Herbst der Rebellion?

Die rätselhafte Explosion in der Buxtehuder Straße 104 am 7.3.1955

Text: Christian Gotthardt
Veröffentlicht im Oktober 2015, ergänzt im Juni 2016

(1) Ort des Unglücks: Hier war Willi Reinke Anfang der fünfziger Jahre in eine Kellerwohnung gezogen, in der zuvor seine Eltern gelebt hatten.

Diese Geschichte ist nahezu unglaublich. Oberflächlich wirkt sie wie das Drehbuch eines drittklassigen Agentenfilms. Unter der Haut aber erzählt sie eine ganz und gar reale und sehr tragische Episode: das Scheitern des rebellischen Harburger Arbeiterradikalismus, der in der Revolution 1918-1923 auflebte, in der Nazizeit 1933-1945 heroisch wurde und in den bleiernen Jahren des Adenauer-Staates verendete.

Das Ereignis und seine öffentliche Resonanz

Am 7.3.1955, einem Montag, kam es gegen 17 Uhr in einer Kellerwohnung des Mietshauses Buxtehuder Straße 104 in Harburg-Heimfeld zu einer heftigen Explosion. Die Wohnung wurde dabei weitgehend verwüstet, ein Toter und ein Schwerverletzter, der kurz darauf starb, wurden gefunden. Die Art ihrer Verstümmelungen ließ auf eine Sprengladung schließen, die in ihrer unmittelbaren Nähe, vielleicht sogar in ihren Händen zur Explosion gelangt war.

Der eine der Toten war der Mieter der Kellerwohnung, der 57-jährige arbeitslose Hafenarbeiter Willi Reinke. Der andere wurde als Hein Überbrück identifiziert, arbeitsloser Bauarbeiter, 27 Jahre alt. Reinke war in Harburg als Kommunist, Überbrück als Aktivist der Freien Deutschen Jugend (FDJ) bekannt. Beide waren Mitglieder der KPD, in der letzten Zeit aber nicht mehr für diese aktiv gewesen. Der Hamburger Justizsenator Biermann-Ratjen gab auf einer Pressekonferenz bekannt, Reinke sei bis 1952 Mitglied der KPD gewesen, dann aber wegen „gewisser Vorkommnisse“ während eines Hafenarbeiterstreiks ausgeschlossen worden.[1] Gemeint war der „wilde“ Hafenarbeiterstreik im Herbst 1951, der gegen die ÖTV-Führung und allein mit Unterstützung der KPD begonnen und mit Entlassungen und Polizeimitteln abgewürgt worden war.[2]

Die Staatsschutz-Abteilung der Hamburger Polizei übernahm sofort die Ermittlungen. Das Haus wurde abgesperrt, eine Nachrichtensperre verhängt. Kriminaltechnische Untersuchungen bestätigten angeblich die Sprengstoff-Vermutung. Ein entsprechender Experte des Bundeskriminalamtes wurde hinzugezogen. Die Frau Reinkes, die 56-jährige Maria Reinke, wurde verhaftet, desgleichen ein junger Mann aus dem Umfeld der beiden Opfer, der 26-jährige Hellmut Hartenstein. Er kam kurz darauf wegen mangelnder Verdachtsgründe wieder frei. Das Hamburger Abendblatt sprach ohne weitere Nachweise von einem weiteren Verhafteteten, dem 26-jährigen Günter Weiß aus Harburg. Weiß soll ebenfalls Kommunist , allerdings vor Monaten aus der KPD ausgeschlossen worden sein.[3] Dieser Fall hatte allerdings mit der Explosion nichts zu tun, Weiß war wegen seiner Organisationsarbeit für die verbotene FDJ festgenommen worden und kam deswegen ins Gefängnis Wolfenbüttel.[4]

Maria Reinke blieb in Haft. Ihr wurde Beihilfe bei einem Sprengstoffverbrechen vorgeworfen. Sie durfte am 14.3.1955 nicht an der Beerdigung ihres Mannes teilnehmen.[5] Bereits wenige Wochen nach der Explosion, am 24. Mai 1955, fand die Gerichtsverhandlung vor dem Staatsschutz-Senat des Landgerichts Hamburg statt.[6]

Die Öffentlichkeit erwartete einen Sensationsprozess. Bereits unmittelbar nach der Tat hatte der ermittlungsleitende Oberstaatsanwalt Gerhard Kramer Verbindungen zur KPD und zur DDR/ zum Ostblock gesehen. Er sprach von einem unbekannten, mit osteuropäischem Akzent sprechenden Mann, der am Tag der Explosion am Haus gesehen worden sei. Reinke habe in den letzten Monaten mehrere Berlin-Reisen gemacht und dabei Kontakt mit Geheimdienstlern der DDR aufgenommen. In der Wohnung sei weiterer Sprengstoff gefunden worden.[7] Möglicherweise sei ein Anschlag in Hamburg geplant gewesen.[8] In der Presse wurde über den im März 1955 geplanten Adenauer-Besuch in Hamburg als möglichem Anschlagziel geraunt.[9]

Vor allem das Hamburger Abendblatt nahm Andeutungen dieser Art stets begierig auf und widmete ihnen immer wieder breiten Raum. Es wurde vermutlich von Kramer direkt informiert.[10] Der Generalanzeiger, der Mittag und die Harburger Anzeigen und Nachrichten folgten ebenfalls Kramers Linie, ergänzt durch eigene Recherchen und Hypothesen. Allein die Norddeutschen Nachrichten wiesen bereits ab dem 12.3. auf Widersprüchlichkeiten der Kramerschen Deutungen hin.[11] Die Zeit und der Spiegel widmeten dem Thema eigenartigerweise keine Zeile.

Die kommunistische Hamburger Volkszeitung und DDR-Zeitungen reagierten auf diese Verdächtigungen mit heftiger Gegenwehr. Sie werteten die Explosion als „Provokation“ und die daran geknüpften Verdächtigung als hilflosen Versuch, dem sich mehr und mehr kompliziert gestaltenden KPD-Verbotsprozess vor dem Karlsruher Bundesverfassungsgericht (er lief seit 1951) neues Belastungsmaterial zuzuliefern.[12]

Das Landgericht hat die hochgespannten Erwartungen des Publikums nicht wirklich erfüllt. Es tagte nur einen Tag, zudem auf Antrag der Staatsanwaltschaft wiederholt unter Ausschluss der Öffentlichkeit, etwa beim Vortrag der Staatsanwaltschaft und bei der Befragung von Zeugen und Sprengstoff-Gutachtern.[13] Es fällte ein vage begründetes, im Strafmaß unentschiedenes Urteil. Maria Reinke erhielt sechs Monate Gefängnis wegen Mitwisserschaft. Und vor allem: Von der angeblichen geheimdienstlichen und terroristischen Kulisse blieb substanziell rein gar nichts übrig.[14] Der von der Staatsanwaltschaft erst am Prozesstag herausgeknallte Trumpf, aus den „Geständnissen“ der Maria Reinke habe sich ergeben, dass sich ihr Mann in Ost-Berlin mit Ernst Wollweber getroffen habe (vor 1945 antifaschistischer Saboteur der Hafenarbeiter- und Seeleutebewegung, danach Chef der Staatssicherheit und Vorgänger von Erich Mielke), verpuffte ohne bleibende Wirkung.[15]

Nach diesem Prozess war übrigens von der Harburger Explosion und den beteiligten Personen nie wieder die Rede, weder in der westdeutschen, noch in der ostdeutschen Presse - bis auf den heutigen Tag.

Die ganze Episode bleibt zunächst einigermaßen rätselhaft: das Ereignis selbst, seine politische Aufladung und deren plötzlicher stummer Ausklang. Die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft und die Prozessakten des Gerichts aus dieser Zeit sind noch nicht dem Hamburger Staatsarchiv übergeben. Lässt sich dieses Rätsel aus heutiger Sicht dennoch entschlüsseln? In einigen Aspekten durchaus.

 

Schlüssel KPD-Verbotsprozess

Die Zeitungen der KPD und der DDR lagen gewiss nicht falsch, das politische Motiv des westdeutschen Staates im KPD-Verbotsprozess als wichtige Triebkraft der staatsanwaltlichen Ermittlungen zu betrachten. Man brauchte Material, um den Prozess mit einem Verbot der KPD beenden zu können. Dieses Motiv hat sich aber vermutlich nicht – wie von kommunistischer Seite damals unterstellt - in einer Kommandoaktion von oben nach unten, von Bonn nach Hamburg durchgesetzt. Dazu war die Hamburger Justiz zu unabhängig. Aber es reichte ja aus, dass sich einer der Justizakteure, etwa aus Ehrgeiz, politisch empfehlen wollte. Ein solcher Akteur war Oberstaatsanwalt Kramer ohne Zweifel. Er hatte mit Rückhalt in der Hamburger SPD seine Karriere 1946 begonnen, aber zugleich konnte es zu Zeiten des konservativen Intermezzos in Hamburg (Senat des „Hamburg-Blocks“ 1953-1957) nicht schaden, sich auch der Adenauer-Partei zuzuneigen. In der Rolle des Kommunistenfressers mochte er der rechten Brauer-SPD wie auch der CDU gefallen. Seine Ermittlungsspur in den „Ostblock“ verfolgte er mit allergrößtem Eifer, Widersprüche in seinen Ermittlungen und wiederholt letztlich als harmlose Bürger erkannte vorgebliche „Agenten“ bremsten ihn nicht. Er ging mit seiner Agentenstory bis in die Anklageschrift und wollte sie in der Hauptverhandlung unbedingt bestätigt sehen.[16]

 

(2) Will nach oben: Oberstaatsanwalt Gerhard Kramer

 

Kramers Rechnung ging, soweit es ihn selbst betraf, auf: Im Herbst 1956 ernannte ihn der konservative Sieveking-Senat zum Hamburger Generalstaatsanwalt, im Januar 1958 schickte ihn der im November 1957 neugewählte SPD-Senat („Brauer II“) als Vertreter Hamburgs nach Bonn.[17] 1961 wurde er zusätzlich zu diesem Amt Hamburger Justizsenator.

 

Schlüssel Täter/ Opferbiographien

Die Vorgeschichte der Harburger Explosion begann früh – im Revolutionsjahr 1919 in Harburg. Bei Reinke wie auch bei Überbrück.

Am 23.6.1919 wurde die Familie Reinke zum ersten Mal politisch aktenkundig. Zwei ältere Brüder Willi Reinkes – Paul und Max - beteiligten sich an einer spontanen morgendlichen Hungerdemonstration auf dem Sand in der Harburger Innenstadt. Diese Demonstration mündete in Plünderungen von Lebensmittelgeschäften und Verteilung der Lebensmittel auf der Straße, Entwaffnung von Soldaten, Belagerung des Rathauses, schließlich gegen Mittag in eine Befreiung aller 61 Insassen des Amtsgerichtsgefängnisses, die dort überwiegend aufgrund notgeborener Diebstahlsdelikte einsaßen. Insbesondere bei dieser Befreiungsaktion sollen sich – so später die Anklage der damals zuständigen Staatsanwaltschaft am Landgericht Stade – die Brüder Reinke als führend erwiesen haben.[18]

Im gleichen Jahr 1919 trat Willi Reinke in die KPD ein, um 1923 folgten seine Brüder Paul, Max und Robert. Die vier gehörten stets zu deren militantem, linksradikalen Flügel und übernahmen schon vor 1933 zeitweilig illegale Funktionen. Öffentlich wirkte Willi Reinke, der als Nieter auf Harburger Werften arbeitete, Ende der 1920er Jahre als Leiter des Musikzuges im Harburger Rotfrontkämpferbund. 1931 wechselt er von der KPD zur Gruppe Einheitsfront, einem Netzwerk militanter Aktivisten aus Reichsbanner und Rotfrontkämpferbund in Heimfeld – ob aus Überzeugung oder als Beobachter im Parteiauftrag, ist nicht eindeutig zu entscheiden.[19] Er wohnte mit seiner Frau Maria – das Paar hatte 1923 geheiratet - bis zur Ausbombung 1944 oder 1945 in der Reinkeschen Familienwohnung in der Heimfelder Sternstraße 29 a (heute Gazertstraße).[20]

(3) Der Kiez der Familie Reinke: Heimfelder Mietshausblöcke der Jahrhundertwende. Die Sternstraße wurde komplett durch Bomben zerstört, vorher sah sie etwa so aus wie die Niemannstraße oder das "Meyerviertel" noch heute.

Die drei Brüder waren in der KPD geblieben. Paul wirkte ab 1933 in führenden Funktionen des kommunistischen Widerstandes. 1937 wurde er denunziert, verhaftet und kurz darauf im KZ Fuhlsbüttel ermordet.[21] Willi war 1935 kurzfristig in den Blick der Gestapo geraten, wegen seiner Aktivitäten für die „Einheitsfront“ im Jahre 1931, ihm war jedoch nichts nachzuweisen.[22] Er wie auch Max und Robert Reinke blieben in diesen Jahren offenbar unbehelligt, ihre Namen tauchen in den zahllosen Gerichtsverfahren gegen Kommunisten und andere Akteure des Widerstandes nicht auf. 1945 schloss sich Willi Reinke sogleich wieder der KPD an und übernahm gewerkschaftliche Funktionen in verschiedenen Hafenbetrieben.[23]

Auch für das Schicksal des Hein Überbrück war 1919 gewissermaßen ein Schlüsseljahr. Damals trat sein Onkel Klaus Überbrück erstmals in die Reihen der radikalen Linken. Der Großvater Nikolaus war um 1892 als Bahnhofsschlosser nach Harburg in die Niemannstraße 24 gezogen. Im Januar 1896 kam hier sein erster Sohn zur Welt, eben jener Klaus, der eigentlich wie der Vater Nikolaus hieß. Bald danach kam der zweite Sohn, Heinrich, der spätere Vater von Hein.

Klaus, der Erstgeborene, wurde Seemann und Heizer. 1911 trat er in die SPD ein. 1914 Kriegsmarine, 1918 Jagdfliegerausbildung in Celle, im Revolutionsjahr 1919 Mitglied des Soldatenrates ebendort und Mitglied der USPD. 1921 Eintritt in die KPD, Leiter im Militär-Apparat der KPD Berlin-Brandenburg. Seit Oktober 1924 Lehrgang an der M-Schule der Komintern in der Sowjetunion. Nach seiner Rückkehr wurde er Mitarbeiter im zentralen M-Apparat der KPD.

Klaus Überbrück geriet im Oktober 1931 in Berlin wegen Sprengstoffbesitzes in Haft und wurde zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. 1939 wurde er vom Zuchthaus Luckau ins KZ Sachsenhausen verlegt, dort im Januar 1940 entlassen. 1945/46 Mitglied der KPD/SED, beschäftigt bei der sowjetischen Zentralkommandantur von Groß-Berlin, später bei der Polizei. Er starb am 24. April 1957 in Ost-Berlin.[24]

Der Werdegang seines Onkels – der übrigens Anklagebehörde und Gericht in Hamburg entweder nicht bekannt war oder von ihnen bewusst nicht thematisiert wurde - hat Hein Überbrück vermutlich nicht unbeeindruckt gelassen. Auch seine Großeltern und Eltern sind wohl prägend gewesen. Gleich nach dem Krieg engagierte sich Hein Überbrück in der FDJ. 1947 trat er in die KPD ein.[25]

Die großelterliche Familie mit dem jüngeren Sohn Heinrich, der Schmied lernte, wohnte in den 1920er Jahren in der Lauterbachstraße 11, Tür an Tür mit Rudolf Nickeleit, KPD-Bürgervorsteher ab 1927, ab 1929 Mitglied der Gruppierung der „Linken Kommunisten“. Heinrich wohnte dann 1928, als sein Sohn Hein geboren wurde, in der Eddelbüttelstraße 48, 1930 in der Lassallestraße 15, 1932 dann in der Dorotheenstraße 2, 1939 in der Mühlenstraße 6 (heute Schlossmühlendamm). In den 1930er Jahren arbeitete er im Harburger Hafen, möglicherweise war er mit Willi Reinke bekannt und die Beziehung zwischen Hein und Reinke hatte hier ihren Ursprung. 1940 starb Vater Heinrich, möglichweise im Krieg, jedenfalls verliert sich seine Spur. Eine Witwe Anna Ü. wohnte seit 1941 in der Lauterbachstraße 11 bei einem Georg Überbrück – die Witwe Heinrichs und die Mutter Heins. Jener Georg könnte ein dritter Sohn des Großvaters gewesen sein.

(4) Der Kiez der Familie Überbrück: Das Viertel zwischen Wilstorfer Straße und Seevekanal. 

 

In der Lauterbachstraße 11 erschien um 1951 als Haushaltsvorstand ein Karl Überbrück, städtischer Arbeiter, möglicherweise ein Sohn des Georg, der die Wohnung übernahm. Dieser Karl zieht um 1954 in die Lauterbachstraße 22. Hier wohnt zur selben Zeit eine Hildegard Überbrück, Küchenhilfe, deren Verwandschaftsbeziehung zu den Vorgenannten unklar ist. 1955 wohnten Hein und seine Mutter gemäß Presseberichterstattung in der Ebelingstraße 6, nur wenige Schritte von der Lauterbachstraße entfernt.[26]

(5) Die Ebelingstraße. Im Haus Nr. 6, vorne links mit der hellen Klinkerfassade im Erdgeschoss, wohnten Hein Überbrück und seine Mutter.

Nach Herkunft, Beruf und Wohnorten waren Hein Überbrück und Willi Reinke typische Vertreter des KPD-Milieus im Allgemeinen und ihres linksradikal-militanten Flügels im Besonderen: geborene Proletarier in mindestens dritter Generation, häufig prekär beschäftigt oder arbeitslos, mit einer starken Vernetzung im heimischen „Kiez“ und vermutlich mit einer über Jahrzehnte reichenden politischen/aktivistischen Familientradition. Dass Hein Überbrück es war, der 1951 aus Anlass des damaligen Verbots der FDJ eine rote Fahne mit Hammer und Sichel weit sichtbar an den höchsten Harburger Fabrikschornstein knüpfte, passt ins Bild.[27]

(6) Vorne rechts wieder die Ebelingstraße, das Haus Nr.6 ist nur wenige Meter entfernt. Links die Gaststätte "Zur Stumpfen Ecke", in der Hein Überbrück gerne und mit viel Glück Skat spielte - er wurde deshalb "Suppenhein" genannt.

 

Schlüssel KPD-Dementi

Aufschlussreich sind die Formulierungen, die von der Hamburger KPD zur Explosion veröffentlicht wurden. Schon der zeitgenössischen Hamburger Presse kam in den Sinn, dass die Aussage der kommunistischen Hamburger Volkszeitung, beide Opfer seien Mitglieder der KPD gewesen, nicht automatisch heiße, sie waren es zum Zeitpunkt der Explosion nicht mehr. Die KPD-Aussage, beide hätten in den letzten Jahren nicht mehr am Parteileben teilgenommen, könne man auch dahingehend deuten, sie seien doch noch Mitglieder gewesen.[28]

Daneben fällt auf, dass die kommunistische Presse die Explosion zwar durchweg als „Provokation“ bezeichnete, die auf Intrigen der Westdeutschen Geheimdienste und Justizorgane zurückgehe – die beiden Opfer / Täter aber nicht als „Provokateure“. Dies lässt auf eine Sicht schließen, in der die beiden als von Lockspitzel verführte Einzelkämpfer erscheinen.

Beides erinnert stark an – ausgerechnet ! – die Verlautbarungen der KPD zum Sprengstoff-Fall Überbrück im Jahre 1931. Das ZK der KPD formulierte damals in einer öffentlichen Entschließung, es sei

„...das Vorhandensein linker sektiererischer Stimmungen, die sich gegen die Massenarbeit der Partei richten, eine ernste Gefahr innerhalb der Partei. Die linke Gefahr in der revolutionären Bewegung zeigt sich u. a. im Entstehen terroristischer Stimmungen, in der Anwendung von Einzelterror gegen die Faschisten, in der Durchführung sinnloser Einzelaktionen und bewaffneter Einzelüberfälle, in abenteuerlichen Spielereien mit Sprengstoff (Fall Ueberbrück).“[29]

Willi Reinke war ohne Zweifel seit jeher ein Freund entschiedenen Draufgängertums. Als Betriebsratsvorsitzender der Einteilstelle der Harburger Gesamthafenarbeiter (das waren die an wechselnde Arbeitsorten eingesetzten „Hafentagelöhner“ im Unterschied zu den festen Beschäftigten der Hafeneinzelbetriebe)[30] hatte er den „wilden“, von der KPD unterstützen Hafenarbeiterstreik 1951 begeistert mitgetragen. Später gab es parteiinterne Kritik am Streik, und auch Reinkes Handeln wurde umstritten beurteilt. In der Harburger Ortsgruppe hatte das Wort des Parteiveterans Hugo Paul ein großes Gewicht, der sich schon 1918 bis 1923 als Gegner isolierter Militanz und Befürworter engster Zusammenarbeit mit der SPD erwiesen hatte. Andererseits grassierten gerade in den beginnenden 1950er Jahren absurder Agentenwahn und allgemeines Misstrauen in Apparat und Mitgliedschaft, und etliche der örtlichen Altgenossen gerieten wegen „rechter“ oder „linker“ Abweichungen in den Jahren vor 1933 ins Abseits.[31]

Es ist möglich, das Reinke sich unter diesen Umständen nicht mehr recht wohl im „Parteileben“ fühlte. Hein Überbrück mag sich aus einer ähnlichen Gefühlslage heraus ihm angeschlossen haben.

(7) Heute unscheinbar, ungenutzt, aber noch vorhanden: Das Gebäude der "Einteilstelle Harburg" des Gesamthafenbetriebs, wo Willi Reinke als Betriebsrat wirkte. Es steht am Kanalplatz gleich neben dem kleinen Kiosk. Erbaut wurde es 1907 als Fischhalle. Von 1911 bis etwa 1966 diente es durchgehend als Einteilstelle, dann wurde es von Gewerbebetrieben genutzt. Den Gesamthafenbetrieb gibt es immer noch, allerdings werden die Kollegen jetzt via Telefon eingeteilt.

 

Schlüssel Prozessverlauf

Der – wie dargestellt – übereifrige Oberstaatsanwalt Kramer plädierte in der Hauptverhandlung gegen Maria Reinke nicht selbst, sondern überließ diese Aufgabe Staatsanwalt Ernst Löllke, einem Mann, der im Februar 1942 als Staatsanwalt eines Sondergerichts in Rostock einen Mann wegen Handschuhdiebstahls hinrichten ließ.[32] Löllkes forsches Auftreten fand in dem vorsitzenden Richter Hans Rameken einen mäßigenden Gegenpart. In gleicher Richtung wirkte die Gegenwart des Stellvertreters des Generalstaatsanwalts, Ernst Buchholz, der als Beobachter teilnahm. Rameken wie Buchholz hatten sich schon mehrfach als liberale Juristen erwiesen, die es mit den Rechten Angeklagter in der Strafprozessordnung sehr genau nahmen.[33]

Darüber hinaus sprachen pragmatische Gründe gegen den Kurs der Staatsanwaltschaft. Wenn es nicht gelang, eine operative Verbindung zwischen den beiden Bombenbastlern und der KPD nachzuweisen, war die ganze Geschichte für den KPD-Prozess in Karlsruhe ohne Belang.[34] Ein noch so spektakuläres Aufdecken von Hintermännern in der DDR half da keinen Schritt weiter, im Gegenteil, man würde der Gegenseite damit ohne jeden Nutzen offenbaren, wie weit genau die westdeutschen Polizei- und Geheimdienstorgane in die Strukturen der kommunistischen „Westarbeit“ eingedrungen waren. Da erschien es wesentlich klüger, den Prozess von hoher Politik (Agententätigkeit, Landesverrat, Staatsgefährdung etc.) zu befreien und auf eine gänzlich unpolitisch aufgefasste Straftat, nämlich Beihilfe oder Mitwisserschaft bei einem Vergehen gegen das Sprengstoffgesetz, zu konzentrieren.

Das Interesse der Staatsanwaltschaft, den Fall Reinke-Überbrück als Stasi-Affäre zu stilisieren und in den politischen Strom des Karlsruher KPD-Verbotsprozesses einzuleiten, drang jedenfalls nicht durch. Im übrigen hatte die Anklage auf der „Ostspur“ seit Mitte März keinerlei neue Fakten ermitteln können.[35] Richter Rameken achtete sehr darauf, dass der Fall ein Fall Maria Reinke blieb und Urteilsbegründung wie Strafmaß allein daran auszurichten waren, was dieser Frau an strafbaren Handlungen zugerechnet werden konnte. Das war nicht eben viel, wodurch sich auch das für damalige Verhältnisse geringe Strafmaß erklärte.

Die „Ostspur“ kommentierte das Gericht bei der Urteilsbegründung mit der Formel, es sei „überzeugt“, dass „Stellen in der Ostzone“ die Taten der Harburger veranlasst hätten. Das ist eine sehr freundliche Umschreibung der Tatsache, dass auf dieser Spur jegliche Beweise fehlten und Justiziables nicht herauskam.

Gänzlich unberücksichtigt blieben im Urteil die zahlreichen Vernehmungen von Harburgern aus dem Umfeld der Täter. Die Polizei soll in den ersten Tagen bis zu 30 Personen befragt haben. In der Presse waren Vermutungen über ein militantes Netzwerk links von der KPD geäußert worden. Auch sollten Zeugen von einem Polizeispitzel „Fred“ gesprochen haben.[36] Ob die Staatsanwaltschaft Ergebnisse dieser Befragungen im nichtöffentlicher Sitzung vorgetragen hat, wissen wir nicht.

(8) Der Prozessbericht im Neuen Deutschland vom 26. Mai 1955. 

 

Rekonstruktionsversuch

Halten wir zunächst die wesentlichen Ergebnisse und offenen Fragen des Gerichtsverfahrens fest:

1. Die beiden Opfer der Explosion waren auch ihre Urheber. Beide waren seit ihrer Jugend aktive Kommunisten und fühlten sich auch ab etwa 1952, als sie keine Parteifunktionen mehr innehatten, den Zielen der KPD verpflichtet.

2. Es ist nicht bewiesen, dass Willi Reinke mit Ernst Wollweber bekannt war. Es kann jedoch nicht ausgeschlossen werden, da beide seit Beginn der 1930er Jahre kommunistische Funktionsträger in der Hafenarbeiterbewegung waren und sich in Hamburg hätten begegnen können. Ähnliches gilt für die Frage, ob Hein Überbrück Kontakt zu seinem Onkel in der DDR hatte.

3. Es ist ein knappes Kilo Sprengstoff zur Explosion gekommen, weitere, größere Mengen des gleichen Sprengstoffes fanden sich in der zerstörten Wohnung. Welche Herkunft, welche Qualität usw. der Sprengstoff hatte, mit welchen anderen Sprengstoffen im In- und Ausland er vergleichbar wäre, ist nicht nachvollziehbar, da die Öffentlichkeit beim Vortrag des Gutachters ausgeschlossen war und die Gerichtsprotokolle nicht freigegeben sind.

4. Für einen Zusammenhang des Sprengstoffes mit Motiven oder Anweisungen von „Stellen in der Ostzone“ gibt es weder Indizien noch gar Beweise. Alle vorgeblichen Hinweise auf diesen Komplex entstammen den Aussagen Maria Reinkes in den Polizeiverhören bzw. während der Befragungen des Gerichts, dem die Protokolle der Polizeiverhöre zu Grunde lagen. Es handelt sich darüber hinaus um Aussagen, die kaum auf selbst Erlebtem oder Gehörtem beruhen, sondern auf im Nachhinein von Maria Reinke angestellten Vermutungen und gezogenen Schlüssen. Mit anderen Worten: Was als Aussagen oder „Geständnisse“ Maria Reinkes für stichhaltige Sachverhaltsdarstellungen erachtet wurde, kann sich auch ganz anders ereignet haben. Da die Ermittlungsakten nicht freigegeben sind, kann zudem nicht nachvollzogen werden, auf welche Weise diese Aussagen erfragt , wie mögliche Widersprüchlichkeiten aufgelöst wurden, wie der Name „Wollweber“ ins Gespräch kam usw.

(9) 1945 oder 1946: KPD-Mitglieder bauen sich auf dem Trümmergrundstück Friedrich-Ludwig-Jahn-Straße 7 ein neues Parteibüro. Im Hintergrund die unzerstörten Gebäude der Volksschule Bennigsenstraße. Die Holzbaracke blieb Heimstätte der Hamburger KPD bis zum Parteiverbot am 17. August 1956.

 

Versuchen wir uns nun an einem Erklärungsmodell, dass sich mit diesem Ergebnisstand sinnvoll verknüpfen lässt:

Reinke und Überbrück fanden sich als militante kommunistische Romantiker in der KPD zunehmend isoliert. Beide waren arbeitslos, was bei Reinke direkt mit seinem Engagement für die KPD und den „wilden“ Hafenarbeiterstreik 1951 zusammenhing. Er lebte in dem Gefühl, von der Partei, der er seit ihrer Gründung 1919 angehörte, im Stich gelassen worden zu sein. Vielleicht richtete sich sein Unmut dabei weniger gegen die Partei als solche, als vielmehr gegen ihr damaliges Harburger und Hamburger Personal.

Reinke konnte sich eine Hilfe der KPD in seiner sozialen Notlage nicht mehr vorstellen. Er entschied, sich in der DDR um bezahlte Arbeit zu bemühen, vielleicht unter Aktivierung alter Kontakte, vielleicht als „Kundschafter“ im Hamburger Hafen, zur Beobachtung des Schiffsverkehrs, möglicher Einfuhren militärischen Geräts usw. Ein Treffen mit DDR-Geheimdienstlern hat vermutlich stattgefunden. Sein plötzlicher Bargeldbesitz und der Kauf eines teuren Fotoapparates Anfang 1955 deuten in diese Richtung.

Er gewann Hein Überbrück, den er vermutlich seit dessen Kindertagen kannte, als Helfer. Ob die Sprengstoffproduktion von Beginn an zum Auftrag gehörte oder ob die beiden damit den Auftrag um ein privates Anliegen ergänzten, liegt im Dunkeln. Sie stellten Sprengstoff her, den sie in der Wohnung lagerten. Möglicherweise dachten sie an spektakuläre Sabotageaktionen gegen die Wiederaufrüstung, oder an ein Materiallager für den Tag X (Kriegsausbruch zwischen den sich 1954 und 1955 herausbildenden Militärblöcken Nato und Warschauer Pakt). Als sie das Versteck aus Sicherheitsgründen wechseln wollten, geschah das Unglück.

Offene Fragen wirft allerdings auch dieses Erklärungsmodell auf: Woher kam das Rezept für den Sprengstoff und die Bauart der selbstgebauten Batteriezünder? Was steht dazu im Sprengstoffgutachten? Warum wurde die Personalie „Klaus Überbrück“ in der Ermittlung und im Prozess nicht thematisiert?

Wie auch immer – die tragische Harburger Episode verschwand aus dem Bewusstsein der Zeitgenossen und wäre heute wohl auch nach einer Durchsicht der Ermittlungs- und Prozessakten nicht mehr vollständig aufzuklären. Aber: Sie hatte eine bemerkenswerte Begleit- und Folgeepisode, die der hier entwickelten Rekonstruktion sehr ähnelt und ihr damit eine noch größere Wahrscheinlichkeit verleiht.

 

Der Fall Alfred Weise 

Im Januar 1955 war der Dessauer Kommunist Alfred Weise (Jahrgang 1912) vom Staatssicherheitsdienst der DDR mit einem Westdeutschen Pass versehen und mit falscher Identität in den Westen geschleust worden. Er reiste – nach einer eigenen Aussage, die er über 40 Jahre später gegenüber der Zeitschrift Focus machte – über München ins Saarland und schickte am 4. Februar eine mit selbstgefertigtem Sprengsatz versehene Briefbombe an den saarländischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann. Die Bombe wurde auf der Post erkannt und explodierte nicht, über ihre Sprengkraft ist nichts sicheres bekannt.[37]

Weise wurde in die DDR zurückbeordert und im September 1955 zum Aufbau eines Spionagenetzes in Norddeutschland eingesetzt. Sein wichtigstes Operationsgebiet war der Hamburger Hafen. Er gewann unter den örtlichen Kommunisten 16 Helfer. Ihre Aufgaben glichen denen, die Willi Reinke vermutlich zuvor aufgetragen worden waren.

Weise machte als Instrukteur dieses Netzwerkes in den Jahren 1955 bis 1962 rund 100 Reisen durch Norddeutschland, dann wurde er von der politischen Polizei Westdeutschlands verhaftet. Im Oktober 1964 kam es zum Prozess vor dem Bundesgericht in Karlsruhe, in dessen Verlauf er recht freimütige Geständnisse machte. Er wurde zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und bereits 1965 gegen in der DDR einsitzende Westagenten ausgetauscht.[38]

Die Fälle Reinke/ Überbrück und Weise sind seit 1955 bzw. 1964 nahezu komplett vergessen. Es war eben tatsächlich nur der Herbst einer Rebellion gewesen, die keinen Frühling mehr erlebte sollte. Ein 1971/1972 unternommener Versuch des ehemaligen Spiegel- und Weltredakteurs Horst Günter Tolmein, diese Ereignisse noch einmal als Treibsatz neuerlicher Kommunistenangst zu instrumentalisieren, scheiterte. In seinem Buch „Partisanen unter uns. Die Kommunisten proben den Aufstand“ hatte er den Fall Reinke/ Überbrück zur Dramatisierung seines Themas in journalistischer Form eingefügt. Er bot eine detailreiche Schilderung der unmittelbaren Vorgänge vor, während und nach der Explosion, ferner eine in kräftigen Farben ausgemalte Skizze der „Ostspur“. Sein Text lässt erkennen, dass er einen internen Ermittlungsbericht der Polizei einsehen konnte sowie Akten, die bei der Auswertung des Falles durch das Verfassungsschutz-Bundesamt entstanden waren. In ähnlicher Weise behandelte er auch den Fall Weise.

Tolmein war Hauptmann der Reserve und bei Spiegel und Welt als Militärspezialist beschäftigt. Anfang der 1970er Jahre kontaktierte er den BND, da die Welt damals ein ähnliches Dossier wie zuvor der Spiegel („Pullach intern“, hier war Tolmein schon beteiligt gewesen) bringen wollte. Er war den (nun einer sozialliberalen Koalition verpflichteten) Geheimdienstlern aber als unseriös bzw. politisch unzuverlässig erschienen und wurde abgewimmelt. Die Welt-Serie erschien nicht. Tolmein hatte für das Partisanenthema offenkundig lange recherchiert, aber es schließlich in der Presse ebenfalls nicht unterbringen können. So erschien der Text 1972 im Verlag v.Hase und Köhler in Mainz, der politische Bildung von rechts betrieb, dabei eng mit der Adenauerstiftung und Filbingers Studienkreis Weikersheim kooperierte und im übrigen auch als Hausverlag für den BND fungierte. Tolmein plädierte in seiner Schrift für einen strammen, mit politischen und militärischen Mitteln geführten Abwehrfeldzug gegen den „verdeckten Kampf“ der alten und neuen Linken. Resonanz fand er nicht.

 

 

Nachtrag

Ende Mai 2016 arbeitete ich, verschiedener Themen wegen, im Bundesarchiv in Koblenz. Dort fand ich eine (im tatsächlichen wie auch übertragenen Sinne) reichlich schmierige Akte einer konspirativen Hamburger Dienststelle des Bundesamtes für Verfassungsschutz aus den 1950er Jahren. Diese Dienststelle („Künast“ = Küstennachrichtenstelle) war offenbar ohne profunde Abstimmung mit dem Hamburger Landesamt für VS eingerichtet worden und kümmerte sich recht eigenständig um vermeintliche Sabotagevorhaben des DDR-Geheimdienstes in den Norddeutschen Seehäfen und um die Beteiligung der KPD an Streikaktionen der Hamburger Seeleute und Werftarbeiter. Zu diesem Zweck hielt sie Verbindung mit den Vorständen der Werften und Reedereien, hatte eigene V-Leute im KPD-Umfeld angeworben und eine eigene Datendokumentation eingerichtet. Einer der Mitarbeiter dieser Dienststelle hatte sich im Oktober 1955 Zugang zur Ermittlungsakte der Hamburger Staatsanwaltschaft im Fall Reinke/ Überbrück verschafft und hierin speziell das Sprengstoffgutachten des BKA-Gutachters ausgewertet. Durch seinen Aktenvermerk, sinnigerweise abgelegt unter dem Titel „Fall Fox“ (wg. „Reinke de Voss“, plattdeutsch für „Reinicke Fuchs“), lässt sich der Inhalt des Gutachtens nun erstmals öffentlich machen.

 

Der Gutachter habe ausgeführt,

  • dass zwar einige der (von der Ehefrau Reinke erwähnten) Taschenlampenbirnen am Tatort gefunden worden waren und insofern die Herstellung einer elektrischen Zündung wohl beabsichtigt war,

  • dass der Sprengstoff wegen seiner hohen Empfindlichkeit gegenüber Reibung, Stoß und Temperaturänderungen einer solchen Einrichtung aber nicht bedurfte, um zur Explosion zu gelangen,

  • dass der Sprengstoff seiner Art nach nicht handelsüblich war, dem handelsüblichen in der Wirkung vergleichbar oder sogar überlegen, und bei Begleitung des Trocknungsprozesses mit einer sachgerechten Kühlung auch von Laien herstellbar,

  • dass der Sprengstoff zwar in einer großen Menge hergestellt worden war bzw. werden sollte (8,755 kg zuzügl. 20 kg noch unverarbeitete Rohstoffe), die für großformatige Sabotagesprengungen ausreichen gewesen wäre,

  • dass aber als Portionierungsgefäße nur kleine Dosen für je max. 12 g Sprengstoff gefunden wurden, mit denen man zwar Aufmerksamkeit erregen, aber keine wirklichen Schäden hätte anrichten können,

  • dass die Ursache der Explosion letztlich nicht mehr zu ermitteln war, jedoch mit großer Wahrscheinlichkeit entweder eine unvorsichtige Handhabung oder ein Eindringen des Sprengstoffs in das Spannungsfeld des in der Nähe befindlichen, noch Zeugenaussagen eingeschalteten Radiogerätes anzunehmen sei.[39]

Ich werte diesen interessanten Fund als Bestätigung meiner zuvor getroffenen Einschätzungen. Die Sprengstoffproduktion war offenbar wirklich eine private Bastelei. Ihre Zielstellung schien eher Propaganda als zielgerichtete Sabotage gewesen zu sein, ihr Motiv eher individueller politischer Ausdruckswille als die Verbreitung von Parteiparolen. Der ganze Fall war im Kontext des KPD-Verbotsverfahrens nicht verwendbar.

 

 

Bildnachweis

 

(1) Archiv Gotthardt

(2) http://archiv2.fes.de/zvimg.FAU?sid=FA0EF4F5&DM=6&qpos=112128&ipos=1&erg=A&hst=1&rpos=fotos.png, 27.8.2019

(3) Staatsbibliothek Hamburg

(4) Ebd.

(5) Schulz, Ihrke, Menzel, Schrieber: Vor dem Lüneburger Tor, Harburg 1982

(6) Ebd.

(7) Foto aus dem Besitz der KPD-Harburg; Archiv Gotthardt

(8) Archiv Gotthardt

(9) Archiv Gotthardt

 

Anmerkungen

[1] Hamburger Generalanzeiger v. 8.3.1955, 9.3.1955, 10.3.1955; Hamburger Abendblatt v. 10.3.1955.

[2] Vgl. hierzu Sommer, Gerald: Streik im Hamburger Hafen, Hamburg 1981.

[3] Harburger Anzeigen und Nachrichten v. 9.3.1955, 10.3.1955. Hamburger Abendblatt v. 11.3.1955, 12.3.1955; Hamburger Mittag v. 9.3.1955, 11.3 1955.

[4] Neues Deutschland v. 31.7.1955, 16.9.1955, 27.9.1955, 29.7.1956. Weiß wurde nach 1968 Vorsitzender der zentralen Schiedskommission der DKP. Er starb 1981; ebd. v. 7.2.1981.

[5] Berliner Zeitung v. 16.3.1955.

[6] Hamburger Abendblatt v. 2.5.1955, 25.5.1955. Neues Deutschland v. 19.5.1955 hatte irrtümlich den 25.5. als Prozesstag angekündigt.

[7] Hamburger Abendblatt v. 11.3.1955, 12.3.1955.

[8] Hamburger Generalanzeiger v. 12.3.1955; Neues Deutschland v. 13.3.1955. Hamburger Abendblatt v. 15.3.1955.

[9] Harburger Anzeigen und Nachrichten v. 11.3.1955.

[10] Vgl. Hamburger Abendblatt v. 12.3.1955, 15.3.1955, 22.4.1955.

[11] Zit.n. Berliner Zeitung v. 13.3.1955.

[12] Hamburger Volkszeitung v. 10.3.1955; Berliner Zeitung v. 12.3.1955, 13.3.1955, 15.3.1955; Neues Deutschland v. 13.3.1955, 22.3.1955.

[13] Harburger Anzeigen und Nachrichten v. 25.5.1955.

[14] Hamburger Abendblatt v. 25.5.1955, Neues Deutschland v. 26.5.1955.

[15] Hamburger Generalanzeiger v. 24.5.1955, 25.5.1955; Harburger Anzeigen und Nachrichten v. 25.5.1955, Hamburger Mittag v. 25.5.1955.

[16] Hamburger Abendblatt v. 22.4.1955.

[17] Zeit v. 16.1.1958.

[18] StA Stade, 171 a Nr. 426; siehe auch „Die radikale Linke...“, S. 44.

[19] „Die radikale Linke...“, S. 154.

[20] Ebd.; Harburger Anzeigen und Nachrichten v. 25.5.1955.

[21] Günther, Markert, Meyer, Möller: Stolpersteine in Hamburg-Harburg und Hamburg-Wilhelmsburg, Hamburg 2012, S. 210 f.

[22] StA Stade, 171 a Nr. 246.

[23] Harburger Anzeigen und Nachrichten v. 25.5.1955.

[24] http://www.bundesstiftung-aufarbeitung.de/wer-war-wer-in-der-ddr-%2363%3B-1424.html?ID=5310 , 10.10.2015.

[25] Harburger Anzeigen und Nachrichten v. 25.5.1955.

[26] Harburger Adressbuch; Hamburger Abendblatt v. 10.3.1955. Zu Anna Überbrück vgl. StAH 213-11 Nr. 2207/ 40.

[27] Hamburger Generalanzeiger v.12.3.1955.

[28] Hamburger Generalanzeiger v. 10.3.1955.

[29] Die Rote Fahne (Berlin) v. 13. 11.1931. Abgedruckt in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Hg.): Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung - Band 4, Berlin 1966. S. 558 f.

[30] Zum Gesamthafenbetrieb und seiner Geschichte vgl. Udo Achten/Bernt Kamin-Seggewies: Kraftproben. Die Kämpfe der Beschäftigten gegen die Liberalisierung der Hafenarbeit, Hamburg 2008.

[31] Berlin, Jörg: Willi Prinz (1909–1973). Ein Vorsitzender der Hamburger KPD als Opfer des Stalinismus. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Bd. 96 (2010), S. 101–139.; vgl. den Artikel über Harry Naujoks auf dieser Website.

[32] Hamburger Abendblatt v. 18.7.1962; Zeit v. 27.7.1962.

[33] Zu Rameken vgl. Hamburger Abendblatt v. 31.1.1953, 23.4.1960; zu Buchholz vgl. Strate, Gerhard: Der einundzwanzigste Tag des Mariotti-Prozesses, in: http://www.strate.net/de/publikationen/der_einundzwanzigste_tag_des_mariotti-prozesses.html, 10.10.2015.

[34] Über kommunistische Bombenleger wurde zwar ständig in der Presse phantasiert, aber kein derartiges Ereignis konnte sicher bewiesen werden; vgl. exemplarisch den Fall des Berliner FDP-Vorsitzenden Carl Hubert Schwennicke. Im KPD-Verbotsurteil spielt Sprengstoff keine Rolle (vollständiger Text in http://opinioiuris.de/entscheidung/847, 15.10.2015).

[35] Hamburger Mittag v. 24.5.1955, 25.5.1955.

[36] Harburger Anzeigen und Nachrichten v. 11.3.1955; Hamburger Mittag v. 12.3.1955, 13.3.1955.

[37] Focus v. 5.5.1997.

[38] Hamburger Abendblatt v. 16.10.1964.

[39] Bundesarchiv Koblenz, B 443/ 2388.

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