meisten kommunistischen Versammlungen statt. Um ihre Versammlungen vor den Nazis zu schützen, hatte die KPD auch Jiu-Jitsu-Sportler ausbilden lassen. Zu ihnen gehörte auch der ermordete Widerstandskämpfer Rudolf Mokry, der aus Neuhof stammte (Adresse: Freihafenstraße Nr. 194). Er baute 1935 in Hamburg eine Widerstandsgruppe mit Antifaschisten verschiedener politischer Richtungen auf, wurde wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt und am 11.Oktober 1944 im KZ Sachsenhausen erschossen.

Nach der Machtübernahme der Nazis fanden hier 1933 wiederholt Hausdurchsuchungen und Verhaftungen statt. Die KPD-Gruppe Neuhof wurde 1933 und 1934 von der illegalen KPD-Unterbezirksleitung Harburg-Wilhelmsburg angeleitet. Heute ist der Stadtteil Neuhof faktisch verschwunden. Er ist durch Industrie- und Hafenanlagen verdrängt worden.

J.16 Blumensand / Hohe-Schaar-Straße

Hier verlief früher die Straße „Langer Morgen“ (teils auf dem heutigen Blumensand, teils als Parallelstraße zum Eversween). Das „Arbeitserziehungslager“ unweit der Rethebrücke stand etwa an der heutigen Straßenkreuzung Hohe-Schaar-Straße/ Blumensand.

Solche Lager gab es seit 1940 verstreut im ganzen Deutschen Reich. Sie unterstanden der Gestapo. Die Haft war auf 56 Tage befristet, konnte jedoch verlängert werden. Wegen „Arbeitsverweigerung“ oder als politische Repressalie wurde man hier eingesperrt. Das Lager Langer Morgen, errichtet 1943 oder 1944, wurde von dem SS-Führer Sommerfeld befehligt. Es unterschied sich in den Haftbedingungen, Quälereien und den unbeschreiblichen hygienischen Zuständen kaum von einem Konzentrationslager. Viele Häftlinge kamen schon wenige Tage nach ihrer Einweisung ums Leben. Sie mußten für die Hafenbetriebe, die Howaldtswerke, für andere umliegende Betriebe oder in den Getreidesilos arbeiten. Die Gesamtstärke betrug maximal 550 Frauen und Männer.

Am 22. März 1945 wurden das Lager und ein benachbarter Getreidesilo bei einem Bombenangriff völlig zerstört. Etwa 70 Häftlinge fanden dabei den Tod. Das Lager wurde aufgelöst, wer überlebt hatte, wurde nach Hamburg abtransportiert. Zu ihnen gehörte auch Gertrud Rast. Die Haftbedingungen in Fuhlsbüttel empfand sie nach ihren Erfahrungen in Wilhelmsburg als „fast paradiesisch“: „Wir wurden zum Duschen geführt, es war herrlich, auch wenn das Wasser eiskalt war und uns den Atem nahm. Plötzlich fiel uns auf, was wir die ganzen Wochen in Wilhelmsburg nicht bemerkt hatten: Unsere Körper, unser Zeug, alles stank. Je mehr wir uns wuschen, je mehr wir uns anstrengten, den Geruch loszuwerden, umso mehr bemerkten wir ihn: den Gestank des Lagers Langer Morgen.“ Zitat aus: Gertrud Rast: Allein bist du nicht. Kämpfe und Schicksale in schwerer Zeit, Frankfurt/Main 1972, S. 170 f.

Ende Juni 1948 fand ein Prozeß gegen die Wachmannschaften statt. Zwei der 15 Angeklagten wurden zum Tode verurteilt. Eine Wohnbaracke der deutschen Wachmannschaften ist noch vorhanden; sie stand rechts vom ehemaligen Lagereingang. Es ist das Gebäude VTG Paktank, Blumensand 38.

ln unmittelbarer Nachbarschaft gab es weitere Lager:
- Ein Außenkommando des KZ Neuengamme (die Häftlinge mußten meist für das Marineoberbauamt arbeiten)- zwei „Ostarbeiterlager“
- ein Kriegsgefangenenlager
- ein „Gemeinschaftslager“ der „Deutschen Arbeitsfront“.

J.17 Grote Weid

Die Jung-Werke (Mineralölverarbeitung) unterhielten in der früheren Witternstraße ein Außenlager des KZ Neuengamme vom Oktober 1944 bis zum Kriegsende (etwa 150 Häftlinge, nur Männer).

J.18 Neuhöfer Brückenstraße 127 (Lagerplatz), 132

Ein weiteres Außenkommando des KZ Neuengamme gab es bei den Ölwerken Schindler.

J.19 Weitere Lager für Zwangsarbeiterinnen und -arbeiter:

Reiherstiegdeich 86 – überwachtes Lager für Chem. Fabrik J. E. Devrient AG

Witternstraße 13 (heute Grote Weid) – überwachtes Lager für Ludw. Dittmers KG

Niedergeorgswerder Deich – überwachtes Lager für den Gesamthafenbetrieb

Zeidlerstraße 88 – überwachtes Lager für die Fa. Frank

Kanalstraße 62 (heute Industriestraße) – überwachtes Lager für die Wilh. Wollkämmerei

Köhlbrandstraße4 6 – Lager für die Hansa-Mühle

Lagerstraße 14 (heute Alter Schlachthof) – Lager für die Jukraft

Rotenhäuserstraße – überwachtes Lager für Köster, Wesseloh & Wichmann

Neuhöfer Straße 11– überwachtes Lager für das Motorenwerk Hbg. GmbH

Schleusenstraße 50 (heute Neuhöfer Damm) – überwachtes Lager

Im Busch 12a – Bahnbetriebswerk Hbg. Wilhelmsburg, überwachtes Lager

Parallelstraße – überwachtes Lager der Bahnmeisterei Wilhelmsburg

Bahnhof Wilhelmsburg - Oberbauzug 0108, überwachtes Lager der Reichsbahn

Heinrichstraße 38 (heute Jaffestraße) – überwachtes Lager Fa. Schlinck & Co.

Alter Stillhorner Deich 38 (heute Stillhorner Weg) – überwachtes Lager für Fa. Hoegfeld u. Söhne

Hindenburgstraße 116 (heute Georg-Wilhelm-Straße) – überwachtes Lager in Schultes Gasthof, für Fa. Haltermann & Co.

Hindenburgstraße 7 (heute Georg-Wilhelm-Straße) – überwachtes Lager Stahlwerk Mark

Ziegelerstraße 13 – überwachtes Lager Steer, für Norddeutsche Affinerie

Witternstraße 4 (heute Grote Weid) – überwachtes Lager Wilhelmsburger Bleiwerk

Am Industriebahnhof – überwachtes Lager für die Wilhelmsburger Industriebahn

Rotenhäuserstraße 3 – Ostarbeiter-Lager für Martin Merkel KG (Asbest und Gummiwaren)

Hindenburgstraße 138 (heute Georg-Wilhelmstraße) – Ostarbeiter-Lager für Fa. Carstens

Neuhöfer Straße 14 – Ostarbeiter-Lager für Fa. Flügger

Hindenburgstraße 240 (heute Georg-Wilhelm-Straße) – Ostarbeiter-Lager für Bahnmeisterei Wilhelmsburg

Schlengendeich 13 – Ostarbeiter-Lager für Fa. Franz Schlobach

Reiherstiegdeich 102 – Ostarbeiter-Lager für Fa. Wettern

Kanalstraße 82 (heute lndustriestraße) – Ostarbeiter-Lager für Zinnwerke II

Honartsdeich 100a – Italiener-Lager für Fa. Dreyer

K. STADTTEIL ALTENWERDER

 

K.1

In Altenwerder gab es ein Lager (ZAL) für die Ohlendorf'sche Baugesellschaft.

K.2 Korbmachersand (heute Am Sandauhafen)

Östlich vom oberen Korbmachersand, an der Seite zum Köhlbrand hin, lag die Abbruch-Werft des jüdischen Unternehmers Berendsohn. Der Betrieb wurde nach 1933 von den Nazis „arisiert“. Berendsohn wanderte mit seiner Familie in die USA aus, kehrte aber nach 1945 zurück und baute seinen Betrieb wieder auf. Heute ist die Fläche Lagerplatz für Massengut.

L. STADTTEIL MOORBURG

 

L.1

Im Sommer 1944 arbeiteten Häftlinge des KZ-Außenlagers Dessauer Ufer bei der Ebano-Oehler-Teerfabrik.

M. STADTTEILE HAUSBRUCH, NEUGRABEN, FISCHBEK

 

M.1 Falkenbergsweg (Ostseite, etwa zwischen Bredenbergsweg und Neugrabener Heideweg)

Hier standen während des Krieges Lager für Kriegsgefangene, „Ostarbeiter“.und ein Außenkommando des KZ Neuengamme. Mit dem Bau der Lager wurde schon I938 begonnen. Zunächst waren sie für ein (nie verwirklichtes) Elbbrücken-Großprojekt gedacht. Dann kamen Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, meist aus Polen, der Sowjetunion und später aus Italien.

Im September 1944 wurde etwas abseits der Straße ein Lager mit vier Baracken für etwa 500 Jüdinnen (meist aus der Tschechoslowakei) errichtet. Es war ein Außenkommando des KZ Neuengamme, mit Stacheldraht umgeben und von SS-Leuten und Zollbeamten bewacht. Die gefangenen Frauen mußten bei Wind und Wetter, ungeschützt vor Bombenangriffen, Schwerstarbeit leisten: Beim Bau der sogenannten Plattenhäuser (Behelfsheime für Ausgebombte, aus denen die jetzige Falkenbergsiedlung hervorgegangen ist), bei Aufräumungsarbeiten nach Luftangriffen (auch mitten in Harburg), bei den Firmen Weseloh und Ehlers sowie bei der Ziegelei Malo. Die Befehlsgewalt hatte SS-Hauptsturmführer Kliem, der bei den Häftlingen als besonders schlimmer Sadist galt.

Eine der inhaftierten Frauen erinnert sich: „Bei einem anderen Versuch, Essen ins Lager zu schmuggeln, hatten wir kein Glück. Bei einem Mädchen fand der Wächter etwas Eßbares, und der Lagerälteste (Kommandant) gab Befehl, das Mädchen nackt auszuziehen, und sie bekam mit einem Gummischlauch 25 Schläge. Das Mädchen starb danach.“ Karl Heinz Schultz:Das KZ-Außenlager Neugraben, in: Ellermeyer, J./ Stegmann. D./ Richter, K.:Harburg. Von der Burg zur Industriestadt, Hamburg 1988, S. 499.

Im Februar 1945 wurde das Lager aufgelöst. Die Frauen kamen zuerst nach Tiefstack in Hamburg, dann nach Bergen-Belsen, bis sie von britischen Truppen befreit wurden. Der Kommandant Friedrich W. Kliem wurde 1946 zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. 1955 wurde er wegen „guter Führung“ entlassen. Von den Lagern ist heute – bis auf einige Fundamente – nichts mehr zu sehen. Die SS-Baracke wurde noch bis in die 60er Jahre als Kindertagesheim genutzt.

Ein Findling soll an das KZ-Außenlager erinnern; die Schrifttafel wurde wiederholt von Neonazis abmontiert und gestohlen.

M.2 Cuxhavener Straße 253, am Opferberg

Vereinshaus der Hausbruch-Neugrabener Turnerschaft (HNT). Das Haus, das 1889 entstand, war anfangs Hotel, dann Produktionsbetrieb und schließlich Turnhalle. Während des Krieges wurde hier zeitweise auch für Rüstung gearbeitet. Seit 1938 befand sich auf dem Grundstück ein Arbeits- und Wohnlager des Brückenamtes Hamburg. Später waren hier französische Kriegsgefangene untergebracht.

M.3 Cuxhavener Straße/ Ecke Süderelbebogen

Früher stand dort die Gaststätte Wolkenhauer. Auch auf diesem Grundstück gab es ein Lager für Kriegsgefangene.

M.4 Cuxhavener Straße / Nähe Bahnhof Neugraben und Süderelbe-Einkaufszentrum

Auf diesem Gelände (u.a. befand sich hier die Baufirma Malo) mußten die Häftlinge des KZ-Außenkommandos in Neugraben Platten und Malo-Hohlblocksteine herstellen und Baumaterial auf dem Neugrabener Bahnhof abladen.

M.4a Neugrabener Markt 5

Vor dem Ortsamt Süderelbe wurde im April 1992 eine Gedenktafel eingeweiht, die an die Zwangsarbeit von KZ-Häftlingen in Neugraben erinnern soll. Der Text lautet:

„Vernichtung durch Arbeit. Bis zum Ende der Sechziger Jahre standen hier sogenannte Plattenhäuser für ausgebombte Hamburger Familien.Für den Bau dieser Häuser, der Straßen und der Wasserleitungen wurden neben Kriegsgefangenen auch Häftlinge des Konzentrationslagers Neuengamme eingesetzt. 500 jüdische Frauen kamen nach langjährigem Aufenthalt in anderen Kon zentrationslagern, zuletzt in Auschwitz-Birkenau, über das Lager Dessauer Ufer in das Außenlager Neugraben des KZ Neuengamme.

Vom September 1944 bis Februar 1945 waren diese Frauen im Barackenlager am Falkenbergsweg untergebracht und mußten für örtliche Bauunternehmen lebensgefährliche Zwangsarbeit leisten. Sie wurden auch zu Aufräumungsarbeiten nach Bombenangriffen in Harburg und Neugraben herangezogen.

Die Überlebenden wurden im Frühjahr 1945 in das Lager Tiefstack und von dort in das Konzentrationslager Bergen-Belsen gebracht. Bis zur Befreiung des Lagers durch englische Truppen – am 15. April und danach – starben viele der Frauen an den Folgen der Haft, der mangelnden Ernährung und Zwangsarbeit.“

M.5 Francoper Straße

An dieser Straße existierte ein Zwangsarbeitslager bei Heinrich Steinhage, Falkenberg & Co.

M.6 An der Falkenbek

Der etwa zwei Kilometer lange Abflußgraben wurde von Häftlingen der Lager am Falkenbergsweg ausgehoben.

M.7 Zw. Moisburger Weg und Fischbeker Heideweg

In einer Kiesgrube wurden die Häftlinge des KZ Neugraben beim Kiesabbau eingesetzt.

M.8 Störtebekerweg 81

Hier wohnte 1933 das Ehepaar Hansine und Heinrich Klafack. Sie waren Kommunisten; aus Tarnungsgründen trat Heinrich Klafack kurz vor 1933 der „deutschnationalen“ Partei DNVP bei. Im Keller dieses Hauses war eine illegale Druckerei eingerichtet worden. Setzbuchstaben und Druckwerkzeug hatte Otto Dennstedt (vor 1933 Mitglied der SAJ) zur Verfügung gestellt.

Von Bruno Dewitz wurden illegale Ausgaben der „Norddeutschen Zeitung“ (später „Arbeiterzeitung“), Streuzettel und Flugblätter („3 Streikkämpfer bei Thörl“) bergestellt. Auch
3000 Exemplare einer illegalen Ausgabe der „Hamburger Volkszeitung“ wurden hier gedruckt. Die Glückwunschkarten des KJVD mit dem Titel „Unseren Gruß zum Kampf für ein besseres Dasein!“, die Ostern 1934 an Schulabgänger und Konfirmanden mit der Post verschickt wurden, hatte Otto Dennstedt in seiner Druckerei Lämmertwiete hergestellt.

Nach der Verhaftungswelle im Sommer 1934 heißt es in einem Lagebericht der Harburger Gestapo: „Mit welcher Tatkraft und Umsicht die Partei gearbeitet hat, ist insbesondere daraus zu ersehen, daß sie aus den Beitragsgeldern, dem Verdienst aus den verkauften Zeitungen sowie freiwilligen Spenden durch eine Mittelsperson in Neugraben (Landkreis Harburg) ein Haus hat kaufen lassen. In diesem Hause, welches als vollständige Druckerei für die Partei eingerichtet werden sollte, wurden drei Kästen mit Drucktypen beschlagnahmt.“ Stifung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin

Heinrich Klafack kam am 20. Mai 1936 im Zuchthaus Rendsburg um.

M.9 Friedhof Scheideholzweg

Hier gibt es mehrere Gräber von Insassen der Falkenberg-Lager (u.a. Letten und Ukrainer). Am Rand des Friedhofs steht ein Gedenkstein mit dem Text: „Fern der Heimat ruhen hier 26 Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft.“

M.10 Rostweg

Hier existierte ein Kriegsgefangenenlager, zeitweise waren dort französische und belgische Offiziere untergebracht.

Herausgeber

Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes ·Bund der Antifaschisten e.V., Kreisverband Harburg
Alle Rechte bei VVN-BdA Hamburg, Hein-Hoyer-Straße 41, 20359 Hamburg

Bildnachweis

(1) Hans-Joachim Meyer
(2) Staatsbibliothek Carl v. Ossietzky
(3) Helms-Museum, Abt. Stadtgeschichte
(4) Helms-Museum, Abt. Stadtgeschichte
(5) Hans-Joachim Meyer
(6) Hans-Joachim Meyer
(7) Helms-Museum, Abt. Stadtgeschichte
(8) Dr. med. Hartwig Gotthardt
(9, 9a) Helms-Museum, Abt. Stadtgeschichte
(10) Elisabeth Ostermeier
(11) Helms-Museum, Abt. Stadtgeschichte
(12) Hans-Joachim Meyer
(13) Helms-Museum, Abt. Stadtgeschichte
(14) Geschichtswerkstatt Harburg
(15) Hans-Joachim Meyer
(16) Helms-Museum, Abt. Stadtgeschichte
(17) Hans-Joachim Meyer

Quellen

Staatsarchiv Hamburg
Niedersächsisches Staatsarchiv Stade
Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin (ehem. Zentrales Parteiarchiv im Institut für Marxismus-Leninismus der SED)
Sammlung Meyer
Sammlung VVN-BDA Hamburg
Harburger Anzeigen und Nachrichten
Volksblatt für Harburg-Wilhelmsburg und
Umgebung
Wilhelmsburger Zeitung


Literatur

AG Stadtgeschichte im FZ Nöldekestraße (Hg): Stätten von Widerstand und Verfolgung in Harburg. Ein Wegweiser, Harburg o.J . (Faltblatt)

Bergeest, S./ Mühlhaus, A./ Riemann, H./ Rieper, S./ Schween, K.: ...und ihr Geist lebt trotzdem weiter! Im Namen des deutschen Volkes. Die Familie Leipelt aus Harburg-Wilhelmsburg 1938–1945. Ein Beitrag zum Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte der Kurt A. Körber-Stiftung, Hamburg 1983

Bezirksamt Harburg (Hg): Kriegsende in Harburg. Politik und Alltag in unserer Stadt vor und nach dem 3. Mai 1945, Harburg 1985 (Faltblatt)

Bosse, Reinhard: Lager in Wilhelmsburg während der NS-Zeit, in: Die Insel. Zeitschrift des Vereins für Heimatkunde in Wilhelmsburg e.V., Hamburg 1990

Brügmann, K.D./ Dreibrodt, M./ Meyer, H.-J./ Nehring, O.: die anderen. Widerstand und Verfolgung in Harburg und Wilhelmsburg 1933–1945, Hamburg 1980

Bürgerinitiative ausländ. Arbeitnehmer e.V. Haus Rudolfstraße (Hg): Einwanderer - Einwohner - Einheimische? Ausländer und Inländer in Wilhelmsburg, Wilhelmsburg 1988 (Ausstellungskatalog)

Ebbinghaus, A./ Kaupen-Haas, M./ Roth, K.H. (Hg): Heilen und Vernichten im Mustergau Hamburg. Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik im Dritten Reich, Hamburg 1984

Eger, Ernst: Harburg während des Krieges1939/45, in: Harburger Jahrbuch 1948 (Veröffentlichungen des Helms-Museums Nr.5), Harburg 1949

Ellermeyer, J./ Heyl, M./ Heymann, G. (Hg): Schalom, Harburg! Nicht nur ein Besuch, Harburg 1992

Ellermeyer, J./ Richter, K./ Stegmann, D. (Hg): Harburg. Von der Burg zur Industriestadt, Hamburg 1988

Freizeitverein Hamburg-Harburg (Hg): Die Lebendigkeit der Stadtgeschichte (Extra-Ausgabe des FZ-Magazins), Harburg 1983.

Gastliches Harburg. Vom Goldenen Engel zur Goldenen Wiege (Veröffentlichungen des Helms-Museums Nr. 62), Hamburg 1990

Geschichtswerkstatt Wilhelmsburg (Hg): Zerbrochene Zeit. Wilhelmsburg in den Jahren 1923–1947, Hamburg 1993

Hartwig, Michael: Großvaters Harburg, Hamburg 1984

(Leyding, John): 100 Jahre Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Harburg 1963

Müller, H./ Schöberl, J.: Karl Ludwig Schneider und die „Hamburger Weiße Rose“, in: Hochschulalltag im „Dritten Reich“. Die Hamburger Universität 1933–1945, hg. v. Eckart Krause, Ludwig Huber, Holger Fischer, Bd. l, Berlin-Hamburg 1991, S.423–440

Gertrud Rast: Allein bist du nicht. Kämpfe und Schicksale in schwerer Zeit, Frankfurt/Main 1972

(Schmitz, Fred): Harburg. Die Geschichte einer deutschen Stadt zwischen Königtum und Diktatur 1851–1937, Harburg 1969

Scholl, lnge: Die weiße Rose, Frankfurt 1977

Siebenborn, Kerstin: Der Volkssturm im Süden Hamburgs 1944/45, Hamburg 1988

Wingen, Annette: Zieh-Gauner! Oder sei unser Mitbürger!? Ein Beitrag zum Schülerwettbewerb Deutsche Geschichte der Kurt A. Körber-Stiftung, Harburg 1989

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