"Der Mann war ein Hochstapler"

Mein Urgroßonkel Max Lücke

Text: Angela Jansen
Veröffentlicht im März 2019

 

Unverheiratet wie ich bin, trage ich trotzdem einen Ehering – und zwar den einer unglücklichen Ehe. Er erinnert mich an Tante Anna und ihren Ehemann Max Lücke. Geheiratet haben die beiden am 18.11.1919. Wie es ihnen danach erging, erzählt dieses „frische Thema“.

In den 1960er Jahren schickte uns Geschwistern eine Urgroßtante zu Weihnachten echte Printen aus Aachen. Zumindest erinnere ich das so. Tante Anna war 1883 in Aachen geboren. Ihr Vater, der Schneidermeister und Kaufmann Carl Ludwig Wornast, heiratete 1860 mit 48 Jahren in zweiter Ehe die knapp 17-jährige Anna, geb. Schütz. Sie bekamen drei Töchter, Karoline, geb. 1866, Martha und eben Anna – ob es auch Söhne gab, weiß ich nicht.

Tante Anna

Anna Wornast verlor 1891 mit acht Jahren ihren Vater. Die Mutter führte die Kurz- und Spezereiwarenhandlung in der Aachener Wallstraße 39 noch mehr als 10 Jahre weiter. Spezereiwaren waren Haushaltsmittel, die lose nach Gewicht verkauft wurden, Wornasts Geschäfts also so eine Art „Budni“.

Vermutlich hat sich Anna Wornast dann Arbeit gesucht, denn 1910 begegnet sie uns als 1. Schriftführerin der Rheinischen Arbeitszentrale für Pensionsversicherung der Privatangestellten in Aachen. Ob sie jemals eine Ausbildung gemacht hat oder sich ihre Kenntnisse allein in der Praxis angeeignet hat, ist unklar. In allen Unterlagen über sie heißt es: ohne Beruf.

Rundschreiben Rheinische Arbeitszentrale, 1911

(2) Rundschreiben der Rheinischen Arbeitszentrale für Pensionsversicherung der Privatangestellten, Aachen, 1911

1912 machte Anna zusammen mit ihrer großen Schwester Karoline Bock und deren Tochter Änne Urlaub in Brohl am Rhein. Im Hotel Könsgen trank eines Abends auch ein junger Mann ein Bier: Johannes Maria Fischer. Anna hoffte, der 28-Jährige würde sich für sie interessieren, aber der hatte nur Augen für die 16-jährige Änne. Die er dann auch später heiratete – und die beiden wurden meine Großeltern.

Tante Anna

(3) Anna Lücke, geb. Wornast (10.10.1883–30.10.1966), Foto ca. 1916

1919 fand Anna Wornast dann doch noch einen Ehemann: Mit 36 Jahren heiratete sie den sechs Jahre älteren Basaltsteinbruchbesitzer Max Lücke. Aus Liebe? Aus Vernunft? Jedenfalls brachte die Ehe beiden kein Glück. Schon 1924, fünf Jahre später, lebte Anna getrennt von ihrem Mann. Die Ehe blieb kinderlos und wurde 1926 geschieden. Anna Lücke behielt ihren Ehenamen und zog wieder nach Köln-Ehrenfeld, wo sie auch vor der Ehe gewohnt hatte. Bis zur Rente arbeitete sie bei der Stadt Köln. Später lebte sie in Bickesdorf (heute zu Düren gehörig) und dann in einem Altersheim in Nievenheim (Dormagen) bis zu ihrem Tod 1966.

Die Schwestern Karoline Bock und Anna Lücke

(4) Die Schwestern Karoline und Anna (rechts), ca. 1946 in Essen

Tante Anna hat als alleinstehende Frau ihr Leben bewältigt. Und auch den zweiten Weltkrieg in Köln überlebt. Meine Mutter konnte als Kind nicht verstehen, dass diese Tante keinen Mann hatte. Also fragte sie: „Tante Anna, wo ist dein Mann?“ „Psst, nicht weitersagen, den habe ich hier in der Schublade“, antwortete die Großtante und zeigte auf die Kommode, die im Zimmer stand. Meine Mutter, damals wohl im Vorschulalter, traute sich nie, die Kommodenschublade aufzumachen – obwohl sie die Geschichte nicht ganz glaubte.

Wenn ich später darüber mit meiner Mutter sprach, sagte sie immer: „Der Mann von Tante Anna war ein Hochstapler.“ Das machte mich neugierig.

Annas Ehemann Max Lücke

Geboren wurde Max Lücke am 29.3.1877 in Obercassel, heute ein Ortsteil des Bonner Stadtbezirks Beuel. Er wuchs mit drei Schwestern in Bonn-Beuel auf, besuchte bis zum Einjährigen 1894 die Oberrealschule, was einem heutigen Realschulabschluss entspricht.[1] Dann wurde er Kaufmann, lernte beim Vater Heinrich Lücke und auch in einer Maschinenfabrik. Ob er einen Abschluss machte, ist unklar. Gearbeitet hat er anschließend auch überwiegend beim Vater. Verschiedene Stellen in anderen Unternehmen, z.B. der Zementfabrik Porz, behielt er nie lange bei. 1915–1918 war Lücke Soldat im 1. Weltkrieg, vermutlich eher nicht an der Front, denn mindestens ein Jahr arbeitete er im Kriegsministerium in der Schreibstube. Während dieser Zeit stirbt am 19.5.1917 seine Mutter an Lungenentzündung. Nach einer vorübergehenden Tätigkeit als Betriebsführer in Altenbochum im Westerwald betreibt er ab April 1919 einen eigenen Steinbruch, ebenfalls im Westerwald. In dieser Situation heiratet er Anna Wornast.

Der Vater Heinrich Lücke und der Basaltabbau im Siebengebirge

Heinrich Lücke, geb. am 4.9. 1852, war Steinbruchbesitzer und Kaufmann – heute würde man ihn wohl als Baustoffhändler bezeichnen. Er war an Basaltsteinbrüchen im Siebengebirge beteiligt, z.B. am Petersberg und am großen Ölberg, und organisierte den Abbau und den Verkauf der Steine. Es waren meist nur kleine Vorkommen, die schnell ausgebeutet waren. Lücke engagierte sich am Ostbruch des Ölbergs von 1891–1900, in den Firmenkonstellationen Franssen & Lücke, Merkens & Lücke und Handelsgesellschaft Lücke.[2]

Briefkopf Franssen und Lücke

(5) Kurzfristiges Geschäft mit stolzem Auftritt: Briefkopf der Fa. Franssen & Lücke, 1894

Am Nordbruch des Petersbergs betrieb Heinrich Lücke mit der Firma Lücke & Baumeister den dortigen Steinbruch von 1906 bis zur Schließung 1908 [3].

Die Steinbruchbesitzer hatten in dem 1869 gegründeten (und heute noch existierenden) Verschönerungsverein für das Siebengebirge (VVS) einen potenten Gegner. Dieser kämpfte für die „Idee der Erhaltung, vor allem aber der Erschließung der herrlichen Siebengebirgslandschaft für den Tourismus“[4] mit erheblichen finanziellen Mitteln, die z.B. durch Lotterien erwirtschaftet wurden, organisierte Boykottaufrufe gegen die Verwendung von Steinen aus dem Siebengebirge und erhielt 1899 vom Kaiser sogar das Enteignungsrecht verliehen.[5]

Der größte Basaltbetrieb der Region, die heute noch bestehende Basalt AG, unterstützte die Stilllegungsbemühungen des VVS am Petersberg, um einen Konkurrenten loszuwerden. Denn Lücke & Baumeister waren nicht Mitglied der Basaltvereinigung, mussten sich also nicht an deren Preisabsprachen halten und konnten die Preise unterbieten. Um den oben genannten Boykott zu umgehen, verwendeten Lücke & Baumeister auch falsche Herkunftsangaben.[6]

geologisches Profil Siebengebirge

(6) Das geologische Profil zeigt, dass der wertvolle Basalt nur an den Bergkuppen leicht abzubauen war. Die „Wunden“ an den Bergkuppen waren also von weitem sichtbar, und die Berge schrumpften durch den Abbau – und das war dem Verschönerungsverein ein Dorn im Auge.

Die geschäftlichen Aktivitäten am Öl- und am Petersberg organisierte Heinrich Lücke von Königswinter aus. Um 1910 hat es eine Firma Zöller & Lücke gegeben, die am Finkenberg oberhalb von Limperich einen Steinbruch betrieb. In den 1920er Jahren finden wir ihn noch etwas weiter Rhein abwärts im Adressbuch von Bonn-Beuel als Steinbruchbesitzer und Inhaber(?) der Rhein. Basaltgesellschaft.

Bonner Adressbuch 1924 - Heinrich und Max Lücke

(7) Eintrag Heinrich Lückes im Bonner Adressbuch von 1922, in dem auch sein Sohn Max verzeichnet ist

Was wurde aus Max Lücke?

1922 scheint also alles geregelt, Max Lücke tritt in die väterlichen Fußstapfen, ist seit drei Jahren verheiratet… Aber dann verschwindet er aus dem öffentlichen Leben: Es lassen sich keine geschäftlichen Aktivitäten mehr finden, auch im Adressbuch fehlt sein Eintrag. Eine Erklärung liefert die nüchterne Notiz auf seiner Bonner Meldekarte. Max Lücke ist in der Psychiatrie – in der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in Bonn.[7]

(8) Vermerk vom 16.6.1932 auf der Rückseite der Meldekarte von Max Lücke

Erstaunlicherweise sind die Krankenunterlagen von Max Lücke im zentralen Archiv des LVR-Klinikverbundes bis heute erhalten. So werden auf 250 Seiten plötzlich ein Mensch und sein Leben sichtbar, wenn auch im Wesentlichen aus Sicht der Ärzte.[8] Sie zeichnen Psychiatriegeschichte und deutsche Geschichte mit ab...

„Rechnet flott und richtig“ – die Krankenakte von Max Lücke

1922 ist Max Lücke erstmalig in der Psychiatrie. Endgültig entlassen wird er laut den Unterlagen am 15. Mai 1944. Dazwischen liegen 22 Jahre, in denen er ab 1930 die überwiegende Zeit in der Anstalt verbracht hat.

Max Lückes Anstaltsaufenthalte

(9) Max Lückes Aufenthalte in der Anstalt

Im März 1922 verbringt Max Lücke 10 Tage auf Veranlassung seiner Frau Anna in einer Trinkerheilanstalt. Am 30. Mai 1922 wird er dann von der Polizei zum ersten Mal in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bonn (im weiteren Anstalt genannt) eingeliefert. Was er selbst berichtet, gibt der Stationsarzt so wieder: „Er trinke seit Herbst 1921, ‚seit der junge Buck (Bock) [9] ins Geschäft kam, der regte mich nur auf und deshalb ging ich, um nicht mit ihm aufeinander zu platzen weg.‘ (…) um 9 oder ½ 10 aus dem Büro in verschiedene Wirtschaften. Trank den Tag 12 Glas Bier und 10-12 Cognac. Auf dem Büro habe er fast gar nichts mehr getan. Mit seiner Frau habe er sich selten gezankt. Auch die Frau nie geschlagen. Vom 20–30.3.1922 sei er in der Nervenklinik gewesen, von der Frau hingebracht, weil er so aufgeregt war. Ca. 1 Monat später habe er wieder soviel getrunken wie vorher. Am 29.5. habe er wieder Krach gehabt mit dem jungen Buck (Bock), der habe ihn wohl bei der Polizei denunziert, er sei zum Bürgermeister bestellt und von der Polizei hierher gebracht worden.“[10]

10-12 Bier und Cognac

(10) „12 Glas Bier und 10–12 Cognac“... Ganz schön viel. Aber vielleicht meinte Max Lücke kleine Gläser? Denn das typische Kölsch- und Alt-Glas in streng zylindrischer Form fasst 0,2 Liter.

Der Arzt notiert auf dem Krankenblatt zum Stichwort Trunk „seit 20 Jahren“ und zu Ursache, Beginn und Verlauf der jetzigen Krankheit: „Trinkt unmäßig, fast ununterbrochen, lebt verschwenderich, über seine Verhältnisse, mitunter gewalttätig gegenüber seiner Umgebung. Fast dauernd betrunken.“[11] Recht schnell ist Max Lücke also eingestuft als chronischer Alkoholiker. Inwieweit sein übermäßiger Alkoholkonsum auf eine konkrete Überforderungssituation zurückzuführen ist, bleibt unberücksichtigt. War er überfordert durch die Erwartung des Vaters, dass er mit dem eigenen Geschäft endlich auf eigenen Beinen stehen könnte? Oder durch die Erwartung der Frau, das Versprechen eines erfolgreichen Kaufmanns einzulösen? Oder durch seine eigene Unfähigkeit, mit dem Neffen seiner Frau zusammenzuarbeiten? Hier löst sich der Vorwurf des Hochstaplers vielleicht schon auf: Möglicherweise fiel es ihm leicht, seine Umgebung zunächst davon zu überzeugen, dass er ein erfolgreicher Geschäftsmann sei. Im nüchternen Alltag dann wurde er dem aber nicht gerecht.

Nach drei Wochen wird Max Lücke am 19.6.1922 nach Hause „beurlaubt“. Aber Ende September bringt ihn seine Frau Anna wieder zurück. Der Stationsarzt notiert: „Heute von der Frau zurück gebracht. Gibt an, von seiner Frau und den Verwandten eingeliefert worden zu sein, weil diese ihm sein Geschäft/Steinbruchbetrieb im Westerwald aus der Hand nehmen wollten.“[12] Am 3. Oktober wird er – offensichtlich auf Wunsch seiner Frau Anna, die seine Anwesenheit für das Geschäft als notwendig erachtet, als „gebessert entlassen (Alkoholismus)".[13]

Was die Anstalt unter gebessert versteht und welche therapeutischen Maßnahmen Max Lücke während der beiden relativ kurzen Aufenthalte zugute kamen, bleibt offen. Vermutlich beschränkte sich die medizinische Behandlung darauf, ihn vom Alkohol fernzuhalten und möglicherweise durch Arbeit mit festen Regeln und Zeiten zu „bessern“. Immerhin geht aus den Unterlagen hervor, dass man sich bemüht hat, die Vorgeschichte der Krankheit aus der Sicht des Kranken detailliert aufzunehmen. Ob auch mit anderen Familienmitgliedern über deren Version gesprochen wurde, lässt sich nicht feststellen.

Das sagt Max Lücke dazu

Im Zusammenhang mit der erneuten Einlieferung im September gibt es einen handschriftlichen Bericht Lückes, in dem er die Vorgänge aus eigener Sicht schildert:

„Zu Beuel wurde am 2.3.21 eine Steinbruch-Gesellschaft m. b. H. von 4 gleichberechtigten Teilhabern gegründet, wovon ich ein Teilhaber und 1. Geschäftsführer bin; ferner ein Teilhaber und 2. Geschäftsführer ein Neffe meiner Frau ist. Dieser will nun ein Geschäft dominieren und geht in allen Sachen eigenmächtig vor, was mich natürlich sehr ärgert (…) sowie mir die Lust und Liebe zum Geschäft nimmt, besonders, wo ich der einzige Fachmann und Gründer bin und mein früheres alleiniges gutes Geschäft mit Kundschaft an die GmbH abtrat. (...)

Mein Frau hält nun mehr mit diesen ihren Verwandten als wie mit mir (…). Trotzdem (habe) ich stets keine Kosten für sie gescheut, sie sehr häufig auf meinen Reisen durch den Westerwald etc. mitgenommen, ihr fast stets von meinen alleinigen Reisen Kleinigkeiten, wie Schokolade etc. mitgebracht habe, so auch wieder vorige Woche.

Um nun weiteren Drohungen aus dem Wege zu gehen, will ich mich von diesem Neffen meiner Frau trennen, wie mir ein Arzt von hier im Interesse meiner Gesundheit bereits empfohlen hat, und habe ich dem Vorsitzenden der G.m.b.H. meinen Austritt aus derselben erklärt, nachdem sich ein mir sehr befreundeter Cölner Fabrikant mir gegenüber schriftlich verpflichtet hat, mit mir gemeinsam einen neuen Steinbruch-Betrieb zu eröffnen, und haben wir bereits vor 14 Tagen ein passendes Terrain von der Gemeinde Rennerod im Westerwald auf 20 Jahre fest übernommen.

Das alles ärgert nun natürlich meine Frau und ihren Neffen, und suchen dieselben, mich auf andere Art zu chikanieren und kalt zu stellen.

(…) Betr. die jetzigen Vorkommnisse

Montag, Dienstag, Mittwoch vor. Woche war ich auf Geschäftsreisen, Donnerstag im Gesangverein Liederkranz Beuel, und Freitag vormittag in Bonn + Beuel. Wenn ich nun etwas viel getrunken haben soll, so lag dies an obigem Gesangverein.

Die verausgabten Gelder habe ich, wie bereits gesagt, von meinem Cölner Freunde für mich persönlich erhalten und teils für Einkäufe + Begleichung von Rechnungen etc. verwendet.

Den behaupteten Weiberverkehr bestreite ich ganz entschieden, und wird mich zu Beuel, Bonn oder sonstwo niemals jemand in derartiger Begleitung gesehen haben. Es ist dies wieder eine böswillige Behauptung meiner Frau, und haben sogar Beueler Schutzleute mir erklärt, dass mir niemand etwas Übles nachweisen könne, meine Verwandten + Frau aber gegen mich zu sein schienen.

(…) Für die Wahrheit meiner Ausführungen kann ich schriftliche Belege und Zeugen bringen.

Max Lücke“[14]

1925: Der zweite – längere – Anstaltsaufenthalt

Vom Oktober 1922 an lebt Lücke zweieinhalb Jahre draußen, bis die Situation offensichtlich so eskaliert, dass er im Mai 1925 erneut in der Anstalt landet: „Wieder aufgenommen am 9.5.1925: Kommt allein in stark angetrunkenem Zustand zur Aufnahme und gibt an, einen Herrn Lehmann besuchen zu wollen.“[15] Die ärztliche Einschätzung lautet: „Nach meiner Beobachtung und nach den mir gemachten Mitteilungen ist Lücke seit mehreren Jahren dem Trunke ergeben. Ich habe selbst den L. … in seiner Wohnung sinnlos betrunken gesehen. Er ist … nicht nur für seine Familie sondern auch für die Nachbarschaft in höchstem Maße belästigend. – L. hat m. W. einige Male Entziehungskuren durchgemacht, ohne Erfolg. – Neigung zu Gewalttaten gegenüber Personen und Sachen.“[16] Hier urteilt der Arzt schärfer als die Polizeiverwaltung, die am 8.5. feststellt: „Lücke ist ein notorischer Trinker und Verschwender. Für die Öffentlichkeit bildete derselbe jedoch bisher keine Gefahr.“[17]

Polizeiliche Einschätzung von Max Lücke

(11) Polizeiliches Urteil über Max Lücke, 1925

Am 15. Juni wird Lücke „wegen Trunksucht“ entmündigt. Franz Schebben, pensionierter Büro-Oberinspektor, wird zum Vormund ernannt. Der Arzt notiert: „Arbeitet fleißig in den Werkstätten, hat er irgendeinen Wunsch, so bringt er den in sehr anmaßendem Ton an, ist völlig uneinsichtig für seine Lage und sein Verhalten.“[18] Von einigen Ausgängen kommt er betrunken zurück bzw. der Vater und der Vormund berichten, dass er sich betrunken habe. Ende Februar 1926 wird er auf Bitten des Vormunds wieder „gebessert entlassen“. Seine Ehe wird geschieden, im März zieht Anna Lücke zurück nach Köln-Ehrenfeld. Mitte April lässt der Vormund Max Lücke wieder in die Anstalt bringen. Anfang Juli wird er in die Alkoholerziehungsanstalt Heidhausen überführt. Es kann sich um das St. Kamillushaus, Essen-Heidhausen gehandelt haben – heute noch eine katholische Suchtklinik. Von dort wird er am 30.10.1926 entlassen.[19]

St. Kamillus

(12) Das St. Kamillushaus in Essen Heidhausen

Vor der Überführung Anfang Juli aus der Anstalt ins Kamillushaus überwiegen positive ärztliche Einschätzungen wie „hält sich gut, fleißig, geordnet“.[20] Und noch einmal schafft Max Lücke für zweieinhalb Jahre ein Leben außerhalb der Anstalt.

1929: Wieder eingeliefert, diesmal auf Dauer

Am 12. August 1929 wird Max Lücke wieder in die Anstalt eingewiesen. Der aufnehmende Arzt notiert: „Vormund gibt an, dass Patient wieder völlig in seinen alten unsoliden Lebenswandel gefallen sei. Trinke 2–3 Tage, schlafe 1 Tag, arbeite 1–2 Tage. Bedrohe Vater und Haushälterin, skandaliere nachts. Ruiniere das väterliche Geschäft. Vater gibt an, dass er vorige Woche Sonntag bis Dienstag getrunken und bis Sonnabend zu Bett gelegen habe. Gibt selbst zu, getrunken zu haben, schiebt aber die Schuld auf andere.“[21]

Das amtliche Dringlichkeitsattest, dass Lücke in die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen werden müsse, weil er „sich und seine Angehörigen“ gefährde, stellt die Fürsorgestelle für Nerven- und Gemütskranke in Bonn aus, unterschrieben von Dr. Koester, Oberarzt. Diese Stelle befindet sich in der Anstalt.[22]

Anfang 1930 startet Max Lücke einen Versuch, aus der Anstalt rauszukommen, indem er den Oberarzt Dr. Recktenfeld bittet, ihn bei der Suche nach einem Job in der Basaltindustrie zu unterstützen. In diesem Schreiben belegt er eindrucksvoll seine Fachkenntnis. Er sei „seit 1894 in der Basalt-Steinbruch-Branche tätig (…) mit der ganzen Materie dieser Branche wie Aufschluss und Einrichtung der Steinbrüche, Produktion sämtlicher Materialsorten, Lohn-, Krankenkassen-, Inval.-Versicherungs-, Berufsgenossenschafts- und Steuerwesen, (...) doppelter Amerikanischer Buchführung mit Abschluss und Bilanzaufstellung, Kalkulations-, Offerten- und Submissionswesen (…) Verkehr mit den Behörden sowie auch durch mein langjähriges Bereisen der Absatzgebiete in Rheinland und Westfalen mit der in Frage kommenden Kundschaft, Behörden und Unternehmer bestens vertraut“.[23]

Max Lücke

(13) Das einzige Foto von Max Lücke, Jahr unbekannt

Oberarzt Dr. Koester lehnt ab: „Vorläufig bedarf Lücke der Anstaltsbehandlung. Wenn Lücke unter Aufsicht gehalten werden kann, wäre er für eine solche Stelle recht geeignet, da er nach übereinstimmenden Aussagen des Vormunds, der Verwandten und auch nach den mir früher zugängig gemachten … in seinem Geschäft – Steinbruchbetrieb – sehr tüchtig gewesen ist. Auch hier ist er auf dem Verwaltungsbüro zur Zufriedenheit tätig.“[24] Im Mai wird er dann doch entlassen, wieder ins Kamillushaus in Heidhausen zu einer „Nachkur“. Aber schon gut einen Monat später kommt er (diesmal freiwillig?) zurück, der behandelnde Arzt trägt ein, „es ginge draußen nicht. Möchte gleich wieder auf dem Verwaltungsbüro arbeiten“.[25]

Der Trinker

(14) Diesmal auf Dauer: Der „Trinker“ landet wieder in der Anstalt.

Die Anstalt wird nun zu seinem dauernden Aufenthaltsort – nur von gelegentlichen Ausgängen unterbrochen. Mitte 1931 versucht Lücke über einen Anwalt, seine Entmündigung aufheben zu lassen, indem er dem – wohl schon recht alten – Vormund Schebben vorwirft, sich nicht ausreichend um ihn gekümmert zu haben. Ohne Erfolg. Zu dieser Zeit zieht sein Vater, mittlerweile 83-jährig, nach Römlinghoven.

Als er sich einmal eigenmächtig selbst beurlaubt, ohne den Stationsarzt zu fragen, soll ihm die Arbeit im Verwaltungsbüro der Anstalt entzogen werden, die wohl als Vergünstigung verstanden wird. Aber das Verwaltungsbüro setzt durch, dass er wegen der vielen Arbeit sofort wieder dort eingesetzt wird.[26]

Er ist immer wieder mal bei seinem Vater, um ihn bei der Arbeit zu unterstützen. Von einem dieser Ausflüge wird er im Jahr 1932 von zwei Pflegern zurückgeholt, weil er im Hotel Rheinau in Mehlem seine Zeche nicht bezahlen kann. Der betroffene Oberkellner, der die Schuld aus seiner eigenen Tasche vorstreckt, muss anschließend sechs Wochen um die Rückerstattung kämpfen.[27]

Quittung 1 

(15) Wichtig genug für die Krankenakte: Die geprellte Zeche von 3 Mark (Vorder- und Rückseite)

Zwischen November 1933 und März 1934 gelingt es Max Lücke nochmal, der Anstalt für ein paar Monate zu entkommen. Aber wieder zeigen ihn die Nachbarn wegen Ruhestörung an, woraufhin er freiwillig zurück in der Anstalt erscheint. Seine Geschäfte betreibt er – notgedrungen - von der Anstalt aus. Mal will er Kleiderstoffe vertreiben, ein anderes Mal bestellt er für 9 Mark Ware in einer Zigarrenfabrik: „Gab sich allem Anschein nach als Vertreter der Anstalt aus“.[28] Ein Urlaubsantrag des Vormunds wird deswegen abgelehnt. 1934 bestehen gegen ihn Forderungen in Höhe von 1470 Mark plus Zinsen.[29]

„Lücke ist ein haltloser Trinker“

1935 versucht der Vater, in einem vermutlich von Max Lücke selbst verfassten Brief, beim Landeshauptmann eine angemessene Entlohnung durchzusetzen für die Arbeit im Verwaltungsbüro der Anstalt. Die Antwortnotiz vom 15.5.1935 ist deutlich: „Lücke ist ein haltloser Trinker, der anstaltspflegebedürftig ist. Zahlreiche Entlassungsversuche sind missglückt, er wurde immer wieder rückfällig. L. beschäftigt sich hier auf dem Verwaltungsbüro und arbeitet fleißig und ordentlich. Die Behauptung des Vaters, dass er einen guten Angestellten voll ersetze, ist allerdings übertrieben. L. erhält als Anerkennung seiner Tätigkeit Tabak und auch sonstige Zuwendungen. Ostern bekam er einen neuen Anzug. Es ist aber unmöglich, allen Kranken, die fleißig arbeiten, geldliche Entschädigung zu geben, da hierfür die Mittel nicht da sind.“[30] Die Anstalt gibt hier ziemlich unumwunden zu, dass Lücke gute Arbeit leistet. Und sieht sich völlig im Recht, ihn dafür mit Tabak und einem neuen Anzug zu „entlohnen“.

(15) Geld und Alkohol: Seiner Selbstsicht des erfolgreichen Kaufmanns entsprechend hantierte Max Lücke gern mit großen Summen, die allerdings seiner Anstaltsrealität und der dazugehörenden Geldknappheit nicht entsprachen.

Zwangssterilisation 1934: „schwerer Alkoholismus, bei haltlosem Psychopathen“

Mittlerweile hatten die Nazis die Macht in Deutschland übernommen. Am 1. Januar 1934 tritt das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses in Kraft, auf dessen Grundlage körperlich Behinderte sowie psychisch oder Alkoholkranke zwangsterilisiert werden konnten. Max Lücke ist einer von insgesamt ca. 400.000 Menschen[31], die so misshandelt wurden. In der Krankenakte liest sich das ganz profan: Antrag gestellt, Termin vor Gericht, Bescheid, Kostenübernahme, Aufenthalt in der chirurgischen Klinik, und schließlich: „Operationswunden sind p.p. verheilt, wird wieder mit Büroarbeit beschäftigt, die er zur Zufriedenheit ausführt“[32].

Gutachten Erbgesundheitsgesetz

(16) Abschrift des „ärztlichen Gutachtens“ von Oberarzt Dr. Geller, auf dessen Grundlage Max Lücke zwangssterilisiert wird.

Die ärztlichen Einträge aus dieser Zeit vermitteln den Eindruck von Routine – auf ihrer Seite und auf Seiten des Patienten. Sie sind zufrieden mit seiner Arbeit, er erlaubt sich gelegentlich, vom Urlaub verspätet zurück zu kommen, und übertüncht den Geruch von Alkohol mit dem Kauen von Kaffeebohnen, wie er selbst dem Arzt erzählt.[33]

… beurlaubt, um das Geschäft des verstorbenen Vaters „wieder aufzurichten“

Dass Max Lücke aber weiterhin dem Leben als Entmündigter in einer Anstalt entfliehen will, zeigt ein neuerlicher „Ausbruchsversuch“. Im August 1937 gelingt es ihn, eine Beurlaubung zu erreichen, nachdem die Schwester ihn anfordert, um das Geschäft des vor einem Jahr gestorbenen gemeinsamen Vaters zu reaktivieren. Sieben Monate hält er durch.

Es ist schwer, nach den Aufzeichnungen zu entscheiden, ob die Familie ihn als billige Arbeitskraft ausgenutzt, möglicherweise sogar privat schikaniert hat und ihn dann einfach wieder loswerden wollte. Jedenfalls klingt der ausführliche Bericht von Lückes Schwager deutlich nach einem schlechten Gewissen.

Lücke selbst sagt gegenüber dem Arzt nach der Wiederaufnahme, dass er wieder angefangen habe zu trinken, weil man ihn nicht habe arbeiten lassen und dass der Neffe nichts geleistet hätte. Max Lücke wohnte zunächst im Haus der Schwiegereltern seines Neffen. Dessen Vater, Lückes Schwager Emil Treuge, Regierungsdirektor im Ruhestand, bestätigt, das man Lücke den Aufenthalt dort „nach besten Kräften verekelt und ihm schließlich die Tür gewiesen hat“[34]. Und er schreibt: „Mein Schwager hat in den Monaten seines Hierseins fleißig gearbeitet, in dieser Hinsicht verdient er ein uneingeschränktes Lob, aber wenn er Geld in die Finger bekam, fiel er in seinen alten Fehler bisher zurück. Das ist einige Male passiert, das Geld dazu verschaffte er sich durch seine Tuchvertretung, die Provision ließ er sich zuletzt an die Adresse einer hiesigen Wirtschaft schicken, um uns in Unkenntnis zu lassen, wir konnten also diese Rückfälle nicht verhindern.“

Treuge will die Verantwortung in Zukunft nicht mehr übernehmen und findet dafür eine originelle Begründung: „Die Arbeit meines Schwagers verdient eine bessere Entschädigung, als nur die Gewährung eines freien Unterhalts, mein Sohn kann ihm vorläufig noch kein entsprechendes Gehalt zahlen.“[35] Ein Quartier woanders „wäre für alle Beteiligten zu gefährlich“ - und bei ihm könne er nicht länger wohnen, weil seine Söhne den Platz benötigten. Max Lücke sei ein „liebenswerter Hausgenosse, stets gefällig und hilfsbereit“[36], er habe sein negatives Urteil über ihn relativiert. Lücke solle deshalb wieder in die Anstalt aufgenommen werden, in das selbe Büro. Soll es wieder so gut wie vorher haben, denn er sei ja auf Wunsch seines Sohnes weggegangen. Die Arztnotizen geben Lückes Einschätzung so wieder: Er habe dort nicht mehr wohnen können, der Verdienst sei gering gewesen, so dass er lieber hier (in der Anstalt) in geordneten Verhältnissen lebe. Und urteilen, „dass ihm der Anstaltsaufenthalt seinen mangelnden inneren Halt ersetzt“.[37]

In den folgenden Jahren versucht Max Lücke immer wieder, Arbeit zu finden, um aus der Anstalt raus zu kommen, unterstützt von seiner Schwester in Münster. Und da mittlerweile Krieg ist, möchte auch das Arbeitsamt den Kaufmann Lücke lieber zur Büroarbeit in einem kriegswichtigen Betrieb einsetzen.

Die Anstalt wehrt sich lange gegen die Entlassung. Provinzialmedizinalrat Dr. Gierlich schreibt 1943: „Eine Bemündigung des Max Lücke kann nicht befürwortet werden. Die langjährige Erfahrung mit Lücke hat gezeigt, dass er sich ohne den Schutz eines Vormundes nicht zu halten vermag. Im Rahmen der geschlossenen Anstalt ist er ein brauchbarer Arbeiter. Außerhalb der Anstalt kommt es immer wieder zu Entgleisungen. Primär ist L. - wie fast alle Trinker – ein willensschwacher, kritikschwacher und einsichtsloser Psychopath. Auf dieser Basis hat sich der Alkoholismus entwickelt. Im vorliegenden wäre eine Entmündigung wegen Geistesschwäche sinnvoller als eine solche wegen Alkoholismus gewesen.[38] Auch im Ton ist diese Notiz deutlich aggressiver als frühere Eintragungen. Und wie passt die unterstellte Geistesschwäche mit der positiven Beurteilung seiner Büroarbeit zusammen?

Der Chef der Anstalt, Obermedizinalrat Dr. Geller, urteilt 1944 in einem Gespräch mit dem Amtsgerichtsrat Schneider, Lücke „sei ...ein so geschickter, gerissener und haltloser Mensch, dass er eine Gefahr für die Umwelt bilde“. Trotzdem wolle sich Geller den Fall nochmal überlegen und vielleicht versuchen, ihn probeweise irgendwo unterzubringen.

Und dann geht alles ganz schnell: Eine Woche später, am 12.5.1944 wird Max Lücke endgültig entlassen, zu einer Arbeitsstelle nach Brohl am Rhein, zu Jakob Wihl.[39] Damit verliert sich seine Spur...

Die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt

Dr. Josef Geller leitete während des Krieges die Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt, in Vertretung für den eigentlichen Chef Kurt Pohlisch, der in der Wehrmacht war. Er behauptete nach dem Krieg, er habe die T4-Aktion zur Tötung von Behinderten boykottiert und durch sein Bleiben „viele Menschenleben retten“ können. Andererseits zeigt er in Bezug auf die Zwangssterilisation nach dem Krieg 1945 keinerlei Schuldbewusstsein: „... ein wohlbegründetes und eugenisch wichtiges Gesetz, das der Volkswohlfahrt dient. Es wäre bedauerlich, wenn es aufgehoben würde.“[40]

Dr. Walter Gierlich war seit 1936 in der Anstalt tätig, zuletzt als Provinzialmedizinalrat. Auch er behauptete nach dem Krieg, Angehörige von Patienten vor T4 gewarnt und so Leben gerettet zu haben. Andererseits sagten ehemalige Patienten über ihn aus: „Gierlich ließ Patienten gerne ,stramm stehen‘ und legte Wert auf den Hitlergruß.“[41]

Die Bonner Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt unterschied sich nicht von anderen Kliniken dieser Art, sie war im Wesentlichen eine Aufbewahrungsanstalt. Wer dazu in der Lage war, sollte arbeiten. Das galt z. B. bei Alkoholikern bereits als ausreichende Therapie. In der Nazizeit spitzte sich die Ausgrenzung von Behinderten und psychisch oder Alkoholkranken weiter zu. Die Nazis betrachteten sie als „unwertes“ Leben, das allenfalls zu erhalten war, wenn die Kranken sich durch entsprechende Arbeitsleistung nützlich machten.

Lageplan Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bonn 1928

(17) Lageplan der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Bonn aus dem Jahr 1928. Die Männer waren in dem auf dem Plan unten quer liegenden Gebäude untergebracht.

Die Anstalt war eine Art Großbetrieb, mit eigenen landwirtschaftlichen Flächen und Produktionsstätten. 1938 arbeiteten 80% der Patienten in der Landwirtschaft, im Heizkraftwerk oder in der Küche oder sie stellten Korb-,Bast- und Kartonagewaren her. Der Altersdurchschnitt war hoch. 65% der Patienten waren über 60 Jahre alt.[42] Trotzdem mussten sie den Unterhalt der Klinik mit erwirtschaften, ohne dafür angemessen entlohnt zu werden. Ende der 1930er Jahre und im Krieg gab es 11, maximal 14 Ärzte, die für 16 Stationen und ca. 1000 Patienten zuständig waren.[43]

Die Essensrationen orientierten sich, besonders seit Kriegsbeginn, an der Arbeitsleistung, und damit am Wert der Patienten. 1942 lag der Beköstigungssatz mit 0,48 RM pro Patienten und Tag noch 12 Pfennig unter dem Satz für KZ-Häftlinge[44] (die wohl kaum jemals den ihnen „zustehenden“ Satz erhielten). Und gegen Kriegsende ließ man alte, demente Patienten und Pflegefälle einfach verhungern...[45]

Die Alkoholkranken machten mit ca. 5% der Patienten die kleinste Gruppe aus. Man versuchte, sie in Trinkerheilanstalten, in der NS-Zeit auch in Arbeitslager und Konzentrationslager abzuschieben.[46] Eine medizinische Behandlung bzw. einen Entzug mit entsprechender psychotherapeutischer Begleitung gab es nicht. Wurde Max Lücke nur deshalb 22 Jahre in der Klinik behalten, weil er eine (relativ) zuverlässige und billige Arbeitskraft war?

(18) Die Familienüberlieferung ist eindimensional

War Max Lücke ein Hochstapler?

Max Lücke lebte 22 Jahre überwiegend in der Anstalt. Er musste seine Nächte in einem Schlafsaal mit vielen Männern zusammen verbringen, ohne Möglichkeit auf Privatleben. Er wurde zwangssterilisiert und entging nur mit Glück der sogenannten T-4-Aktion der Nazis, in der 700.000 Menschen als „unwertes Leben“ ermordet wurden. Er arbeitete ohne Entgelt in der Anstaltsverwaltung, erhielt vermutlich schlechtes Essen und möglicherweise musste sogar sein Vater für seinen Unterhalt aufkommen.

War Max Lücke also ein Hochstapler? Nein. Ein Hochstapler ist ein Mensch, der sich anderen gegenüber als bedeutender ausgibt, als er ist, in der Regel, um dadurch einen Vorteil zu erlangen. Das hat Max Lücke nicht getan. Wenn er andere getäuscht oder – wie im Fall seiner Frau, von der vermutlich der Begriff überliefert ist – enttäuscht hat, so, weil sie in ihm etwas gesehen haben, was er nicht erfüllen konnte.

Max Lücke war intelligent, von schneller Auffassungsgabe und redegewandt – auch die Anstaltsärzte attestierten ihm, „schnellfassend“ zu sein und „flott und richtig“ rechnen zu können.[47] Aber er konnte vermutlich im Alltag diese Qualität nicht halten, besonders nicht, wenn er sich von einem Partner oder Kollegen kontrolliert fühlte. Unter diesem Druck trank er.

Meine Familie hat also ein hartes Urteil über diesen Menschen aufbewahrt, dem ich nun über seine Krankenakte ein bisschen näher gekommen bin. Und was ich da lese, lässt ihn insgesamt eher als Opfer erscheinen. Auch wenn er seine Frau Anna zu einem Single-Leben zwang, nachdem er als Ehemann die Erwartungen der bürgerlichen Familie nicht erfüllen konnte.

Vielleicht war er ein Kotzbrocken, überheblich und uneinsichtig, wie ihn die Arztnotizen schildern. Aber meine Sympathie hat er, weil er in diesem gnadenlosen Umfeld von Anstalt, Entmündigung, Stigmatisierung und Todesbedrohung in der Nazizeit überlebt hat. Sich sein Recht genommen hat, indem er mangels eigenen Geldes Zigarren auf Kosten der Anstalt bestellte, das Fahrgeld vertrank, um sich dann auf Anstaltskosten abholen zu lassen oder sich selbst beurlaubte, so dass die Ärzte ihm häufig das Prädikat „uneinsichtig“, „oben auf“ oder „arrogant“ anhefteten.

Ich sage „Prost, Max!“ und trinke einen auf den Anstaltsprofi Max Lücke und seine unglückliche Ehefrau Anna – und behalte den Ehering am Finger.

 

Bildnachweis

(1) Angela Jansen

(2) Byung Ho Kim: Die Entstehung der Pensionsversicherung für die Angestellten in Österreich mit ihrem Einfluss auf Deutschland und ihre historische Bedeutung, Wien 2010, S. 372

(3) Privatarchiv Angela Jansen

(4) Privatarchiv Angela Jansen

(5) Stadtarchiv Königswinter, Abt. XIII, Section I, No. 7a, Fach 70

(6) Jan Ludwig, Basaltabbau im Siebengebirge, 9. Band der Bandreihe „Königswinter in Geschichte und Gegenwart“, Königswinter 2006, S. 15

(7) Adressbuch der Stadt Bonn 1922, http://digitale-sammlungen.ulb.uni-bonn.de, abgerufen am 13.2.2019

(8) Stadtarchiv Bonn

(9) Infografik Angela Jansen, Quelle: LVR-Klinikverbund Bonn, zentrales Archiv, Krankenakte Max Lücke

(10) Illustration Angela Jansen

(11) LVR-Klinikverbund Bonn, zentrales Archiv, Krankenakte Max Lücke, S. 27

(12) http://www.heimkinder-ueberlebende.org/Buchempfehlung-von-M.Steven-auf-Seite-14bis17-in-Magazin-KAMILLUS-HAUS-ESSEN,-1.Ausgabe-2007-re-SPIEGEL-Buch_-_Schlaege-im-Namen-des-Herrn,-Peter-WENSIERSKI.html „Das St. Kamillushaus war während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine geschlossene Einrichtung, wo das Motto "Arbeite und Bete"
auf der Tagesordnung stand und den Alltag der Insassen prägte und bestimmte.“
abgerufen 9.3.2019

(13) LVR-Klinikverbund Bonn, zentrales Archiv, Krankenakte Max Lücke, S. 144

(14) LVR-Klinikverbund Bonn, zentrales Archiv, Krankenakte Max Lücke, S. 202

(15) Illustration Angela Jansen

(16) LVR-Klinikverbund Bonn, zentrales Archiv, Krankenakte Max Lücke, S. 149

(17) Raimund Hillebrand, Untersuchung zu den Todesfällen in der Rheinischen Provinzial-Heil- und Pflege-Anstalt Bonn in den Jahren 1933-1945, Bonn, 2002, S. 27

(18) Illustration Angela Jansen

 

Anmerkungen

1 LVR-Klinikverbund Bonn, zentrales Archiv, Krankenakte Max Lücke, S. 149.

2 Jan Ludwig, Basaltabbau im Siebengebirge, 9. Band der Bandreihe „Königswinter in Geschichte und Gegenwart“, Königswinter 2006, S. 26.

3 a.a.O., S. 26.

5 Winfried Biesing, Der Kampf um die Rettung des Siebengebirges im 19. Jahrhundert, in: Oberkasseler Zeitung, Nr. 3, 19. Juni 1987, S. 6f.

6 Jan Ludwig, Basaltabbau im Siebengebirge, 9. Band der Bandreihe „Königswinter in Geschichte und Gegenwart“, Königswinter 2006, S. 74.

7 Stadtarchiv Bonn, Meldekarte Max Lücke.

8 LVR-Klinikverbund Bonn, zentrales Archiv, Krankenakte Max Lücke.

9 Im Original „Buck“, aber korrekt ist Bock.

10 LVR-Klinikverbund Bonn, zentrales Archiv, Krankenakte Max Lücke, S. 154.

11 a.a.O., S. 151.

12 a.a.O., S. 192.

13 a.a.O., S. 192.

14 a.a.O., S. 182ff.

15 a.a.O. S. 193.

16 a.a.O., S. 30f.

17 a.a.O., S. 27.

18 a.a.O., S. 194.

19 a.a.O., S. 195.

20 a.a.O., S. 195.

21 a.a.O., S. 196.

22 a.a.O., S. 37.

23 a.a.O., S. 198.

24 a.a.O., S. 199.

25 a.a.O., S. 200.

26 a.a.O., S. 202.

27 a.a.O., S. 62.

28 a.a.O., S. 204.

29 a.a.O., S. 206.

30 a.a.O. S. 95.

32 a.a.O., S. 207f.

33 a.a.O., S. 209.

34 a.a.O., S. 107f.

35 a.a.O., S. 107f.

36 a.a.O., S. 107f.

37 a.a.O., S. 218.

38 a.a.O., S. 131.

39 a.a.O., S. 132ff.

40 Ralf Forsbach, Die medizinische Fakultät der Universität Bonn im "Dritten Reich", München 2006, S. 498 und 524.

41 a.a.O., S.123.

42 Raimund Hillebrand, Untersuchung zu den Todesfällen in der Rheinischen Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in den Jahren 1933-1945, Bonn 2002, S. 40.

43 a.a.O., S. 39.

44 a.a.O., S. 42f.

45 a.a.O., S. 56.

46 a.a.O., S. 55.

47 LVR-Klinikverbund Bonn, zentrales Archiv, Krankenakte Max Lücke, S. 24f.

 

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