Der Wandervogel

Ernst Riggert 1902 - 1977

Text: Christian Gotthardt
Veröffentlicht: Januar 2015

(1) Ernst Riggert um 1965

Harburg in den 1920er Jahren – das war eine Reformschmiede, trotz aller wirtschaftlichen Probleme. Die solide Majorität der Linken eröffnete Spielräume der Gestaltung. Das zog helle Köpfe an, vor allem aus dem Spektrum der Sozialdemokratie und der sozialistischen Linken. Einer von ihnen war der Volksschullehrer und Gewerkschafter Ernst Riggert. Ihn interessierte das Harburger Experiment der Freien Weltlichen Schulen. 1933 rettete er sich vor den Nazis ins Exil. 1940 im besetzten Dänemark eingefangen, wurde er nach Zuchthaus und KZ in Hamburg in den 1950er Jahren zum Kalten Krieger.

Christoph Ernst Riggert wurde am 1.11.1902 in Kutenholz bei Stade geboren. Sein Vater, ein Berufssoldat, fiel 1917. Der Sohn, Ältester der insgesamt fünf Kinder, fand in der Wandervogel-Bewegung eine neue Familie. Von 1914 bis 1920 war er ihr Mitglied. Vom Jugendbewegten und Jugendführer zum Junglehrer einer „Präparandenanstalt“ – so hießen damals die nichtakademischen Volksschullehrer-Ausbildungsstätten - war der nächste, logische Schritt. Hier lernte er bis 1923. Als frischgebackener Lehrer entlassen, trafen Riggert die Wirtschaftskrise und die „Lehrernot“ mit voller Wucht. Arbeitslos, heimatlos, auf der Jagd nach Existenzmöglichkeiten war er bis 1928 in ganz Deutschland unterwegs.

 

Volkslehrer aus Berufung

Sein großer Idealismus, den er im Beruf noch kaum fruchtbar machen konnte, brach sich publizistisch Bahn. Riggert wurde, im Rahmen der gewerkschaftlichen Volksschullehrerbewegung und ihr nahestehender Organe, zum reformpädagogischen Autor. 1922 war er der „Allgemeinen Freien Lehrergewerkschaft Deutschlands“ beigetreten, einer kleinen, deutlich politischen Organisation links der klassischen Standesorganisation der Volksschullehrer, dem schon seit der Kaiserzeit bestehenden „Deutschen Lehrer Verein“ (DLV). 1927 folgte die Mitgliedschaft in der SPD und die Mitarbeit im Bundesausschuss der Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Lehrerinnen und Lehrer.

Sein publizistischer Erstling erschien 1926, ein kleiner Erfahrungsbericht „Aus der Praxis des Wanderunterrichts. Schule und Alkoholfrage“, in dem er die Auswirkungen familiären Alkoholmissbrauchs auf die Schulleistungen der Kinder insbesondere im ländlichen Raum schilderte. Auch die literarisch-autobiographische Broschüre „Wanderpapiere eines Junglehrers“, erschienen 1928, streifte dieses Thema. Riggert wählte für seine ersten Veröffentlichungen zumeist das Pseudonym Roamer, wohl um seine Chancen auf Einstellung nicht unnötig zu schmälern.

 

 (2) Publikation 1928

1929 besserte sich seine Lage. Er trat als „nicht endgültig angestellte wissenschaftliche Lehrkraft“, so sein amtlicher Status, in das Kollegium der Freien Weltlichen Schule Harburg ein,[1] einer 1924 gegründeten, nicht-konfessionellen Reformschule, die sich als „Sammelschule“ vor allem den Harburger Arbeiterfamilien als Alternative zum Drill der lutherischen Volkschulen anbot.[2] Er war im Kollegium der für Heimfeld/ Eißendorf ausgegründeten Filiale tätig, zunächst im Gebäude Woellmerstraße 1, dann seit 1931 Eißendorferstraße 26.[3] Die Kommune mied die Ausweisung fester Planstellen gemäß des Bedarfs. Riggert hatte zwar nun eine relativ sichere Arbeit, weil er gebraucht wurde. Er stand aber erst am Ende einer langen Warteliste und hatte keine berechenbare Aussicht auf Festanstellung.[4]

Umso engagierter widmete er sich der Gewerkschaftsarbeit. Er wurde  gleich 1929 Leiter der Ortsgruppe der Allgemeinen Freien Lehrergewerkschaft Deutschlands,1930 zudem Chefredakteur der reichsweit vertriebenen Zeitschrift seiner Gewerkschaft „Der Volkslehrer“[5], die er bis 1933 von Harburg aus herausgab. Sie wurde in der Druckerei des Harburger Volksblattes gedruckt. Als Chefredakteur war er auch Mitglied im Geschäftsführenden Vorstand der Lehrergewerkschaft. Eine ähnliche Zeitschrift war übrigens schon einmal in Harburg herausgegeben worden, und zwar 1919/20, damals mit dem Titel „Niedersächsische Junglehrer-Zeitung, Monatsschau des Jung-Lehrer-Verbandes der Provinz Hannover“. Herausgeber war der Harburger Lehrer Otto Maas gewesen, Kommunist, später Sozialdemokrat, und 1930 Kollege und vom Kollegium gewählter Chef an Riggerts Schule.[6]

In politischer Hinsicht nahm Riggert starken Anteil an der kommunalen Aktivität der örtlichen SPD. Er schrieb für die SPD-Blätter "Volksblatt für Harburg-Wilhelmsburg und Umgebung" und "Hamburger Echo" pointierte Feuilletons und Glossen, meist zu sozialen Themen, hielt Schulungskurse für die SAJ-Gruppen ab und bestritt Wahlkampfveranstaltungen. Sein Ton war stets besonders ernsthaft, sensibel und intellektuell fordernd. Auch verzichtete er fast ganz auf die in der SPD-Propaganda sonst üblichen groben Tritte gegen diie KPD. Dabei blieb er resolut der Parteilinie verpflichtet, in der großen, durch die Abspaltung der linken SAP hervorgerufenen Parteikrise im Herbst 1931 trat er nicht hervor.

In seiner überörtlichen Gewerkschaftspublizistik nahm Riggert allerdings seit 1930  immer deutlicher linkssozialistische Positionen ein, was vor allem von der anwachsenden faschistischen Bedrohung veranlasst war. 1931 setzte er sich mit der Nazi-Pädagogik auseinander und warnte vor der Anfälligkeit gerade der Volksschullehrer für dieses ideologische Angebot. 1932 forderte er in seiner Zeitschrift eine antifaschistische Initiative auch in allgemeinpolitischer Hinsicht. Sein Aufruf an SPD und KPD zu einer entsprechenden Kooperation folgte dabei vollständig der Linie des „Dringenden Appells“, den Anhänger des Internationalen Sozialistischen Kampfbundes (ISK) und bekannte Pazifisten und Intellektuelle wie Heinrich Mann, Käthe Kollwitz, Walter Hammer und Albert Einstein in selben Jahr veröffentlichten.

 

(3) Signet des ISK 1932: Es fordert die Einheit von Antifaschistischer Aktion (Fahnen; KPD-dominiert) und Eiserner Front (Pfeile; SPD-dominiert)

Riggert war zu diesem Zeitpunkt noch immer Mitglied der SPD. Weltanschaulich war er – wie seine Sammelschul-Kollegen Wilhelm Hinrichs und Karoline Querfurth – wohl ein ISK-Anhänger.[7] Politische Kontakte zur KPD sind denkbar. Der Kommunist Heinrich Callsen war sein Kollege in der Schule Eißendorfer Straße, und er selbst wohnte in der Hoppenstedtstraße in einem ausgeprägten KPD-Umfeld, mit dem höchsten der Harburger Parteifunktionäre, dem damaligen Leiter des Harburg-Wilhelmsburger KPD-Unterbezirks Emil Thedorf, als Treppenhausnachbarn.

 

Ins Exil

Von der Nazipolizei wurde er jedenfalls verfolgt wie sonst die Kommunisten. Sie nahm ihn zwischen Februar und Oktober 1933 mehrfach in Haft. Seine Zeitschrift war verboten, seine Lehrerstelle hatte er jetzt aus politischen Gründen verloren. Es gelang ihm die Flucht über das Saargebiet nach Straßburg. Dort fand er Unterstützung durch die französische Lehrergewerkschaft. Er veröffentlichte Artikel in schweizerischen, österreichischen und holländischen Gewerkschaftsblättern, bediente aber auch bürgerliche Zeitungen mit unpolitischen Artikeln über kulturelle Themen. Zeitweilig lebte er in der Schweiz.

Dann bekam er vom Internationalen Gewerkschaftsbund (IGB) mit Sitz in Amsterdam den Aufreag, dessen Lehrersparte aufzubauen. Riggerts Gewerkschaft hatte dem IGB  schon vor 1933 angehört. In dem neuen „Internationalen Berufssekretariat für Lehrer“ (IBSL) operierte er wiederum in einem Wandervogel-, SAP und ISK-Umfeld. 1934 gründete er gemeinsam mit Heinrich Rodenstein, Artur Egon Bratu und Hellmut von Bracken den beim IBSL angegliederten „Verband der deutschen Lehreremigranten“. Riggert fungierte als dessen Vorsitzender und war in seinen Publikationen verantwortlich für Nachrichten aus Deutschland.[8]

 

(4) Bratu in den 1930ern (5) Rodenstein 1934 im Saarland

Ende September 1935 reiste Riggert über Dünkirchen nach Kopenhagen, wohin es ebenfalls viele seiner Freunde und Kollegen aus der Jugendbewegung und der norddeutschen Reformpädagogik verschlagen hatte. Er hielt sich zunächst als Sprachlehrer für Berlitz über Wasser, arbeitete dann als Nachrichtenredakteur und –übersetzer für den dänischen Rundfunk. Seinen Aufgaben im Verband der Lehreremigranten kam er weiterhin nach. Sein politisches Engagement galt darüber hinaus der Organisation und Selbstverständigung der Emigranten vor Ort.

So wirkte er ab Ende 1936 in der Selbstverwaltung eines Emigrantentreffpunks in der Innenstadt Kopenhagens mit, der von liberalen dänischen Spendern unterhalten wurde. Mitstreiter waren hierbei der Hamburger Literaturwissenschaftler Walter A. Berendsohn und der Hamburger Linkssozialist Otto Piehl.[9]

Das politische Spektrum der Emigration war breit und kaum einhellig, Debatten fielen schwer, zumal der Treff ausdrücklich kein politischer Club sein durfte. Auch war der Ort einigen Emigrantenorganisationen und Hilfsorganisationen nicht geheuer, da sie seine aktive Verstrickung in Widerstandshandlungen oder seine Unterwanderung durch deutsche Spitzel fürchteten. Man muss hier bedenken, dass sich in diesen Jahren die Abschnittsleitung Nord der illegalen KPD in Kopenhagen befand, die sämtliche Kuriere und Kontakte nach Flensburg, Kiel, Lübeck, Hamburg und Rostock organisierte. Seit 1937 arbeitete die Hamburger Gestapo fieberhaft daran, in dieses Netz einzudringen und es aufzurollen. 1941 sollte es ihr gelingen.[10]

Riggert fand Unterkunft im Kopenhagener Stadtteil Amager, Bremensgade 11. Seine engsten Vertrauten in dieser Zeit waren wiederum ehemalige Jugendbewegte – Walter Hammer, der im Wandervogel gewesen war, in Hamburg die Zeitschrift „Junge Menschen“ herausgegeben hatte und seit 1934 in Dänemark lebte, und der Mitorganisator des Emigrantentreffpunkts Otto Piehl.

 

 

(6) Otto Piehl 1932 (7) Walter Hammer in Kopenhagen 1938

Im April 1940 besetzte die deutsche Wehrmacht Dänemark. Die Besatzer ließen die dänische Regierung im Amt und wiesen ihr faktisch den Status einer Protektoratsverwaltung zu. Walter Hammer war einer der ersten, die nun von der dänischen Polizei verhaftet und nach Deutschland abgeschoben wurden. Er kam in das KZ Sachsenhausen und später ins Zuchthaus Brandenburg. Riggert traf es am 26. Juli 1940, er gehörte zu den 80 deutschen Emigranten, die zunächst in das dänische Internierungslager Horseröd verbracht wurden.

Laut Gefängnisakten im Staatsarchiv Kopenhagen, aus denen die dänischen Autoren Larsen und Clausen zitieren, war Riggert ein ruheloser und unbequemer Gefangener. Es ging ihm besonders um Möglichkeiten aktueller Zeitungslektüre. Er mobilisierte die Unterstützung des sozialdemokratischen Journalisten und Parlamentariers H.P. Sörensen, der ihn besuchte und mit Zeitungen versorgte. Gegenüber der Polizei machte Riggert stets klar, dass er in Dänemark bleiben wolle, da er nicht wisse, welchen Status er in Deutschland hätte. In den Akten wird auch ein Versuch Riggerts erwähnt, einen Brief an seine dänische Lebensgefährtin zu schmuggeln, mit der er ein dreijähriges gemeinsames Kind hatte.

Von Hörseröd schob ihn die dänische Polizei im August 1941 nach Deutschland ab. Hier wurde er wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu einem Jahr Zuchthaushaft verurteilt, die er in Neumünster verbrachte. Ab August 1942 lebte er bei seiner Mutter und Geschwistern in Lüneburg, arbeitete auf Geheiß der Gestapo in der Lüneburger chemischen Fabrik Vogelsang und stand unter Aufsicht der Gestapo Lüneburg. Im August 1944 kam er im Rahmen der Verhaftungsaktion "Gewitter" in das KZ Neuengamme, wo er bis zu seiner Befreiung im März 1945 gefangen blieb. Otto Piehl konnte sich im Mai 1940 nach Schweden retten, wo er sich sozialdemokratischen Exilanten anschloss.[11]

 

 

(8) Willy Brandt, der Gewerkschafter Franz Lorenz und Otto Piehl in Örebrö/ Schweden, 1944

Demokratischer Neubeginn

Aus dem KZ heraus, blieb Riggert zunächst in Lüneburg. Er knüpfte nun dort an, wo er 1934 aufgehört hatte – als belesener und urteilssicherer journalistischer Zeitbeobachter. Die englischen Besatzer installierten ihn im Juli 1945 als politischen Redakteur ihrer „Lüneburger Post“, dem offiziellen Nachrichtenblatt der Militärverwaltung im nordöstlichen Niedersachsen. Im Januar 1946 machten sie hieraus die „Lüneburger Landeszeitung“ und statteten Riggert sowie weitere ausgewählte Techniker und Kaufleute mit einer Herausgeberlizenz aus. . Sie zwangen außerdem die NS-belasteten Eigentümer und Herausgeber der ehemaligen „Lüneburger Zeitung“, die Familie von Stern, ihren Betrieb an die neue Betreibergruppe zu verpachten, mit Riggert als Chefredakteur. Im Mai 1947 wurde er, auch dies unter der wohlwollenden Aufsicht der Briten, Aufsichtsratsmitglied der neugegründeten Nachrichtenagentur „Deutscher Presse-Dienst" (dpd).[12]

Riggert gründete Verlage (Verlag „Öffentliche Fragen“ und „Verlag Der nächste Schritt“) und besprach in deren Broschüren – im pathetischen Stil der unmittelbaren Nachkriegszeit – die einschlägigen Fragen des demokratischen Neubeginns.[13] Große Artikel von ihm erschienen bald auch anderswo, so z.B. eine Analyse des aktuellen Deutschlandbildes in Dänemark in der neugegründeten Hamburger Wochenschrift „Die Zeit“.[14]

So weit, so gut? Nein. Wir kommen jetzt an einen bisher noch dunklen Bereich in Riggerts Biographie.

Es scheint mit dem breit angelegten journalistischen Ansatz nicht geklappt zu haben. Mit Gründung der Bundesrepulik im Mai 1949 erlosch der Lizenzzwang und damit die Grundlage für Riggerts Stellung in Lüneburg. Bis 1952 gelang es der Eigentümerfamilie, schrittweise die Druckerei, den Druckauftrag und Anteile am Verlag zurückzugewinnen. Riggert konnte sich offenbar nicht auf dem Chefredakteursposten halten. Noch 1949 endete seine Mitarbeit im Aufsichtsrat des dpd. Anfang 1950 firmiert er im Spiegel schon als der „ehemalige Chefredakteur“ der Lüneburger Landeszeitung. Da bastelte er im Auftrag des Nordwestdeutschen Rundfunks (NWDR) an einem Exposee für eine gebührenfinanzierte, im Vertrieb nahezu kostenlose Programmzeitschrift des Senders – eine Konkurrenzveranstaltung für bzw. gegen die Programmgazetten Springers und Bauers. Dies war im Grunde eine Aufgabe unter Niveau – umso schlimmer, dass den Leitungsgremien des NWDR dann Riggerts Vorschläge nicht gefielen. Er wurde durch einen neuen Berater ersetzt.[15]

Riggert sah sich wieder in Existenznöten. Betrachtet man seine Berufsbiographie, dann zählt man für die Zeit vor 1933 maximal 4 Jahre gezahlte Sozialversicherung. Ein Beamtenstatus hat er in dieser Zeit nicht erringen können. Dann folgten 13 Jahre Leben von der Hand in den Mund, und schließlich noch Haft. Entschädigungen aufgrund des Verfolgten-Status waren kärglich. Er musste also beständig Engagements auftun, auch mehrere nebeneinander, um leben zu können.

Hätte ihn die Rückkehr in den Lehrerberuf oder die Schulverwaltung sichern können? Das ist eine vertrackte Frage. Viele, vermutlich die meisten der von den Nazis entlassenen Lehrerinnen und Lehrer sind diesen Weg gegangen. Riggert tat dies 1945 nicht. Wir wissen um ein „schweres Augenleiden“, und nach eigener Aussage wurde Rigget deshalb - es handelte sich um Grauen Star - in den Ruhestand gezwungen.[16] 

Etwas anderes kam hinzu. Riggert war belesen und sensibel, ein wortgewandter Propagandist, aber kein Verwaltungsexperte, und auch kein „Schulmann“ im klassischen Sinn. Er war – in heutiger Sprache – ein politisches Tier, ein Spin-Doktor. Einer, der Stimmungen spüren und schreibend lenken konnte, und der am liebsten dahin ging, wo Machtfragen durch Meinungsmacht zu klären waren. Genau diesen Weg ist er mit Beginn der 1950er Jahre gegangen.

 

Propagandist der Wiederbewaffnung

Im Juni 1951 erschien in der „Zeit“ ein Artikel Riggerts, der – aus der Feder dieses Autors erstmalig - das Thema Wiederbewaffnung der Bundesrepublik aufgriff. Es handelte sich um eine ziemlich rüde Denunziation einer Initiative ehemaliger Wehrmachtsoffiziere, die sich gegen die Remilitarisierung des Adenauerstaates aussprachen. Riggert führte gegen die Protagonisten Interna ins Feld, die er wohl nur aus Wehrmachtsquellen hatte schöpfen können. Neu war außerdem ein bisher bei ihm nicht gekannter antikommunistischer Tenor.[17]

So ging es weiter. Riggert bediente zwar in seinen journalistischen Arbeiten ein insgesamt recht breites Themenspektrum (Widerstand im Nationalsozialismus, Neonazismus, kommunistische Infiltration) Immer deutlicher wurde aber sein Bestreben erkennbar, das in der deutschen Bevölkerung und insbesondere in der Sozialdemokratie unpopuläre Thema Wiederbewaffnung und Nato-Mitgliedschaft mundgerecht aufzubereiten. Dies tat er regelmäßig in den „Gewerkschaftlichen Monatsheften“. Er tat es ferner über einschlägige Tagungen und Gesprächskreise, in denen er Militärs und Funktionäre der Arbeiterbewegung zusammenbrachte. Als ideologische Plattform dienten ihm die amerikanischen und skandinavischen Militärverhältnisse und generell die Wehrpflicht, womit er die demokratische Kontrolle der Armeen für gesichert sah. Zweck der demokratischen Bewaffnung, so seine Argumentation, sollte der Schutz der Demokratie durch die Abwehr reaktionärer oder kommunistischer Aggressionen sein.

Ein möglicher Anstoß für Riggerts plötzliche militärische Sendung ist in den Interessen und Bestrebungen der Hamburger Sozialdemokratie zu finden. Hier gab es, im Umfeld des Bürgermeisters Brauer, einen großen Kreis von Verantwortungsträgern, die aus dem amerikanischen Exil kamen, mit der American Federation of Labor (AFL) gegen die Kommunisten kooperiert hatten und von Beginn an für Westbindung und die Nato eintraten. Hier gab es ferner Herbert Wehner, den ehemaligen Chef der illegalen kommunistischen Widerstandsorganisation in Deutschland. Er hatte sich, inzwischen der SPD beigetreten, 1949 endlich aus seiner Quarantänestation als Redakteur des SPD-Blattes „Hamburger Echo“ herausgearbeitet und höhere Funktionen eingenommen. Brauer und Wehner erkannten die Remilitarisierung als unbedingte Grundlage für Koalitionsregierungen mit der CDU auf Bundesebene, dem strategisch einzig möglichen Weg der SPD an die Macht. Auch Willy Brandt sah dies so. Sie veranlassten den in diesem Punkt etwas störrischen Kurt Schumacher, Kontakt zu soldatischen Meinungsführern aufzunehmen. Wehner organisierte im Oktober 1951 in Hamburg ein Treffen Schuhmachers mit dem SS-Brigadeführer und Generalmajor der Waffen-SS, Otto Kumm.[18] Spätestens seit Dezember 1951 hielt Riggert Kontakt mit der Hamburger Hilfsgemeinschaft auf Gegenseitigkeit der ehemaligen Waffen-SS –Soldaten (HIAG, 1949 gegründet) und unterstützte auch deren Forderung nach einer Generalamnestie.[19] Über die Stimmung der ehemaligen Soldaten unterrichtete er das britische Militär und den SPD-Vorstand ausführlich.[20]

Anfang 1953 ging Riggert mit dem Thema „Soldatenbünde“ in die Offensive. In den Gewerkschaftlichen Monatsheften führte er aus, dass Veteranenorganisationen ein ganz normales psychologisches und sozialpolitisches Phänomen darstellten, welches Demokraten keine Sorgen bereiten müsse. Dies gelte auch ausdrücklich für die Hilfsgemeinschaften der ehemaligen Waffen-SS: „Es besteht kein Zweifel, daß in allen genannten Organisationen und Gruppen die Lebensordnung des Westens anerkannt wird. Kommunistische Unterwanderungs- und Beeinflussungsversuche, wie sie (...) unternommen wurden, sind wirksam entlarvt und abgewehrt worden.“[21] Riggerts Bestreben war offenkundig, die Soldatenvereinigungen als gleichberechtigte Diskurspartner bei der Erörterung der aktuellen „wehrpolitischen Fragen“ zu etablieren. Er sah sie als Bundesgenossen, deren berufliches Interesse an einer neuen deutschen Armee seine politischen Intentionen unterfüttern half.

Es folgte im selben Jahr ein Lob des 1951 gegründeten Bundesgrenzschutzes,[22] 1955 eine Darstellung des Verhältnisses von ziviler und militärischer Gewalt in Nordamerika.[23] Als Broschüre erschien 1958 seine Schrift „Volk und Verteidigung“, in der er die Einbindung der skandinavischen Armeen in wehrpolitische Volksinitiativen als Vorbild empfahl.[24] Den gleichen Titel trug auch ein Gesprächskreis, den Riggert 1956 ins Leben gerufen hatte. 1959 folgte sein eigenartiges Kompendium der militärischen Vergangenheit und Gegenwart Hamburgs, ein Buch, dessen Sinn wohl vor allem darin bestand, unter in Hamburg dienenden Rekruten einen gewissen Korpsgeist zu verbreiten – es wurde ihnen beim Gelöbnis in die Hand gedrückt.[25]

 

 (9) Publikation 1959

Im gleichen Jahr nahm Riggert – vermutlich als ein Mitarrangeur – an einer Tagung der evangelischen Akademie in Bad Boll teil. Hier trafen Militärs und Gewerkschaftsfunktionäre aufeinander. Der anwesende Journalist, der Jungatlantiker Theo Sommer von der Hamburger Zeit, war sicher nicht zufällig für diesen Einsatz ausgewählt worden.[26] Die einleitenden Bemerkungen seines Berichtes führten sofort auf den Kernpunkt der Tagung:

„Eben hatte ein Gewerkschaftler aus Bayern behauptet, die Ausbildung der jungen Soldaten in der Bundeswehr fördere in den Rekruten kriminelle Neigungen. Ohne Punkt und Komma schloss er die Frage an: Was denn die Militärs eigentlich für Hintergedanken hätten, wenn sie mit den Gewerkschaften ins Gespräch zu kommen suchten? Ob sie etwa die Haltung der SPD zur Wehrfrage aushöhlen wollten, indem sie die Gewerkschaftsfunktionäre zu Anwälten der Bundeswehrfreudigkeit zu gewinnen trachteten – um dann die Gewerkschaften gegen die SPD auszuspielen?

Im Saal wurde es still. Selbst die Rauchschwaden unter der Decke schienen in ihrem Tanz um die Sonnenstrahlen innezuhalten. Doch der sich nun zu Wort meldete, war kein Offizier. Es war ein anderer Gewerkschaftsfunktionär, der jetzt in die Bresche sprang:

„Es gibt eine Möglichkeit, daß man im Schwefeldunst des eigenen Misstrauens erstickt und unfähig wird, die demokratische Ordnung unseres Staates zu schützen ...““.

 

 (10) Theo Sommer in jungen Jahren

Man erkennt den informationspolitischen Ansatz leicht: Wie Riggert die Soldatenbünde weichzuzeichnen suchte, so wollte Sommer die pazifistischen Gewerkschafter karikieren. War der von ihm zitierte, so „andere Gewerkschaftsfunktionär“ in Wahrheit Riggert? Sommer ließ Riggert jedenfalls als Gewerkschafter auftreten, als er ihn, der in der weiteren Bad Boll-Debatte dann vehement und in Einklang mit den Offizieren für die Bundeswehr warb, namentlich nannte und ausführlich und wohlwollend referierte.[27] Von gewerkschaftlichen Funktionen Riggerts zu dieser Zeit ist übrigens nichts bekannt.

Riggert hatte nach seinem Lüneburger Engagement wieder Wohnung in Hamburg bezogen, zunächst in der Andreasstraße 16, dann am Loogeplatz 4, seit 1957 in der Hochallee 5. 1956 hatten er und Edith Hirsch, geb. 1912, geheiratet. Seine Berufsbezeichnung war laut Adressbüchern in den 1950er Jahren „Journalist“ und in den 1960er Jahren „Redakteur“. 1957/58 bezeichnete er sich zwischenzeitlich als Geschäftsführer einer Anzeigen- und Werbeagentur in der Harvestehuder Straße. Über Inhalt, Zweck und Ertrag dieser Tätigkeit konnte bisher nichts ermittelt werden. Möglicherweise hatte sie zum Ziel, sich bei Ausschreibungen für konkrete Medien der Öffentlichkeitsarbeit als gewerblicher Anbieter zu beteiligen und so zusätzliche Verdienste zu generieren.[28]

In der Publizistik der 1950er Jahre wurde Riggert in der Regel mit dem Etikett „Wehrexperte der SPD“ versehen. Seine journalistische Tätigkeit für die Welt und die Zeit schlief bereits vor 1955 ein – einen Beitrag zum Lebensunterhalt entstand hierdurch nicht mehr. Im Gedenkbuch für den 1966 verstorbenen Walter Hammer, für das Riggert einen Beitrag beigesteuert hatte, ist seinem Namen im Register der Zusatz „als Experte für die Nato tätig“ beigegeben.[29] Seine wichtigste und Auflagen-stärkste Veröffentlichung, die Broschüre „Volk und Verteidigung“, erschien im Markus-Verlag, einer Tochtergesellschaft von Dumont-Schauberg Köln, die in Kooperation mit dem Innen- und dem Verteidigungsministerium im wesentlichen militärpolitische Propagandaschriften sowie Soldaten- und Polizeiblätter herausgab.

Ganz im Gegensatz zu seiner Zeit in Harburg Anfang der 1930er trat Ernst Riggert nun im eigentlichen Parteileben der SPD nicht hervor. Beiträge von ihm für das Hamburger Echo, das immerhin bis 1966 bestand, sind nicht bekannt. Ebenso erstaunlich erscheint, dass er sich nicht an den Bildungsbestrebungen der 1954 gegründeten, SPD-nahen „Neuen Gesellschaft“ beteiligte – obwohl hier mit Hellmut Kalbitzer ausgerechnet ein ehemaliger Hamburger ISK-Kader die treibende Kraft bildete. Es ist in Anbetracht aller dieser Erkenntnisse anzunehmen, dass Riggert seine nachhaltige und offensive „Akzeptanzföderung“ für die Bundeswehr im Hauptamt betrieb, dafür von deutschen Ministerien oder der Nato honoriert wurde und auf diese Weise seinen Lebensunterhalt bestreiten konnte.

 

Das Programm „Volk und Verteidigung“

Es ist daher zu fragen, ob Riggert sich selbst ab Mitte der fünfziger Jahre noch als sozialdemokratischen Militärpolitiker ansah, oder ob sein Aufgabenfeld nicht schon mit denen der CDU-dominierten Bundesregierung sowie englischer, amerikanischer oder deutscher Geheimdienste verschmolz. Die kurze Notiz der Hamburger SPD-Zeitung zu seinem 60. Geburtstag im Jahr 1962 klang deutlich nach Pflichtübung und Distanz („In den letzten Jahren hat sich der Jubilar kompromisslos für seine Einstellung zur deutschen Wehrpolitik eingesetzt“).[30] Der Markus-Verlag gilt als Schöpfung Eberhard Tauberts, eines führenden Propagandisten unter Goebbels, der nach 1945 für alliierte Geheimdienste im antikommunistischen Einsatz und ab 1958 Berater des Verteidigungsministers Strauß und der Nato für psychologische Kriegsführung war.

Riggert ist wohl, soldatisch gesprochen, anfangs der 1960er Jahre „durch die Linien gegangen.“ Ohne hier auf die ganz großen Fragen der innerdeutschen Militärdebatten dieser Zeit, Atombewaffnung, Atomstrategie, Ausmaß der deutschen Mitwirkung beim Einsatz atomarer Waffen etc., eingehen zu können - die sozialdemokratische Position zu Riggerts Spezialthemen „Wehrbeitrag der Zivilgesellschaft“ und „zivile Verteidigung“ entwickelte sich, nachdem die Wiederbewaffnung und Natointegration politisch überstanden waren, in verhältnismäßig rationaler und pragmatischer Weise weiter. Bestimmend war hierbei die Position Hellmut Schmidts, der als Hamburger Innensenator bei der Sturmflut 1962 erkannt hatte, dass die bestehenden Strukturen des Zivilschutzes Tod und Verderben brachten. Er forderte forderte ein realistisches Einschätzen der Schutzmöglichkeiten und ihrer Kosten, die Bündelung von Personal und Material, die Entmilitarisierung und Kommunalisierung der meisten Aufgaben. Hierfür ließ er den Hamburger Senat eine Kommission einberufen, die entsprechende Vorschläge entwickeln sollte. Riggert war hieran nicht beteiligt.[31]

Die Bundesregierung, insbesondere das Verteidigungsministerium unter Strauß, verfolgte dagegen eine Linie, die sich in der Tradition des nationalsozialistischen Luftschutzes bewegte: maximale Investitionen in technische Schutzsysteme, maximale Mobilisierung der Bevölkerung, stetige Einübung des Bereitschaftsmodus mit tausenden ehrenamtlicher Helfer. Dieser Linie schloss Riggert sich letztlich an.

Sicher: Riggerts Argumentation für die „zivile Verteidigungsbereitschaft“ war ungleich subtiler und geschmeidiger als der noch immer von Antisemitismus durchtränkte Antikommunismus Tauberts, der bis zu seinem Tod 1976 bekennender Rechtsextremer blieb. Auch die Bundeswehrwerbung der „Arbeitsgemeinschaft demokratischer Kreise“, gegründet 1951, unter dem ehemaligen NS-Führungsoffizier und späteren PR-Berater Adenauers, Hans Edgar Jahn, die im Feld der politischen Bildung allzu erkennbar als Wahlkampforganisation der CDU auftrat, konnte seine Qualität nicht erreichen. Gleiches gilt für die Anstrengungen des von Strauß initiierten Vereins „Rettet die Freiheit“ unter Führung Rainer Barzels, der 1959 als ziviler Sekundant der Atombewaffnungspläne der CDU gegründet worden war. Aber in den Methoden und Zielen lagen alle genannten Akteure doch eng beieinander. Und auch Riggert geriet dabei in das Operationsnetz der westlichen Geheimdienste.

So ließ er sich in den 1960er Jahren in ein strategisches Konzept einbeziehen, das vom CIA angestoßen, vom niederländischen Geheimdienst ausgearbeitet worden war und von diesem gemeinsam mit dem Bundesnachrichtendienst finanziert und umgesetzt wurde. Unterstützende Zahlungen kamen von den niederländischen Unternehmen Shell, Phillipps, Unilever und dem Chemiekonzern AKU (später AkzoNobel). Ziel war, an Standorten in mehreren europäischen Ländern Seminare und Gesprächszirkel zu Nato-Themen zu lancieren, und zwar insbesondere in neutralen Ländern (Finnland, Schweiz, Österreich, Schweden) und in Ländern mit stark ausgeprägten pazifistischen Positionen (Deutschland, Holland, Dänemark).

Inhaltlich-organisatorischer Kern des Projektes wurde die europaweite Ausbreitung des skandinavischen „Volk und Verteidigung“- Konzeptes, einer staatsfinanzierten zivil-militärischen Kooperationsinstanz, in der militärische und zivile Verbände und Institutionen korporativ Mitglieder werden konnten.[32] In solchen jeweils national zu etablierenden Organisationsstrukturen sollten Militär und Zivilgesellschaft miteinander verschränkt werden, und zwar nicht allein kommunikativ, sondern auch operativ. Ziel war eine umfassende Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Im Focus standen dabei Parteien, Gewerkschaften und sonstige Massenorganisationen, Journalisten-, Lehrer und Jugendverbände sowie die Institutionen und freiwilligen Helfer des Zivilschutzes. Diese Verbünde existieren in Skandinavien noch heute und nehmen erheblichen Einfluss auf die sicherheitspolitischen Debatten.[33]

Riggert hatte genau dieses Konzept, wie oben bereits dargelegt, schon lange vor den Amerikanern propagiert, weil es in Skandinavien unter wesentlicher Mitwirkung von Antifaschisten und Sozialdemokraten entstanden war und ihm darum als ideologische Angebot für die pazifistischen SPD-Mitglieder geeignet schien. Es überdehnte allerdings den Rahmen der sozialdemokratischen Programmatik. Riggert sah sich dennoch vollauf bestätig und entfaltete sogleich eine rege Tätigkeit.

 

 

(11) Riggert 1966: Gratulant zum 80. Geburtstag seines Sammelschulkollegen Fritz Gotthardt in Harburg.

Er wirkte formell als Organisationszentrum aller deutschen Aktivitäten dieses multinationalen Programms.[34] Zugleich war er in Organisationsprozesse in Skandinavien und Österreich involviert.[35] Dabei standen ihm zeitweilig erhebliche Mittel des deutschen Verteidigungsministeriums zur Verfügung. So wurden Teilnehmer einer militärpolitischen Tagung an der norwegischen Armeeschule in Oslo schon mal mit Transportern der Bundeswehr eingeflogen. Nahezu alle publizistischen Arbeiten Riggerts standen zu dieser Zeit im Kontext des Programms, etwa „Mobilmachung ohne Befehl“ 1965 [36], „Nordische Verteidigungsunion?“ und „Die Sowjets in der Arktis“, beides 1966[37], „Sicherheit auf Finnisch“ 1972[38], erweiterte Neuauflagen von „Volk und Verteidigung“ 1960 und 1973. Gleiches gilt für die von ihm betreuten Veranstaltungen. 1968 richtete er, angekündigt als „Redakteur Riggert (Haus Rissen)“, im Rahmen der jährlichen „Ascheberger Gespräche“ des Bundesluftschutzverbandes für Schleswig-Holstein und Hamburg ein Seminar zur skandinavischen und deutschen „Zivilverteidigung“ aus.[39] 1970 nahm er bei gleicher Gelegenheit an einer Podiumsdiskussion über „geistige Verteidigung“ teil.[40] Der Bundesluftschutzverband war eine Körperschaft öffentlichen Rechts des Bundesinnenministeriums. Das Haus Rissen war und ist eine der CDU verbundene Einrichtung der politischen Bildung in Hamburg und eng mit der Hamburger Mitgliedschaft der Atlantikbrücke e.V. verbunden.

Der ganze Umfang der Aktivitäten Riggerts in diesem Zeitraum ist noch nicht aufgearbeitet. Er muss beträchtlich gewesen sein. Das Natomitglied Dänemark und das neutrale Schweden verliehen ihm zu Beginn der 1970er Jahre in Anerkennung seiner Dienste hohe Auszeichnungen.

 

Plötzlich im Abseits

Trotz aller Erfolge – durch die besondere Dynamik des innen- und weltpolitischen Wandels in den Jahren 1969 bis 1972 geriet Riggert ganz plötzlich ins Abseits der Geschichte.

Zum einen zeigte sich, dass die besonderen Voraussetzungen des skandinavischen Verteidigungskonzeptes in vielen anderen Ländern nicht gegeben waren, am wenigsten in Deutschland. So fehlte hier ein aus gemeinsamem Antifaschismus gespeister bürgerlich-sozialdemokratischer Konsens der Heimatverteidigung. Die fundamentale Auseinandersetzung zwischen CDU und SPD um die Macht überprägte stets auch die Außen- und Militärpolitik. Im Moment des Machtübergangs an die Brandt/ Scheel-Regierung 1969 zerbrachen alle Vereinbarungen und Kompromisse, die dem Handeln Riggerts die Grundlage gegeben hatten.

Zum anderen hatten Willy Brandt und sein Führungsteam den politischen Stil des Kalten Krieges überwunden. Hier wirkten sich realistische Einschätzungen über die Chancen und Resultate einer neuen Ostpolitik aus. Zugleich erkannte die SPD, dass Frieden und Verständigung zu Erfolgsfaktoren im innenpolitischen Ringen geworden waren. Militarisierung der Gesellschaft, außenpolitische Drohgebärden, dies passte nicht mehr in die Zeit.

Mit dem Antritt der sozialliberalen Koalition 1969 war Riggert das Budget zur Finanzierung seiner Projekte bereits stark eingeschränkt worden. Der Versuch, durch eine eigene Jugendsparte der amerikakritischen Studentenbewegung entgegenzutreten, geriet dabei ins Straucheln. Nach der Wahl von 1972, in der Willy Brandts Politik eindrucksvoll bestätigt wurde, zog sich der BND gänzlich aus den Projekten zurück. [41]  Mit der Demontage des zentralstaatlichen, „staatspolitisch“ aufgeladenen Zivilschutzes zugunsten der kommunalen Feuerwehren und des unpolitischen Technischen Hilfswerks, auch dies ein Projekt der Regierung Brandt, entfiel zudem eine wichtige Gussform für den angestrebten „zivilen Wehrbeitrag des Volkes“. Das Netzwerk „Volk und Verteidigung“ fiel daraufhin in kurzer Zeit in sich zusammen. 1978 war das letzte Jahr, in dem ihm öffentliche Mittel zuflossen.[42]

Riggert wurde von dieser Entwicklung überrascht. Die Entspannungspolitik und der Helsinki-Prozess raubten ihm seine Themen, die er doch wesentlich von der Annahme einer militärischen Bedrohung aus dem Osten abgeleitet hatte. Zu den vielen neuen Themen der „Willy wählen“-Generation in den 1970er Jahren fand der Propagandist keinen Bezug mehr. Ernst Riggert starb 1977, weithin vergessen. Ein Nachruf von Auftraggebern, Weggefährten oder Parteigenossen konnte bislang nicht gefunden werden.

 

Anmerkungen

 

[1] Staatsarchiv Hamburg (StAH), 430-5, 1701-03.

[2] Vgl. Die radikale Linke als Massenbewegung.

[3] Adressbuch für Harburg-Wilhelmsburg, Ausgabe 1930, 1931, 1932; dies korrigiert meine Angabe in dem in Anm. 2 genannten Werk, S. 106, Riggert sei an der Sammelschule Wilhelmsburg tätig gewesen. Dieser Irrtum ging auf eine Archivalie (StAH, 430-5, 1701 - 20) zurück, in der eine Auflistung aller 1933 entlassenen oder degradierten Lehrer zu finden war. Diese Liste war am 9.5.1945 vom Harburger Schulamt erstellt worden, auf Drängen der Schutzpolizei (und der englischen Besatzer?). Sie nennt einen Riggert, ohne Vornamen, der in der KPD gewesen sei und an der Sammelschule Wilhelmsburg unterrichtet habe. Das Fehlen der Vornamen bei Riggert und einigen anderen der genannten lässt vermuten, dass aus dem Gedächtnis und nicht anhand von Akten gearbeitet wurde. Möglicherweise hatten sich, 12 Jahre nach den Ereignissen, Erinnerungsschwächen mit einer Namensverwechslung verbunden: Ein Friedrich Riggert war lange Jahre Lehrer an einer Wilhelmsburger lutherischen Volksschule. Auch Uwe Schmidt, Hamburger Schulen im „Dritten Reich“, Hamburg 2010, S. 52 ist von dieser Liste verwirrt worden: Er hielt den hier erwähnten vornamenlosen Riggert für eben jenen Friedrich Riggert.

[4] StAH, 430-5, 1701-03.

[5] Der Titel lautete vollständig: Der Volkslehrer / hrsg. von der Allgemeinen Freien Lehrergewerkschaft Deutschlands, angeschlossen an den Allgemeinen Deutschen Beamtenbund u. d. Berufssekretariat der Lehrer im Internationalen Gewerkschaftsbund. Vgl. Volksblatt v. 30.6.1929.

[6] Adressbuch für Harburg-Wilhelmsburg, Ausgabe 1931,1932.

[7] StAH, 430-5, 1102 B 5; StAH 351-11 Nr. 25490.

[8] Schnorbach, Hermann: Lehrer in der Emigration, Weinheim 1981, S. 12, 50, 103. Vgl. die vorzügliche Webseite für Rodenstein mit dessen persönlichen Erinnerungen: http://heinrich-rodenstein.beepworld.de/index.htm, 5.11.2012.

[9] Kolk, Jürgen: Walter Hammer 1888-1966, Gröde 2010, S. 87 ff.; Dähnhardt, Willy/ Nielsen, Birgit (Hg): Exil in Dänemark, Heide 1993, S. 37 ff., 607-610.

[10] Ausführlich dargestellt in „die anderen“. Einen guten Eindruck über das deutsche Exil in Kopenhagen vermittelt Henny Heising, die kurz nach dem Tod ihres Mannes Alfons dessen mündliche Erzählungen aus der Erinnerung aufschrieb und veröffentlichte: Alfons Heising, Geschichten 1928 - 48, Klein Barkau 1977; vgl. Scholz, Michael: Skandinavische Erfahrungen erwünscht? Nachexil und Remigration: die ehemaligen KPD-Emigranten in Skandinavien und ihr weiteres Schicksal in der SBZ/DDR, Stuttgart 2000, S. 357.

[11] Larsen, Leif; Clausen, Thomas: De forrådte: tyske Hitler-flygtninge i Danmark, Kobenhavn 1997. StAH 351-11 Nr. 25490.

[12] Zusammen mit Emil Gross, Paul Heile, Heinrich Hellwege, Reinhold Heinen, Alfred Heitmann, Willy Koch, Henri Nannen, Eberhard Peters, Arno Scholz, Carl Spiecker und Franz Splieth; s. Eumann, Marc Jan: Der Deutsche Presse-Dienst. Nachrichtenagentur in der britischen Zone 1945 - 1949. Die Geschichte einer Medieninstitution im Nachkriegsdeutschland, Köln 2011, S. 117, 129, 180 (Achtung: Diese Dissertation ist vermutlich ein Autoplagiat der eigenen Magisterarbeit des Autors).

[13] Exemplarisch seien hier genannt: Der Weg ins Freie. Zur politischen Selbsterziehung, Lüneburg 1946. Der Deutsche und das Ausland. Lüneburg 1948.

[14] Kopenhagener Reise, Zeit v. 16.12.1946.

[15] Der Spiegel v. 28.2.1951; Rüden, Peter v./ Wagner, Hans-Ulrich (Hg): Nordwestdeutsche Hefte zur Rundfunkgeschichte, Heft 4 (2005), S. 27 - 38.

[16] StAH, A 767; StAH 351-11 Nr. 25490.

[17] Zeit v. 14.6.1951.

[18] Merseburger, Peter: Der schwierige Deutsche Kurt Schumacher, Stuttgart 1995, S. 501 f.

[19] Manig, Bert Oliver: Die Politik der Ehre. Die Rehabilitierung der Berufssoldaten in der frühen Bundesrepublik, S. 459, 518.

[20] Ebd., S.534 f.

[21] Gewerkschaftliche Monatshefte 1/1953.

[22] Ebd., 5/1953.

[23] Ebd., 8/1955.

[24] Riggert, Ernst: Volk und Verteidigung, Köln 1958.

[25] Riggert, Ernst: Hamburg, eine nicht militärfromme Stadt. Aus Vergangenheit und Gegenwart Hamburgs mit besonderer Berücksichtigung seiner Kriegs- und Garnisonsgeschichte, Hamburg 1959. (Neuauflagen 1964, 1969).

[26] Sommer arbeitete seit 1957 für die Zeit. Seitdem war er in engem Kontakt mit Henry Kissinger. Vgl. hierzu seine Selbstaussagen in dem Vortrag „Der Sicherheitspolitiker Helmut Schmidt: Die Bundesrepublik und die Atomstrategie der NATO, gehalten im Freundeskreis ausländischer Offiziere an der Führungsakademie der Bundeswehr, Hamburg, 5. April 2011; www.theosommer.de/redende.php?id=48&lang=, 6.1.2015.

[27] Die Zeit v. 13.3.1959.

[28] Als Mitgeschäftsführer weist das Adressbuch Hans Joachim Tramm und Dieter Schär aus. Tramm, geb. 4.1.1915, war Kameramann, im Krieg für Propagandafilme dienstverpflichtet worden und hierüber mit der Gestapo in Konflikt geraten. Nach dem Krieg versuchte er sich glücklos als Filmproduzent und ging dann in die Werbung; StAH 221-5 Nr.128; StAH 213-13 Nr. 9822. Bei Schär, geb.8.10.1920, handelt es sich um den gleichnamigen Sohn des 1937 im KZ Fuhlsbüttel umgekommenen Hamburger Taubstummen-Pädagogen Alfred Schär. Schär war Mitglied einer illegalen Hamburger ISK-Gruppe; Stolpersteine in Hamburg, Artikel Alfred Schär, http://www.stolpersteine-hamburg.de, 1.12.2014; StAH 351-11 Nr. 16444.

[29] Hammer-Hösterey, Erna/ Sieker, Hugo (Hg): Die bleibende Spur. Ein Gedenkbuch für Walter Hammer 1888 – 1966, Hamburg o.J, S. 286.

[30] Hamburger Echo v. 1.11.1962.

[31] Denkschrift der vom Senat der Freien und Hansestadt Hamburg berufenen Studienkommission zur Prüfung von Aufgaben und Möglichkeiten des Zivilschutzes in Hamburg [Hamburg 1965]. Vgl. Zivilschutz 3/1966, S. 87-90.

[32] Steneck, Nicholas: Everybody has a Chance. Civil Defence and the Creation of Cold War West Germany Identity 1950-1968, Ohio State University 2005. PDF: https://etd.ohiolink.edu/!etd.send_file?accession=osu1124210518&disposition=inline, 22.12.2014

[33] Vgl. die aktuellen Websites der Organisationen: http://www.folkogsikkerhed.dk, http://www.folkochforsvar.se/; http://www.folkogforsvar.no/, 26.11.2014.

[34] Im Mitgliederverzeichnis des Londoner International Institute for Strategic Studys erscheint er 1970 als „Secretary, German Group People & Defence“; The Institute for Strategic Studys, List of Members, London 1970, S. 36.

[35] Rainio-Niemi, Johanna: The Ideological Cold War: The Politics of Neutrality in Austria and Finland, ebook 2014, S. 154 ff.

[36] Riggert, Ernst: Mobilmachung ohne Befehl. Skandinavische Heimwehren, Darmstadt1965.

[37] Wehrkunde Bd. 15 (1966).

[38] Oervik, Niels: Sicherheit auf Finnisch. Finnland und die Sowjetunion, übersetzt von C.E. Riggert, Bad Godesberg 1972.

[39] Ziviler Bevölkerungsschutz 6/ 1968, S. 16.

[40] Ziviler Bevölkerungsschutz 5/ 1970, S. 10 ff.

[41] Giles Scott-Smith: Western Anti-Communism and the Interdoc Network , Basingstoke 2012.

[42] Deutscher Bundestag, 8. Wahlperiode, Bundestag — 8. Wahlperiode — 162. Sitzung. Bonn, Freitag, den 22.6.1979; http://dipbt.bundestag.de/doc/btp/08/08162.pdf

 

Bildnachweis

(1) Hammer-Hösterey, Erna/ Sieker, Hugo (Hg): Die bleibende Spur. Ein Gedenkbuch für Walter Hammer 1888 – 1966, Hamburg o.J.

(2) Archiv Gotthardt

(3) Der Funke, Tageszeitung des ISK, v. 5.11.1932

(4) Stadtarchiv Offenbach (http://www.fr-online.de/offenbach/drittes-reich-fast-verwehte-spuren-des-offenbacher-widerstandes,1472856,11933036.html, 1.11.2014)

(5) http://heinrich-rodenstein.beepworld.de/saargebiet.htm, 1.11.2014

(6) http://www.zeitgeschichte-hamburg.de/files/MEXX_web/NL_Piehl/rightframe.htm, 1.11.2014

(7) Hammer-Hösterey, Spur

(8) Quelle: AdsD/Friedrich-Ebert-Stiftung; http://w3.willy-brandt-forum.com/?te_announcements=flucht-2, 28.6.2016

(9) Archiv Gotthardt

(10) Foto: Ron Kron; Quelle: Nationaal Archiev; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Theo_Sommer_(1967).jpg?uselang=de, 3.11.2014

(11) Archiv Gotthardt

 

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