Demokratie in kurzen Hosen

Die Befreiung Harburgs und Wilhelmsburgs vom Faschismus und die verpaßten Chancen nach 1945. Interviews und Berichte.

Text: Hans-Joachim Meyer
Veröffentlicht
1995

(1) Demonstration in Wilhelmsburg, 1946 (?)

Das Buch aus dem Jahr 1995 ist vergriffen. Es steht hier unverändert in digitaler Form zur Verfügung und als pdf-Datei zum Download (3,9 MB).

Zu diesem Buch

Vor fünfzig Jahren – genau am 3. Mai 1945 – wurden Harburg und Wilhelmsburg kampflos von den alliierten Truppen besetzt. Die faschistische Diktatur, die in ihren zwölf Jahren zuerst Deutschland, dann fast ganz Europa mit Terror, Mord und Krieg überzog, war fünf Tage später – am 8. Mai – beseitigt.

In den folgenden Berichten soll deutlich werden, wie die Menschen diese Zeit empfanden. War es eine Niederlage? Oder war es nicht eher eine Befreiung und Chance für einen Neubeginn?

Die Persönlichkeiten, die hier zu Wort kommen, waren von der Nazidiktatur in besonderer Weise betroffen. Die meisten waren politisch engagiert, waren selbst inhaftiert oder auf andere Weise verfolgt gewesen, oder ihre Angehörigen sind Opfer des Naziterrors geworden. Der Bericht von Margarete Dreibrodt wurde bereits in den sechziger Jahren von ihr selbst verfaßt. Auch der Beitrag von Helmut Stein stammt aus seiner eigenen Feder.

Alle anderen Interviews wurden mündlich gegeben und nur geringfügig -– mit Einverständnis der Interviewten – redaktionell bearbeitet. Gottlieb Halusa, der nicht mehr am Leben ist, wurde bereits 1985 befragt.

Die Sichtweise der Autorinnen und Autoren wird vielleicht hier und da auf Widerspruch stoßen. Denn zu lange wurde verschwiegen oder verdrängt, daß sich in den Jahren 1933 bis 1945 Verbrechen auch vor unserer Haustür, in unserer unmittelbaren Nachbarschaft abgespielt haben. Hinzu kam, daß bald nach 1945 der »kalte Krieg« in voller Schärfe entbrannte. Die Täter der braunen Zeit, ihre Feindbilder, ihr vermeintliches oder tatsächliches Fachwissen wurden im Westen unseres Landes wieder gebraucht. Und die Opfer galten da eher als Störenfriede, besonders dann, wenn sie selbst oder deren Angehörige aus dem kommunistischen Widerstand stammten.

Wenn die Broschüre aber doch hier und da zum Nachdenken anregt, hat sie ihren Zweck erfüllt.

Hans-]oachim Meyer

***

Margarete Dreibrodt: Tage, die unvergessen sind

Wenn mir das Datum 8. Mai 1945 einfällt, denke ich zunächst ein Jahr zurück.

Im Januar des Jahres 1944 hatte der erste der sogenannten »Fallschirmspringerprozesse«[1] stattgefunden. Die Harburger Genossen Willi Milke und Herbert Bittcher wurden zum Tode verurteilt, ebenso die Mutter von Willi Fellendorf. Am 8. Mai 1944 hatte dann der »Volksgerichtshof« die Urteile über die meisten Harburger Mitkämpfer der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe[2] gefällt. Zum letzten Mal konnte ich meinem Mann Paul Dreibrodt und unserem lieben Freund Karl Kock die Hände drücken. Karl Kock wurde zum Tode verurteilt, mein Mann Paul Dreibrodt bekam zehn Jahre und August Quest sechs Jahre Zuchthaus. Das Ehepaar Dalügge erhielt je zehn Jahre, meine Schwägerin Grete Glißmann und Martin Glißmann 15 Monate. Der Genosse Berthold Bormann hatte vorher Selbstmord begangen. Elfriede Kock wurde freigesprochen. Trotz vieler Verhöre im Stadthaus, dem Sitz der Hamburger Gestapo, blieben Elfriede und ich frei, weil unsere Männer und die übrigen Angeklagten uns nicht preisgaben.

Wie froh war ich, daß mein Mann nicht ins KZ kam. Mein Bruder Gustav Bergmann war gerade aus Sachsenhausen zurückgekommen, und was dort geschehen war, wußten wir.

(2) Nach den Bombenangriffen gab die Post in Harburg vorgedruckte Postkarten als »Lebenszeichen« an ihre Kundschaft aus.

Karl Kock, Willi Milke und Herbert Bittcher waren bei den Harburger Phoenix-Werken beschäftigt. Der Genosse Willi Stein von den Harburger Eisen- und Bronzewerken wurde zwei Tage vorher zum Tode verurteilt. Karl Kock und Willi Stein wurden am 26. Juni 1944 in Hamburg hingerichtet. Die Leichen wurden nach 1945 in Kiel in der Anatomie der Universität gefunden und von den Angehörigen identifiziert.

Die zu Zuchthaus Verurteilten kamen am Pfingstsonnabend 1944 auf Transport zum Zuchthaus Celle. Alle meine Bemühungen, Besuchserlaubnis zu erhalten, waren vergebens. Zweimal erhielt ich von meinem Mann einen Brief aus Celle, den letzten im März 1945: »Ich lebe, ich habe Angst um Euch. Laßt alle irdischen Güter im Stich und rettet nur Euer Leben.« Und das Ende des Krieges war schon nahe.

Nach der Kapitulation hofften mein Sohn Heinz und ich täglich: Jetzt muß unser Vater zur Tür hereinkommen. Wir warteten noch eine Woche. Heinz (damals war er 16 Jahre alt) fuhr dann mit dem Fahrrad nach Celle. Dazu brauchte er eine Bescheinigung der englischen Kommandantur. Nach drei Tagen war er zurück. Unsere Enttäuschung war groß. Im Celler Zuchthaus hatte man ihm gesagt, daß sein Vater entlassen worden sei. Täglich warteten wir vergeblich. Eine Woche danach fuhren dann die Genossen Christel Coerber und Dr. Hans Hochstein[3] nach Celle. Nun wurde ihnen gesagt, mein Mann sei mit einem Transport nach Bützow-Dreibergen in Mecklenburg verlegt worden. Aber den Genossen Heinrich Hartig[4] brachten sie mit. Der lag krank im Lazarett. Abermals machten sich mein Bruder Hans Bergmann und der Genosse Christel Coerber mit den Fahrrädern auf den Weg nach Dreibergen. Sie kamen aber nur bis Schwerin. Denn hier gab es gerade Truppenverschiebungen der englischen und sowjetischen Streitkräfte. Genossen in Schwerin versprachen, weiter nachzuforschen.

Endlich erhielt ich im August eine Karte von Richard Tyen aus Osnabrück. Er teilte mir mit, daß mein Mann in Bützow verstorben sei. Im offenen Kohlenwagen fuhr ich darauf nach Osnabrück, um Näheres über den Tod meines Mannes zu erfahren. Der Genosse Richard Tyen war auch sehr krank zurückgekommen und war froh, daß er noch lebte. Von ihm erhielt ich einen ausführlichen schriftlichen Bericht:

»Am 10. April 1945, einen Tag, bevor die Engländer in Celle waren, wurden wir in offene Güterwagen verladen. Wir hatten nur unsere dünne Anstaltskleidung an. Eine Wolldecke und ein Stückchen Brot, das war alles. Man schätzte den Transport auf 400 Gefangene, die genaue Zahl weiß ich nicht mehr. Ein Trupp wurde auch zu Fuß in Marsch gesetzt, in Richtung Salzwedel. Vier Tage waren wir unterwegs. Es gab oft Fliegeralarm. Wir waren schwer bewacht, wer versuchte zu fliehen, wurde erschossen. Unterwegs hatten wir viele Tote. Sie wurden aus dem Waggon geholt und an den Bahndamm gelegt. Auch der Genosse Camillo Friede aus Hamburg ist unterwegs verstorben. Ihn und noch mehrere tote Kameraden haben wir nach Bützow mitgenommen. Am 14. April im Morgengrauen wurden wir auf dem Bahnhof Bützow ausgeladen. Zu Fuß, wir waren keine hundert Mann mehr, ging es dann durch einen Wiesenweg nach Dreibergen. Wir kamen in einen Pferdeschuppen auf einer Wiese. Hier war auf dem nassen, von Jauche getränkten Boden Stroh gestreut worden . Täglich wurde uns ein Eimer Essen gebracht. Ein paar alte Konserven, die wir fanden, waren unser Eßgeschirr. Wir waren alle so entkräftet, daß wir nicht mehr gehen konnten. Auch der Genosse August Quest aus Harburg, Otto Müller aus Bergedorf und noch viele Kameraden sind hier verstorben. Am 2. Mai hörten wir das herannahende Grollen der Panzer. Mit aller Kraft stemmten wir das verriegelte Holztor auf und sahen sowjetische Panzer. Als wir entdeckt wurden, kamen Sanitäter. Auf Gummitüchern als Bahre wurden wir ins Lazarett gebracht. Paul Dreibrodt und ich kamen in das Lazarett Hoffmannschule. Paul war aber so entkräftet, daß er sich nicht erholte und am 28. Mai dort starb.«

Viele Male führte mich dann mein Weg nach Bützow. 1946 ging ich schwarz über die Grenze. Das Komitee ehemaliger Widerstandskämpfer gab mir ein Schreiben in deutscher und russischer Sprache mit, daß mir jede Unterstützung und Fahrgenehmigung zu geben sei, da ich Nachforschung nach dem Verbleib meines Mannes betrieb. Ich habe Hilfe von der Volkspolizei bekommen und kam auf vielen Umwegen nach Bützow. Im Bützower Rathaus erhielt ich die Sterbeurkunde. Die Genossin Erika Biel lernte ich kennen, die mir half und mich mit der Genossin Anna Helm bekanntmachte. Der Bruder der Genossin Helm war Friedhofswärter, und der konnte mir nun Auskunft geben. Auf dem Friedhof Bützow-Dreibergen war eine große Kuhle ausgehoben worden. Hier wurden die Toten hineingeworfen und mit Kalk und Sand bestreut. Diese Kuhle habe ich 1946 noch gesehen. Auch der Pferdestall war noch da, der war links von der Straße ca. 200 m hinter der Gärtnerei.

Alle, die nach der Befreiung verstorben sind, so auch mein Mann Paul Dreibrodt, sind vor der Kapelle in Reihengräbern bestattet. Aber alle Toten sind später ausgehoben und beim Ehrenmal in Bützow namenlos beigesetzt worden.

(3) Wer die Süderelbbrücke passieren wollte, mußte sich bei der britischen Kommandantur in Heimfeld ein solches Dokument besorgen.

***

Gottlieb Halusa: Mit 45 Reichsmark Wochenlohn fing es auf der Phoenix an

Ich bin Jahrgang 1920. Schon 1937 bin ich Soldat geworden. Freiwilliger Soldat. Ich kann heute nur jedem raten, sich nie freiwillig zu melden. 1945 war ich also 25 Jahre alt, 8 Jahre Soldat. Der Rückzug ging von Rumänien, Ungarn bis Österreich, und zwar nach Ost-Österreich in die Nähe von St. Pölten. Wir hörten schon, daß der Krieg dem Ende entgegengeht, daß die Kapitulation bevorsteht. Wir wußten aber nicht hundertprozentig, ob das stimmt. Auch von Hitlers Tod hatten wir nichts gehört, wir waren dort völlig abgeschnitten. Das einzige, was uns merkwürdig vorkam, war: Der Spieß verteilte unsere Wehrpässe. Er meinte, wir bleiben alle zusammen und wollen hier den Krieg beenden.

Aber dann sollte ich plötzlich noch einmal an die Front, und zwar als Infanterist. Denn meinen Panzer hatte ich nicht mehr, der war abgeschossen. Ich habe mich krank gemeldet und sollte ins Lazarett eingeliefert werden. Da habe ich einfach das Fahrrad genommen, bin abgehauen zum Amerikaner rüber und bin dort in Gefangenschaft geraten. Dort wurden wir auf einer großen Wiese zusammengeführt. Nach kurzer Zeit mußten wir alle antreten. Alle in drei Reihen, Oberkörper frei machen, und dann gingen die Offiziere durch. Sie haben uns unter die Arme gesehen, um festzustellen, ob wir bei der SS waren. Vorher wurde aber noch gesagt: Wer der SS angehört, vortreten! Als sie bei der Untersuchung doch noch welche schnappten, die das SS-Blutgruppenzeichen unter dem Arm hatten, schlugen sie sie mit dem Gewehrkolben zusammen.

Von dort wurden wir auf die Umgebung verteilt, auf die Dörfer. Wir mußten bei den Bauern arbeiten. Morgens um 5 Uhr ging es hinaus zum Grasmähen. In der Nähe gab es einen Bahnhof. Es war nur eine kleine Baracke, eigentlich mehr ein Haltepunkt. Innen fand ich Armbinden in englisch ausgeschrieben, aber ohne Namen, blanko. Da habe ich mir welche besorgt, und auch Begleitschreiben. Zu dritt haben wir uns dann Formulare auf englisch ausfüllen lassen, daß der Mister Soundso zu einer Dienststelle nach Hamburg reisen darf.
Dann zogen wir los. Ich wollte nach Harburg, die anderen nach Wilhelmshaven und Nordhausen in Thüringen. So bin ich dann über Passau, Regensburg, Erfurt, Hannover und Celle nach Hause gekommen. Und alles mit dem Fahrrad. Wir sind täglich 100 km gestrampelt. Ganz früh morgens los, da war es noch nicht so heiß. Mittags, wenn auf dem Lande die Glocken zur Mittagspause bimmelten, sind wir auseinandergegangen und haben einzeln die Bauern gefragt, ob wir nicht mit ihnen zusammen essen könnten. Die waren dann immer neugierig: Woher kommt ihr, wohin wollt ihr, der Krieg ist ja nun aus. Es gab also immer viel zu erzählen, und dabei haben wir dann unser Mittagessen gekriegt.

Was ich über das Kriegsende gedacht habe? Alle waren erstmal froh, daß diese Scheiße zu Ende war. Was nun werden soll, wie das alles ausgeht? Über solche Dinge haben wir gar nicht nachgedacht. Für uns war nur wichtig: Dieser Krieg ist vorbei. Jetzt geht's nach Hause, oder in Gefangenschaft. Irgendetwas ging ja los. Viele hatten besonders Angst vor der sowjetischen Gefangenschaft, deshalb haben sie auch alle zugesehen, daß sie ihre Füße in die Hand nahmen und möglichst schnell nach dem Westen kamen. Außerdem gab es natürlich die Furcht, in den letzten Tagen noch eins zwischen die Rippen zu kriegen, liegenzubleiben und zu verrecken. Es war also eine regelrechte Flucht. Weg vom Krieg, nichts mehr damit zu tun haben. Möglichst gesund nach Hause kommen. Die Uniformen hatten die meisten ja weggeschmissen. Ich hatte auch nur eine kurze Hose, ein Hemd und Schnürschuhe. Das war mein ganzer Besitz.


(4) Die Lange Straße (heute Goldtschmidtstraße) nach der Zerstörung

So bin ich also am 12. Juli 1945 in Harburg angekommen. In einen großen Trümmmerhaufen. Meine Wohnung war in der Reinholdstraße gewesen . Alles total ausgebombt. Wohin nun? Meine Mutter war tot, mein Vater lag im Lazarett. Dann habe ich die Wohnung meiner Schwester aufgesucht, und auch diese war beschädigt. Dann haben wir angefangen aufzuräumen. Auch arbeiten mußte man ja irgendwo, irgendetwas anfangen. Dann kam die Geschichte mit der Phoenix.

Die Fabrik war zwar durch die Bombenangriffe teilweise lädiert. Trotzdem konnte der Betrieb nach einigen Aufräumungsarbeiten bald wieder aufgenommen werden. Die Fremdarbeiter, die während des Krieges auf der Phoenix arbeiten mußten, konnten wieder nach Hause. Deshalb fehlten bei Phoenix Arbeitskräfte. Mit Stellschildern und Plakaten wurden Leute gesucht. lm Oktober 1945 bin ich dort eingestellt worden.

Für mich war die Arbeit dort eine große Umstellung. Die Gummi- und Benzingase waren manchmal unerträglich, dazu die schlechte Beleuchtung und die schwere Arbeit in der Reifenfabrik. Auf Holzformen, überwiegend von Hand, wurden Reifen gewickelt. Damals wurde kein Naturkautschuk, sondern nur Buna verwendet. Gearbeitet wurde 48 Stunden pro Woche in drei Schichten. Wöchentlich 45 Mark netto war die Entlohnung. Und ein halber Liter Magermilch und die Schwerstarbeiterkarte wurden als Zulage gegeben. Für diesen Wochenlohn konnte man sich fünf Zigaretten auf dem schwarzen Markt kaufen. Um höhere Leistungen von den Arbeitern zu erhalten, führte man ein Punktsystem ein. Wer 30 Punkte durch Leistung und Überstunden erarbeitete, erhielt dafür eine Fahrradgarnitur (Schläuche usw.), die er dann auf dem schwarzen Markt verkaufen konnte.

Wie es im Krieg auf der Phoenix aussah? Wie dort das Verhalten der Chefs zur Belegschaft war? Ich kannte damals Kollegen, von denen ich wußte, daß sie Kommunisten waren. Ich kannte auch Ausländer, die hiergeblieben waren, z.B. einen französischen Zivilarbeiter. Ich habe gehört, was die damals über ihre »Führungskräfte« sagten. Die liefen ja fast alle während des Krieges – wie sagt man – als »Goldfasan« oder sogar in schwarzer Uniform rum. Und die haben sich auch gegenüber den ausländischen Arbeitern saumäßig benommen. Das betraf den Leistungsdruck, das betraf das Fressen. Man durfte diesen Arbeiterinnen und Arbeitern ja nichts zustecken. Wer es trotzdem tat, mußte damit rechnen, daß er verschwand – ab an die Front oder sogar ins KZ. Dann hörte ich die Geschichte von einem Abteilungsleiter. Hinter ihm waren besonders die sowjetischen Kriegsgefangenen her, die auf der Phoenix gearbeitet hatten. Den hätten sie am liebsten aufgehängt. Gefangene, die noch hiergeblieben waren, hatten mir berichtet: Der sei in Sinstorf erwischt worden und habe sich nur noch durch einen Sprung aus dem Fenster retten können. Später kehrten dann fast alle Fremdarbeiter und Gefangenen in ihre Heimatländer zurück. Nur die Polen blieben noch eine Weile da. Die haben noch im Sommer 1945 gern auf der Wiese am Tanzlokal an der Außenmühle gelegen und gebadet. Und die weiblichen Wesen aus Harburg haben sich dann »dazugesellt«. Im Winter waren aber auch sie weg.

Am Anfang des Wiederaufbaus, 1945 und 1946, waren die Chefs gegenüber ihren Arbeitern sehr zurückhaltend. Man wußte ja nicht, was noch kommt. Denn es war ja alles offen, die politische Lage war noch nicht richtig klar. Was wir produzierten, ging alles weg, wurde von der britischen Besatzungsmacht requiriert. Deshalb war die Unsicherheit da. Wird der Betrieb vielleicht auch seine Produktion einstellen müssen? Es wurde auch noch keiner angetrieben zur Arbeit, es wurden keine Zeitaufnahmen gemacht. Wie ich schon sagte, arbeiteten wir damals nicht mit Naturkautschuk, sondern mit Buna. Das war wesentlich schwieriger, ein richtiger Schweinkram.

Dann wurde auf der Phoenix die Gewerkschaft aufgebaut. Ich war auch dabei, rückwirkend seit dem 1. Juli 1945 bin ich Mitglied. Maßgeblich hatten ältere Kollegen mitgewirkt, die schon vor 1933 organisiert waren. Die sind dann im Betrieb rumgelaufen und haben Mitglieder geworben. Fast die ganze Belegschaft trat damals ein.

Um Fragen wie Mitbestimmung hatte sich der einzelne Arbeiter aber nur wenig gekümmert, auch später unter der Adenauer-Regierung. Die meisten dachten nur daran, Geld zu verdienen, sich was zu kaufen, später Anzug anschaffen, Häusle bauen usw. Man muß da Nachsicht haben. Der Bedarf war bei der Bevölkerung so groß, weil es ja jahrelang nichts gab. Bei mir selbst war es damals auch nicht viel anders. Wie sollte ich mit meiner kurzen Hose und den Schnürschuhen über den Winter kommen ? Ich mußte zusehen, daß ich mir Sachen organisieren konnte, und das Essen gab es auch nur auf Lebensmittelkarten.

Man mußte also zusehen, wie man sich so durchschleuste durch das Leben. Man hat alles mögliche gemacht, man hat auch Schwarzhandel getrieben, nur um irgend wie an Futterage zu kommen. Und an Bekleidung. Auch wenn es uns aus heutiger Sicht etwas lächerlich vorkommt: Erhalt der Lebensgrundlagen und Häuslebauen prägten das Denken der Arbeiter. Besonders nach der Währungsreform ging es erst richtig los. In der Frage der wirklichen Mitbestimmung konnte man nichts werden.

***

Karl-Heinz Kailuweit: Mit der Fünferbande zum Swing-Tanzen

Ich bin Jahrgang 1924, das Kriegsende erlebte ich als ganz junger Mensch. Ich wurde eingezogen, und am 28. März 1945 wurde ich bei einem Angriff auf Danzig-Langfuhr verschüttet. Die Rote Armee hatte den Landweg nach Westen schon abgeschnitten, und so kam unser Krankentransport zuerst über die Ostsee und dann auf abenteuerlichen Wegen bis nach Bad Tölz in Bayern. Das Schiff war mit Flüchtlingen überfüllt. Zum Glück war ich nicht auf der »Wilhelm Gustloff«, die ja torpediert wurde und unterging.

Als die Amerikaner näherrückten, sollten in Bad Tölz noch die Isarbrücken gesprengt werden. Aber soweit kam es nicht mehr. Die Krankenschwestern entfernten noch in aller Eile die Hitler-Bilder von den Wänden. Dann kamen die US-Soldaten, es war gerade der 1. Mai. Wir hatten alle möglichen Befürchtungen und glaubten, sie nehmen uns alles weg, was nicht niet- und nagelfest war. Wir konnten aber alles behalten, nicht einmal für die Orden und »Ehrenzeichen« der Wehrmacht interessierten sie sich.

Ich kam dann im Juli 1945 nach Bad Aibling ins Entlassungslager. Hier wurden wir nicht immer mit Samthandschuhen angefaßt. Die Amerikaner sammelten die Uhren ein, stellten uns manchmal aus Schikane leere Essenkübel hin oder kippten uns Waschwasser ins Gesicht. Mit dem Kohlezug ging es dann nach Norden, zuerst nach Munster-Lager, dann nach Hamburg-Eidelstedt. Hier bekam ich endlich meine Entlassungspapiere. Dann schlug ich mich nach Harburg durch. Zu Fuß mußte ich über die Elbbrücken. In Eißendorf in der Triftstraße wohnten wir in einem Behelfsheim.



(5) Ausgebombt: die Bremer Straße

Mein Vater Karl Kailuweit war Kommunist und vor 1933 Betriebsrat bei der Stadtreinigung gewesen. Als die Nazis am Drücker waren, wurde er natürlich sofort entlassen und im Juni 1933 festgenommen. Sie warfen ihm »literarischen Hochverrat« vor. Es folgten die schlimmen Jahre der Haft – zuerst im Harburger Gerichtsgefängnis in der Buxtehuder Straße, dann in den Emslandlagern, im Zuchthaus Celle und schließlich in Fuhlsbüttel. Hier wurde er 1940 entlassen und mußte sich alle vier Wochen bei der Polizei melden.

Bevor ich Soldat wurde, hatte ich mich schon für Fußball begeistert und war 1940 in die Borussia eingetreten. Viele wußten, was mit meinem Vater los war. Selbst im Krieg gab es noch Solidarität: Mit Hilfe von Genossen, die meinen Vater kannten, bekam ich eine Lehrstelle als Maschinenschlosser bei Traun & Söhne, der heutigen »New York-Hamburger Gummiwaaren-Compagnie«, im Volksmund »Gummi-Kamm«. Mein Ausbilder war Ernst Tiedemann, ein recht bekannter Kommunist, der nach 1945 am Neugrabener Bahnhof einen Kiosk betrieb.

Weil ich nicht in der Hitler-Jugend (HJ) war, konnte ich zwar in der Borussia trainieren, hatte aber keine Spielerlaubnis. Als ich es einmal trotzdem tat, bekam ich sofort einen Anpfiff. Schließlich besorgte ich mir mit Hilfe eines Mitglieds der Marine-HJ illegal Dienstbescheinigungen, die mir auch das Recht gaben, an Spielen mitzuwirken.

Ich hatte mehrere Freunde, alles Borussia-Spieler. Wir nannten uns die Fünfer-Bande und machten gemeinsam Harburg unsicher. Mit Angehörigen der Hitler-Jugend (HJ) gab es schon mal Kloppereien, auch der Sohn des Harburger Nazi-Kreisleiters Drescher wurde einmal von uns verprügelt. Wir gingen gern nach Bostelbek zum Tanzen, und zwar in die frühere Gaststätte »Waldschänke«. Dort wurde Swing getanzt, was unter den Nazis natürlich verboten war. Der Gastwirt paßte immer auf und sagte Bescheid, wenn dicke Luft war. Manchmal trafen wir uns mit Jugendlichen aus Barmbek, die genau wie wir Lust zum verpönten Swing hatten.

Nach dem Krieg spielte ich wieder Fußball, sobald meine Verwundung ausgeheilt war. Auf Drängen meines Vaters ging ich in die Freie Sportvereinigung (FSV) Harburg, die aus mehreren Arbeitersportvereinen entstanden ist. Er glaubte, der Arbeitersport müsse wieder gefördert werden, und ich mußte mitmachen. Dabei fühlte ich mich als Eißendorfer dort in Wilstorf, wo die FSV beheimatet war, überhaupt nicht wohl.

Bei uns zu Hause gab es einen »Gartenklub Schulland«, und mein Vater wurde dort nach 1945 Vorsitzender. Er bemühte sich, den Verein von Nazis zu säubern. Das gelang ihm nur teilweise. Ein Nazi war im Krieg Frontberichterstatter, und über ihn legten die Engländer aus irgendeinem Grund ihre schützende Hand. Schließlich ging er dann aber von selbst.

Bei Elfbuchen am Ehestorfer Weg wurde noch kurz vor Kriegsende versucht, einen Panzergraben auszuschachten, um den Vormarsch der Alliierten aufzuhalten. Nach dem Krieg wurden dann die Nazis herangeholt, um den Graben wieder zuzuschaufeln. Hier half mein Vater mit, Stubben zu roden, damit die alten Leute im Winter etwas zum Heizen hatten.

Nazi-Kreisleiter Drescher hatte übrigens eine Villa in Eißendorf, ganz in unserer Nähe. Meinem Vater wurde 1945 angeboten, dort zu wohnen. Aber er lehnte es ab, sich im Dunstkreis einer solchen Nazigröße zu bewegen.

Ich selbst konnte durch Vermittlung des Komitees der Widerstandskämpfer in Hamburg ein Vorsemester für die Ingenieurschule besuchen. Ich wurde Mitglied der »Freien Deutschen Jugend« (FDJ) in Harburg. Das war in der Anfangszeit wirklich noch eine überparteiliche Organisation. Hermann Westphal, der spätere Ortsamtsleiter von Wilhelmsburg, machte mit, dann Walter Wolf, der lange Zeit bei der Morgenpost Redakteur war, schließlich Helmut Stein und andere. Wir hatten in der Nähe der Johanniskirche am Alten Friedhof in einem Keller einen Klubraum eingerichtet. Manchmal versammelten wir uns auch in Wohnungen, so in der Hoppenstedtstraße bei Hermann Westphal. Es wurde auch Fußball gespielt, und ich erinnere mich an eine Weihnachtsfeier 1946 im Tanzlokal am Ütjendiek in der Brookstraße (heute Göhlbachtal).

Der Winter 1946 war extrem kalt. Ich arbeitete damals bei Steinike & Weinlig. Aus dem Betrieb haben wir uns Marmelade organisiert, und es wurden natürlich Kohlen geklaut. In der Nähe war die Brikettfabrik Stinnes. Wenn dort ein Zug mit Kohle ankam, fanden sich nicht selten an die hundert Leute ein. Mein Chef hat ein Auge zugedrückt, ich durfte nur keine Kohlen klauen, wenn sie der Firma zugeteilt waren. Einmal wurde ich von einem Polizisten erwischt. Der kam mir entgegen, wollte mich festhalten und riß mir dabei den Ärmel ab. Ich konnte aber abhauen. Ein anderes Mal schaffte ich es, mit einem großen Sack voller Briketts durch den hohen Schnee vor der Polizei auszureißen.

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Leo Kunkolewski: Die Portiers wurden rausgeschmissen, die Direktoren blieben

Schon vor dem 8. Mai 1945 hatte sich unser Betrieb auf die Produktion nach dem Krieg umgestellt. Die Belegschaft war in den letzten Wochen verkleinert worden. Einmal durch die Abschiebung der ausländischen Zwangsarbeiter, das waren Russen, Polen, Dänen, Holländer, Belgier. Diese Leute hat man weggeschickt, gut eine Woche vor der Kapitulation. Nicht nur aus unserem Betrieb, soviel ich weiß, auch aus anderen. Man hatte wohl Angst, daß sie sich an einigen Menschen rächen könnten, wenn sie nach der Kapitulation noch hier sein würden. Denn die Behandlung dieser Zwangsarbeiter war manchmal unmenschlich. Bei uns im Betrieb war es, soweit ich es überblicken konnte, noch einigermaßen erträglich, obwohl die Verpflegung wie üblich schlecht war. Aber bei uns ist keiner geprügelt worden. Ein einziger ist einmal angeblich wegen Widersetzlichkeit ins Arbeitserziehungslager Wilhelmsburg gekommen. Das war aber alles, was an Maßnahmen gegen ausländische Arbeiter im Betrieb vorkam.

Der Betrieb? Das war das Spilling-Werk in der Werftstraße auf dem Grasbrook. Im Schnitt waren 30-40 Ausländer dort beschäftigt. Der Betrieb hatte eine eigene Unterkunft, ein sogenanntes Lager dafür. Es lag in 500 m Entfernung im Freihafen. Dieses Lager durften wir vom Betrieb aus nicht betreten, das war streng verboten. Ich habe nie gesehen, wie die Leute da gewohnt haben. Ich weiß es nur vom Erzählen. Wenn ich Nachtschicht hatte, war ich fast nur mit Ausländern zusammen. Wir haben auch viel diskutiert. Wie die Stimmung bei ihnen war? Sie wußten, daß der Krieg bald zu Ende ist und daß es dann in Richtung Heimat geht. Einmal sagte ich zu einem von ihnen: »Na, nun kommt ihr ja bald nach Hause, nun wird sich vieles ändern.« Zwei Polen kannte ich besonders gut, einen von ihnen hatte ich angelernt.

»Deutschland hat den Krieg verloren«, sagte ich zu ihm, »vielleicht kommen wir nach Sibirien.« Er antwortete: »Wenn du durch Polen kommst, stecke ich dir dann auch Brot zu.« Ich hatte ihnen nämlich mehrmals etwas zu kommen lassen.

Auch die Büromädels im Betrieb hatten ab und zu mal eine Scheibe Brot übrig. Es war ja strengstens verboten, den Ausländern etwas zu geben. Ich sagte dann den Mädchen, sie sollten etwas an meiner Drehbank hinlegen. Dann habe ich den beiden Polen Bescheid gesagt: Wenn da was liegt, seht euch ein bißchen um und nehmt das weg. Aber nicht, wenn jemand dabei steht oder wenn ich in der Nähe bin. Ich konnte ja zur Not sagen: Die Mädchen haben das Brot für meine Hühner gegeben . Und wenn es dann nicht mehr da war: Wer kann von mir verlangen, daß ich auf Hühnerfutter aufpasse?

Die Polen und Russen wurden, wie man uns sagte, kurz vor Kriegsende nach Mecklenburg geschickt. Die Holländer und Belgier sollten bei Geesthacht den Engländern entgegengehen. Wo die Dänen geblieben sind, kann ich nicht sagen.

Ich habe damals in Wilhelmsburg in einer Laube im Gartenbauverein »Sommerfreude« gewohnt, an der Zeidlerstraße, Ecke Mannesallee (damals Kirchenallee). Wir hatten einen Nazi-Obmann im Vorstand, seit 1933, als der alte Vorstand abgesetzt wurde. Ich war damals ja wenig zu Hause, einmal wegen meiner illegalen Arbeit, dann durch meine Haft. Der Garten verwilderte, denn meine Frau verstand nichts von der Gartenarbeit und hatte auch kein Interesse daran. Es gab auch einige, die den Garten übernehmen wollten, als ich nicht da war. Der Nazi-Obmann war aber so anständig und sagte: Der Leo kommt wieder. Er hat sich auch sonst einigermaßen benommen. Schlimmer war sein Sohn, der war aktiv in der Hitlerjugend. Er war einer der eifrigsten Verfolger der »Pfennig-Bande«, der Swing-Jugendlichen, die für englische Musik schwärmten und auch sonst unangepaßt lebten. »Beinahe hatte ich einen gehabt«, erzählte er einmal, »aber der Hund ist mir entkommen.« Dieser Junge ist in seiner Begeisterung für die Nazis noch kurz vor Kriegsende in der Lüneburger Heide gefallen. Für seinen Vater war das ein harter Schlag, und da war er plötzlich kein Nazi mehr.

Wir arbeiteten in den letzten Tagen nur mit drei Leuten im Betrieb. Wer zum »Volkssturm« eingezogen wurde, war noch nicht wieder zurück. Wir hatten dort noch drei scharfe Nazis, einer wohnte in Neugraben, ein anderer in Billstedt. Jetzt waren sie nicht mehr zu sehen.

Die letzten drei Tage haben wir überhaupt nicht mehr gearbeitet. Da wußten wir schon: Der Engländer steht vor Harburg. Die Fliegeralarme waren vorbei, nur ab und zu wurde mit Granaten geschossen. Das bumste dann ein bißchen, aber wir kümmerten uns nicht darum, wir waren ja Schlimmeres gewohnt. Die Elbbrücke nach Harburg war schon gesperrt. Da konnte keiner mehr rüber. Am 3. Mai, als Hamburg kampflos übergeben werden sollte, wurde vorher bekanntgegeben: Ab 11 Uhr müssen sämtliche Straßen frei sein, kein Mensch darf sich sehen lassen. Um halb vier hörte man dann die Fahrzeuge ankommen. Mein Garten lag etwas abseits. Ich bin hingegangen, ganz getraut habe ich mich aber nicht. Schließlich war ja auch deutsche Polizei auf den Straßen, allerdings ohne Waffen. Sie sollte dafür sorgen, daß niemand unterwegs ist. Ich sah die Truppen nur von weitem. Am anderen Tag hörte ich dann: Sie waren auf dem Stübenplatz aufgefahren, und es fanden schon die ersten Verbrüderungen statt – zwischen Kindern und den englischen Soldaten. Freudestrahlend kamen sie dann an mit der ersten Tafel Schokolade vom Tommy.

Zwei Tage dauerte noch die Ausgangssperre, dann durfte man, solange es noch hell war, auf der Straße sein. Ich mußte zunächst zusehen, wie ich wieder eine Bleibe kriegte. Ich war ja ausgebombt, und meine Laube, die noch nicht ganz fertig war, fiel wieder zusammen. Ich mußte aus dem zerstörten Material etwas aufbauen. Ich mußte auch zusehen, daß ich etwas zu brennen kriegte. Das war noch meine Hauptbeschäftigung in den letzten Tagen im Betrieb. Holz schwamm genug im Hafen, das haben wir dann mit einem Kran hochgeholt. Ein Bekannter hatte ein Pferdegespann, damit transportierten wir das Holz ab. Wir mußten zusehen, daß wir irgendwie am Leben blieben, daß wir weiter existieren konnten.

Drei Tage nach der Kapitulation – ich stand gerade draußen und sägte Holz – sehe ich, wie von der Zeidlerstraße her meine Tochter mit einem Mann kommt. Wir sehen uns an: Es war Richard Trampenau, mein Schwager. Er hatte die ganze Nazizeit über in Celle im Zuchthaus gesessen und war mit den Engländern nach Harburg gekommen. Mit einem der britischen Offiziere hatte er sich angefreundet und durfte wohl deshalb auch über die Elbbrücke nach Wilhelmsburg. Nach und nach kamen auch die anderen Genossen, um die Lage zu besprechen. Das Problem war: Nur zwei von uns hatten ihre Wohnung behalten: Jonny Wieszeczinski und Georg Nietner. Alle anderen waren ausgebombt, waren beim Militär oder aus sonstigen Gründen nicht zu Hause.

Wir waren also nur ein ganz kleines Häuflein, und deshalb war alles sehr schwer. Jetzt fing es an: Trümmer von den Straßen wegräumen, die Nazis zum Arbeiten ranholen. Dabei tauchten auch Leute auf, die erst jetzt ganz plötzlich Antifaschisten geworden waren. Diese waren besonders eifrig dabei, Nazis aus den Wohnungen zu holen und dann den Aufseher zu spielen. Damals habe ich es noch nicht so erkannt, aber solches Verhalten hat uns sehr geschadet. Schließlich wollten wir selbst mit aufbauen, selbst Hand anlegen.

Die Parteien waren noch nicht zugelassen. Offiziell konnte man noch nichts machen, aber inoffiziell. Als es darum ging, die KPD in Wilhelmsburg wieder aufzubauen, kam man zu mir: »Du bist der einzige«. Ich bin ganz ehrlich, ich fühlte mich damals einer solchen Aufgabe nicht gewachsen, so daß der Anfang auch sehr schwierig und langwierig war. Als die Parteien dann zugelassen wurden, lernte ich Gustav Bergmann aus Harburg kennen. Er war viel aktiver als ich, und er war mir in der politischen Reife voraus. Ich war deshalb froh, daß ich die Verantwortung wieder los wurde. Jetzt begann der organisatorische Aufbau erst richtig. Was wir bis dahin gemacht hatten, waren lose Verabredungen.

(6) Die Wilhelmsburger Maidemonstration 1946

In Wilhelmsburg hat man versucht, die Entnazifizierung in die eigenen Hände zu nehmen. Auch in den Betrieben. Man hat es zum Teil auch durchgesetzt. lch will einen Fall beim Willhelmsburger Bahnhof schildern. Da gab es einen Genossen, der 1933 von den Nazis rausgeworfen wurde. Der ging dann nach dem Krieg hin und sagte: »So, ich bin jetzt wieder da.« Er wurde auch sofort eingestellt und auch gleich zum Betriebsrat gewählt. Der hat dann gesagt: »Herr Amtsrat Soundso, Herr Amtsrat Soundso, ihr wart lange genug hier. Ihr habt genug Schweinereien gemacht. Packt eure Sachen, ab!« Die sind abgezogen – und kamen genau nach 14 Tagen wieder mit einer Bescheinigung der Besatzungsmacht, daß sie in Amt und Würden bleiben dürfen. Der Betriebsrat habe seine Befugnisse überschritten. Da mußte der betroffene Genosse noch froh sein, daß sie ihn nicht wieder rausgeschmissen haben. Ein zweiter Fall in einer kleinen Ölfirma. Dort gab es auch einen Genossen im Betriebsrat. Der hat einfach den Direktor vor die Tür gesetzt, hatte es aber auf seine eigene Kappe genommen. Der kommt auch ein paar Tage päter wieder zurück, mit dem »Erfolg«, daß kurz danach dieser Genosse rausgeflogen ist.

Wir konnten nicht wirklich etwas verändern. Einmal hatten wir nicht die Kraft dazu, zum anderen war das Bewußtsein in der Bevölkerung, um was es geht, überhaupt nicht da. Die Menschen waren viel zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt: Wo kriege ich eine Bleibe? Wie kriege ich etwas zu fressen?

Die Entnazifizierung entwickelte sich in der Praxis so: Die Portiers wurden rausgeschmissen, und die Direktoren blieben. Das war amtlich. Der Genosse Nötzel zum Beispiel aus der erwähnten Erdölfirma saß in einer Entnazifizierungskommission. Die hielt öfter ihre Sitzungen ab und mußte entscheiden. Da war es dann so: Diejenigen, die führende Stellungen hatten, Wirtschaftsführer und dergleichen, die sind fast alle offiziell entnazifiziert worden. Manche gegen kleine Bußen, kleine Auflagen. Wirklich vorgegangen ist man gegen die kleinen Betriebsobleute, Portiers und so weiter. Wer von ihnen den Mund zu weit aufgemacht hatte, flog auf Betreiben der Entnazifizierungskommission raus, wenn er nicht schon draußen war. Solche Ungerechtigkeiten blieben nicht verborgen, und sie wurden auch uns Kommunisten in die Schuhe geschoben: »Was wollt ihr denn? Die Kleinen schmeißt ihr raus, und die Großen?« Dabei war es aber so, daß wir auf die Großen keinen Einfluß hatten. Über diese Leute hielt ja die Besatzungsmacht ihre schützende Hand. Und die Entnazifizierungskommissionen hatten letztendlich nicht das letzte Wort, sondern nur beratende Funktionen.

Noch ein anderes Beispiel, das zeigt, wie wenig sich geändert hatte. Da kam jemand bei mir an und berichtete, er hätte einen bekannten Nazi-Sturmführer entdeckt, der in seinem Garten arbeitete. Wir sind mit neun Leuten hin. Zuerst hat er von einigen, die mit ihm ein Hühnchen zu rupfen hatten, eins an die Backen gekriegt. Dann sagten wir: »Du hast doch eine Pistole, wo hast du die?« Er hatte sie in einen Bombentrichter geworfen und mußte sie wieder rausholen. Dabei fanden sich noch drei weitere Pistolen und zwei Gewehre an. Dann zogen wir mit ihm und den Waffen zur kommissarischen Wache, die im Gemeindehaus untergebracht war. Was taten die Beamten? Sie verlangten meine Personalien. Von dem Nazi nichts, der durfte sich hinsetzen, der durfte alles. Da ich zum Glück nicht allein war, konnte ich etwas energischer auftreten. Schließlich kam ein Offizier, entschuldigte sich bei mir und ließ den Nazi abführen. So war dort das Denken der Polizeibeamten. Wir haben ihnen einen Nazi geliefert, der auch noch Waffen hatte. Das interessierte sie aber nicht sonderlich, sie interessierte nur, wer ich bin, wer sich erlaubt hat, diesen Nazi dort hinzuschleppen. Das »Dritte Reich« war in ihrem Denken noch längst nicht überwunden.

Ob ich den 8.Mai 1945 als Befreiung empfunden habe? Für mich war das keine Frage. Ich konnte wieder aufatmen, wieder Luft holen. Wir standen ja alle unter einem starken Druck. Immer wieder die Vorladungen zur Gestapo, immer wieder das übliche: So, heute ist es soweit, heute kommst du nicht mehr davon. Das war jedesmal dasselbe, diese Einschüchterung. Und dann kam: Wir wollen noch mal Gnade vor Recht ergehen lassen, du kannst nach Hause gehen. Das letzte Mal wurde ich vor Ausbruch des Krieges verhaftet, aber zum Glück nur für ein viertel Jahr. Hinzu kam, daß mir 1935 die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt wurde. Rechtsmittel gab es dagegen nicht. Nun war ich Ausländer und hatte einen Fremdenpaß. Ich stamme ja aus der Provinz Posen und galt als Pole. Bei Kriegsausbruch wurden sämtliche Ausländer einkassiert, ich auch. Ich sollte dann im inzwischen besetzten Polen arbeiten. Nur weil mein früherer Betrieb dringend Dreher brauchte, wurde ich dort noch im gleichen Jahr entlassen und kam wieder nach Hamburg zurück. Weil ich kein »Volksgenosse« war, hatte meine Familie während meiner Haft nur die halbe Wohlfahrtsunterstützung bekommen: 90 Mark, davon gingen 46 Mark für Miete drauf.

Es ist wohl klar: Wer soviel Drangsalierungen und Benachteiligungen mitgemacht hat, der hat dem Nazistaat 1945 keine Träne nachgeweint.

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Harald Lange: Mit einem geklauten Sack Zucker auf der Hunger-Demonstration

In Salzburg war für mich der Krieg zu Ende. Die Engländer hatten die Stadt besetzt. Irgendwie hatte ich Schwein gehabt, daß ich nicht in Gefangenschaft kam. Ganz ordnungsgemäß wurde ich entlassen. Vier Monate dauerte dann die »Reise« nach Hamburg- mal mit der Bahn, wenn gerade eine fuhr, mal zu Fuß, mal auf dem Pferdewagen. Vor 400 Jahren ging es mit der Postkutsche vermutlich schneller. Als ich aus Richtung Buxtehude die heutige Cuxhavener Straße entlangging, überholten mich ein einziges Auto und zwei Pferdegespanne. Ansonsten war ich der einzige »Verkehrsteilnehmer« auf der heute so viel befahrenen B 73. Ich bog dann nach Norden ab, nach Waltershof, wo ich damals wohnte.

Es muß im Herbst 1945 gewesen sein. Mein Vater war nicht mehr am Leben, nur meine Mutter traf ich dort an. Zu dieser Zeit war Waltershof noch ein recht großes Arbeiterwohngebiet mit etwa 6000 Menschen. Die Arbeiter waren meist auf den nahen Werften oder im Hafen beschäftigt. Viele alte Sozialdemokraten lebten dort, aber ich glaube, die Mehrheit war sogar kommunistisch eingestellt.

Auch in meiner Verwandtschaft waren viele politisch engagiert. Mein Vater war ein Nazihasser gewesen, war aber nicht irgendwo organisiert. Mein Großonkel Karl Rümpler hatte in Fuhlsbüttel gesessen. Zu Hause haben sie oft über Politik gesprochen, von mir wurde aber alles ferngehalten. Wir hatten bis 1943 in Hammerbrook gewohnt, waren dort ausgebombt und zogen dann in unser Wochenendhaus nach Waltershof, wo wir nach dem Krieg blieben.

(7) Laubenkolonie Waltershof 1946/47

Dort lernte ich bald Herbert Baade kennen, der in Waltershof seinen Friseurladen hatte. Er schnitt mir nicht nur die Haare, sondern machte mich auch mit dem Kommunistischen Manifest bekannt. Durch ihn wurde ich politisch stark beeinflußt. Ich beteiligte mich auch bald an der Arbeit der KPD, aber mehr im Betrieb, nicht im Wohngebiet. Wenn ich in Harburg zu tun hatte, mußte ich eine weite Reise unternehmen. Ich nahm den Dampfer – über Kattwyk, Moorburg bis zum Anleger Dampfschiffsweg in Harburg und von dort weiter mit dem Fahrrad.

Arbeit bekam ich nach dem Krieg in Altona, und zwar bei Wilhelm Fette, einer Fabrik für Präzisionswerkzeuge. Hier wurden einige führende Leute rausgeschmissen – der Chef, ein Obermeister und der Leiter des Werkzeugbaus. Der hatte Fremdarbeiter mit der Pistole zur Arbeit gezwungen.

Da ich in Hamburg arbeitete, kam ich nicht viel nach Harburg. Das Kulturleben kam langsam wieder in Gang. Man ging abends zur Reeperbahn, St. Pauli war ja mit dem Dampfer bequem zu erreichen. Wir besuchten die Kleine Freiheit, den Hippodrom (auch genannt Café Peerkötel) oder das Lokal Indra. Bezahlt wurde noch mit Reichsmark. Der Hunger war damals sehr groß, Hungerödeme waren an der Tagesordnung. In der »Indra« gastierte ein Kabarettist, er hieß Rudi May. Die Kapelle spielte: »Der May ist gekommen«, und Rudi stieg in die Arena. Er rief: Der Druck von oben ist ja nun weg, aber der Schwindel geht jetzt erst richtig los. Zu essen gab es nichts, und ich mußte mir – so Rudi May – vier Meter Ofenrohr kaufen, damit der Kohldampf besser abzieht.

Es war die Zeit des Schwarzmarkts. Mittelpunkt war das im Krieg zerstörte Zoologische Museum am Hauptbahnhof. Heute steht dort das Horten-Kaufhaus. Auch ich habe gehamstert. Einmal kam ich in eine merkwürdige Situation. Ich hatte einen Sack Zucker geklaut und transportierte ihn in einer Schott'schen Karre. Da geriet ich plötzlich in eine Hunger-Demonstration, die von den Gewerkschaften organisiert war. »Wir haben Hunger«, riefen die Leute, und ich mittendrin mit meinem heißbegehrten Sack Zucker.
Im Winter bei klirrender Kälte war die Solidarität in Waltershof groß. Man half sich gegenseitig, auch, um an Essen und Brennmaterial heranzukommen. So gab mir ein Nachbar, ein linker Sozialdemokrat, öfter einen Tip, wenn ein Schiff mit Kohlen ankam. Dann haben wir uns manchmal einen Sack »organisiert«.

Auch Betrüger waren am Werk. An einer S-Bahn-Unterführung in Richtung Rotenburgsort waren Tierpräparate ausgelagert, die in Alkohol konserviert waren. Schwarzhändler bekamen Wind davon und trieben einen schwunghaften Handel mit »garantiert echtem Schnaps«. Daran werde ich oft erinnert, wenn heute mit unseren Lebensmitteln allerlei Schweinereien getrieben werden. Etwa mit dem Rindfleisch aus England, das vielleicht mit Rinderwahnsinn-Viren verseucht ist. Gleiche Brüder, gleiche Kappen.

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Grete Reus: Was Frauen damals durchstehen mußten – heute unvorstellbar!

Als 1945 die Nazis endlich kapitulierten, war ich 31 Jahre alt. Ich erinnere mich noch ganz besonders an einen der schweren Bombenangriffe auf Harburg. Ich wohnte damals in der Jägerstraße, es muß 1943 gewesen sein. Ich schaffte es noch, zu unserem Freund, dem Kommunisten Ewald Jakobasch zu kommen. Der wohnte im Stadtpark in einer Gartenlaube und hatte auf seinem Grundstück einen Bunker gebaut. Von dort konnte ich sehen, wie Harburg in Flammen stand. Hinterher lief ich die Maretstraße hoch, wo mein Vater wohnte. Alles brannte lichterloh. Der Angriff fand am hellichten Tage statt, zum Glück war mein Vater gerade auf der Arbeit.

Übrigens wurde die Phoenix nicht getroffen, nur die umliegenden Wohngebiete. Ob das Absicht war?

Am 1. Januar 1944 wurde mein Sohn Torsten geboren. Uns hielt es nicht mehr in Harburg, wir zogen zur Schwester meines Mannes nach Horst bei Maschen.
Mein Mann Hermann Reus war eingezogen und kam 1944 in britische Gefangenschaft. Er war wie sein Vater Georg, der Wirt der Gaststätte »Stadt Hannover« am Großen Schippsee, Kommunist. Hermann kam ins Gefangenenlager Ascot bei London, wo er hin und wieder bei den deutschen Sendungen des Londoner Rundfunks mitwirkte. Einer der Antifaschisten, die dort in Ascot beim Rundfunk gegen die Nazis politisch arbeiteten, war übrigens der nicht ganz unbekannte Karl-Eduard von Schnitzler.
Es war ja lebensgefährlich, zur Nazizeit den Londoner Rundfunk zu hören. Aber in Horst wußten wir ja in etwa, wem wir trauen konnten und wem nicht. Eines Tages – ich hielt gerade Torsten im Arm und gab ihm die Flasche – hörte ich plötzlich in der deutschen Sendung von BBC: »… Und jetzt hören Sie einen deutschen Soldaten, der in Ascot lebt und kurze Zeit auf der Phoenix in Harburg gearbeitet hat.« Mein Mann hatte eine sehr eindringliche, einfühlsame Stimme im Radio. Er sprach über das schlimme Schicksal russischer Mütter in dem von den Nazis entfesselten Krieg.

Es muß im April 1945 gewesen sein. Die Front war nahe, ständig rasten englische Jagdbomber im Tiefflug über uns hinweg. Es kam das Gerücht auf: In Ramelsloh gibt es bei einem Schlachter Fleisch ohne Marken. Meine Schwägerin und ich fuhren mit dem Rad hin, in ständiger Angst vor den Fliegern. Das Fleisch haben wir tatsächlich bekommen. Auf dem Rückweg trafen wir deutsche Soldaten, die uns unsere Räder wegnehmen wollten . »Requirieren« nannten sie es. Ich wehrte mich und sagte: »Was ihr wollt, wollen wir auch: Nicht sterben, sondern flüchten und überleben.« Ich konnte mein Rad schließlich behalten, aber meine Schwägerin wurde ihres los.

Dann war der Krieg aus. Den Einmarsch der Engländer habe ich in unserem Dorf gar nicht so recht wahrgenommen. Zu meinem Vater, der auch in Horst war, äußerte ich erleichtert, daß dieser Krieg nun endlich vorbei sei. Wir sind damals heftig aneinandergeraten. Mein Vater war nämlich konservativ eingestellt und war Anhänger des hannoverschen Königshauses. Er empfand wie wohl die meisten Menschen den 8. Mai 1945 nicht als Befreiung, sondern als bittere Niederlage.

Die Gaststätte »Stadt Hannover« war seit November 1944 völlig ausgebombt. Mein Schwiegervater Georg Reus war 1943 aus dem Zuchthaus Fuhlsbüttel zurückgekommen.Er hatte ein sagenhaftes Organisationstalent. Sofort nach Kriegsende kaufte er sich in Bendestorf eine Baracke. Irgendwie gelang es ihm, die nach Harburg zu schaffen. Daraus wurde dann bei der Gaststätte eine – wie wir es nannten – »Volksküche«. In großen Töpfen bereitete eine Köchin aus Fischköpfen oder Knochen Suppen zu, und die Leute konnten sehr preisgünstig essen.

(8) Kinder- und Altenspeisung in Wilhelmsburg, 1946/47

Es herrschte oft großer Andrang, und es war ein Jammer, die vielen ausgemergelten Gestalten zu sehen.

Ich begann, mich politisch zu organisieren. Wir hatten einen »Frauenausschuß« ins Leben gerufen. Es waren meist Kommunistinnen wie Gertrud Nehring, Grete Dreibrodt, Ida Schön und andere. Es ging oft um ganz praktische Dinge wie das Organisieren von Babywäsche, und oft betätigten wir uns als Trümmerfrauen und sortierten an der zerstörten Schule Maretstraße die heilen Steine heraus. Später wurde dann daraus eine Gruppe des »Demokratischen Frauenbundes Deurschlands« (DFD), der der KPD nahestand. Einmal demonstrierten wir an der damaligen Kaserne am Eißendorfer Pferdeweg. Wir forderten: Aus dieser Kaserne muß ein Krankenhaus werden. Fiete Dettmann, der kommunistische Gesundheitssenator Hamburgs, war nach Harburg gekommen und unterstützte uns. Obwohl der Vorschlag mehr als vernünftig war, kam er nicht durch – wohl nur deshalb, weil es eine kommunistische Forderung war. Heute steht auf dem Gelände das AK Harburg – eine Ironie der Geschichte.

Ich erinnere mich an die erste Maidemonstration nach dem Krieg. Das Volkswohlgebäude in Appelbüttel, das die Nazis 1933 einkassiert hatten, war zum Glück unversehrt geblieben. Wie in der Weimarer Republik war dieses Arbeiterlokal wieder Ziel der Demonstrationen am ersten Mai. Vom Sand ging es los, die Bremer Straße hinauf, mit Schalmeienzügen und unter großer Beteiligung der Harburgerinnen und Harburger.

Das Leben war natürlich unmittelbar nach dem Krieg für eine Mutter mit einem kleinen Kind wahnsinnig schwer. Jeder tauschte und handelte, wo er nur konnte. Freundschaften galten oft nichts mehr. Wir waren mit einer Familie eng befreundet, der Mann hatte Arbeit auf der HOBUM. Dort bekam er Speiseöl. Für uns fiel auch etwas von dem Öl ab, ich mußte es aber gegen Bettwäsche und eine alte Wirtschaftswaage eintauschen. Öfter fuhr ich mit Ida Schön mit dem Rad nach Königreich im Alten Land, um Äpfel zu organisieren. Manchmal gaben uns die Bauern etwas. Oft filzte uns dann der nächste Dorfpolizist und nahm uns alles wieder ab.

Und dann der Kohlenklau. Wir wohnten ja in der Jägerstraße nicht weit vom Kanzlershof, wo die Güterwaggons standen. Im Winter bei klirrender Kälte gingen wir los. Es war beschwerlich. Schon allein wie ich auf den hohen Waggon kam, weiß ich heute nicht mehr. Manchmal wurden wir von der Polizei geschnappt. Mir nahm man aber nur die Kohlen ab, mehr passierte nicht.

Wenn ich heute an diese Zeit zurückdenke, kann ich nur sagen: Es ist wahnsinnig, was wir Frauen damals aushalten mußten – an Entbehrungen, Hunger und schwerer körperlicher Arbeit. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.

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Kurt Schweißhelm: Eine Puppenstube für 13 Liter Speiseöl

Als der Krieg in den letzten Zügen lag, war ich zwanzig Jahre alt. Mit meinen Eltern war ich vor den Bomben nach Lürade geflüchtet. Mit mehreren anderen Harburgern waren wir dort bei den Bauern in Scheunen untergekommen.

Schlieglich hörten die Angriffe auf. Der Einmarsch der Engländer muß ganz unspektakulär verlaufen sein, ich kann mich jedenfalls an nichts erinnern. Als ich von Lürade auf der Bremer Straße nach Harburg in die Stadt ging, waren die britischen Truppen schon da. Einige Soldaten kamen mir entgegen, einer klaute mir meine Armbanduhr. So sah für mich das Ende des »Tausendjährigen Reiches« aus.

Wir wurden in der Lüneburger Straße (neben dem Haus von Karstadt) ausgebombt. Auf Wohnungssuche fanden wir das leerstehende Haus des Landratsamtes Harburg in der Eißendorfer Strage (wo jetzt das Finanzamt steht). Kurzerhand zogen wir ein. Nach uns zogen mehrere Familien ein. Die Fensterscheiben mußten alle (wenn überhaupt vorhanden) ersetzt werden.

Während des Krieges – genau war es 1941 – hatte ich eine Tischlerlehre bei Dallmann in der Kreuzstraße (heute Compeweg) begonnen. 1943 mußte ich die Lehre unterbrechen und kam zum Arbeitsdienst. Dort zog ich mir Gelenkrheumatismus zu. Ich kam ins Lazarett in Danzig. Auf Grund der Krankheit stellten die Ärzte einen Herzklappenfehler fest. Daraufhin wurde ich vom Einzug zum Militärdienst zurückgestellt. Alle drei Monate mußte ich zur Nachuntersuchung zum Wehrbezirkskommando.

(9) Wilstorfer Straße nach den Oktober-/ Novemberangriffen 1944

Ich hatte aber einen Arzt, zu dem ich Vertrauen haben konnte. Der gab mir den Tip, ich sollte Zigaretten rauchen, die vorher mit Essig getränkt wurden. Das hat funktioniert, und mit gewaltigem Herzflattern ging ich zur Untersuchung. So wurde ich untauglich geschrieben, obwohl ich in dieser Zeit auch Sport getrieben und Kanu gerudert hatte.

Die Sportboote, Paddelboote und Kanus, die von den Sportlern in den Bootshäusern an der Elbe (»RC Ozeana« und »Salut«) untergebracht waren, wurden von irgendwelchen Militärs oder Volkssturmleuten losgemacht und ins Wasser gesetzt. Mein Kanu fand ich wieder, als ich in Harburg an der Elbe badete. Es hatte einen neuen Besitzer. Nach längerer Diskussion erhielt ich mein Eigentum zurück.

Aber zurück zur Kriegszeit. Ich hatte noch einige unliebsame Erlebnisse mit der Hitlerjugend. Wir bummelten ja nach Feierabend gern auf der »Gänsewiese« hin und her – auf der Wilstorfer Straße zwischen dem Gloria-Kino und der Bremer Straße. Hier gingen HJ-Streifen auf und ab und griffen sich Jungs, die ihrer Meinung nach zu lange Haare hatten. »Der geht rum wie ein Louis«, hieß es. Auch ich gehörte einmal dazu. Wir wurden zwangsweise zu einem Friseur geführt, der in einer Baracke an der Gazertstraße arbeitete. Dann mußten wir uns alle 14 Tage beim HJ-Bann in Harburg in der heutigen Hölertwiete melden.

Das erregte natürlich unseren Protest. Am Centrumshaus hingen damals Schaukästen, wo zur Abschreckung langhaarige Jugendliche abgebildet waren. Wir gingen mittags im Tischlerzeug hin und nahmen einfach die Kästen ab. Natürlich hörten wir alle, auch ich, verbotene oder verpönte Musik. Ich hatte ein Koffergrammophon und Schallplatten. Jazz – zum Beispiel von Louis Armstrong – war damals bei den Jungs, mit denen ich zusammen war, sehr beliebt. Solche Schallplatten gab es damals ja nicht zu kaufen, aber sie kursierten unter uns. Woher sie kamen, weiß ich nicht, vermutlich durch Beziehungen zum Ausland.

Meine Lehre, die durch Einziehung zum Arbeitsdienst 1943 unterbrochen wurde, setzte ich im September 1945 bei Darboven in Rönneburg fort, weil meine vorherige Firma ausgebombt war und nicht mehr existierte.

Wie fast alle habe auch ich damals gehamstert. Durch meine Tischlerarbeiten konnte ich mir zusätzliche Lebensmittel organisieren. An unsere Wohnung grenzte eine große Garage. Mit allerhand Arbeitsaufwand richtete ich eine Tischlerwerkstatt ein. Es war aber alles sehr mühselig, man arbeitete wochenlang und bekam fast nichts dafür. So hatte ich eine Puppenstube hergestellt. Ich hatte Monate gebraucht, bis sie endlich fertig war. Die konnte ich dann eintauschen - für 13 Liter Speiseöl.

Politisch hatte ich mich damals nicht betätigt, ich hatte zu sehr mit persönlichen Problemen zu tun. Dabei war ich eigentlich von meinem Elternhaus her »vorbelastet«. Mein Vater war ein recht bekannter Kommunist in Harburg und war auch wiederholt von den Nazis in Haft genommen worden. Meine erster richtig politischer Akt fand dann 1947 statt: Ich trat der Gewerkschaft Holz bei. Dort lernte ich auch Blasius Schlotawa kenne, der lange Jahre Vorsitzender dieser Gewerkschaft in Harburg war. Er war ein fortschrittlicher, sehr qualifizierter und gestandener Gewerkschaftsfunktionär von einer Art, wie sie heute bei uns leider immer seltener wird. Er schlug mich später zum Bezirksleiter dieser Gewerkschaft vor. Dieses Amt hatte ich ca. 25 Jahre inne.

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Helmut Stein: Die Chance, die vertan wurde

Im Mai 1945 war ich sechzehn Jahre alt und Schüler der Oberschule am Postweg, dem heutigen Friedrich-Ebert-Gymnasium. Ich wohnte mit meiner Mutter in einem Mietshaus im Stadtteil Heimfeld, direkt gegenüber der Wehrmachtskaserne, wo heute das Allgemeine Krankenhaus Harburg steht. Meinen Vater hatte der »Volksgerichtshof« im Mai 1944 zum Tode verurteilt. Er war Mitglied der Bästlein-Jacob-Abshagen-Organisation und hatte sich als Ingenieur bei den Harburger Eisen- und Bronzewerken (heute Krupp) am Widerstand gegen die Nazis beteiligt. Am 26. Juni 1944 wurde er im Hamburger Untersuchungsgefängnis am Holstenglacis hingerichtet.

Einige Wochen vor dem 3. Mai 1945 hatten meine Mutter und ich ein ganz schlimmes Erlebnis. Bei Fliegeralarm mußten wir immer in den Keller der Kaserne. An diesem Tag schlug dort eine Bombe ein, und fünfzehn Nachbarn, neben denen wir gerade noch gesessen hatten, starben. Wie durch ein Wunder kamen wir lebend wieder aus dem Keller heraus. Tage später bekam ich meinen Einberufungsbefehl. Auch ich sollte wie viele Jungs in meinem Alter noch in den letzten Tagen in den Krieg. Ich entschied mich, abzuhauen. Wir fuhren zu einer Tante aufs Land und hofften bei unserer Rückkehr, daß ich in dem Chaos des Kriegsendes unbehelligt bleiben würde.

Die Front rückte immer näher auf Hamburg zu. Unsere Schule war schon geschlossen worden. Und dann kamen die Tage, an denen der Kanonendonner immer lauter wurde. Nachts hörten wir den Abmarsch der letzten Wehrmachtseinheiten aus der Kaserne, und im Radio verbreiteten sie die Nachricht, daß Hamburg zur »Offenen Stadt« erklärt worden sei.

Nun kam der 3. Mai. Draußen herrschte gespenstische Ruhe. Aufgeregt beobachtete ich die Straße. Ich weiß nicht mehr genau, was ich mir vorgestellt habe. Aber dann bog plötzlich dieser kleine Jeep der britischen Armee um die Ecke. Das war nun also das Kriegsende? Fast war ich ein bißchen erstaunt.

Ganz widersprüchliche Gedanken gingen in diesem Moment und an den folgenden Tagen durch meinen Kopf: Da war die Genugtuung, daß die Naziwehrmacht geschlagen war, da waren aber auch Trauer und Wut darüber, daß diese Niederlage nicht schon eher erreicht worden war. Denn dann hätten vielleicht mein Vater, an dem ich so sehr gehangen hatte, und viele andere Menschen noch leben können. Immer wieder mußte ich an die vielen Gespräche mit meinem Vater denken. Er hatte mir erzählt, was die Nazis wollten, und hatte seine Gedanken über eine Gesellschaft ohne Faschismus und Krieg dem gegenübergestellt. Er hatte mir berichtet, was er in seiner ersten Haft von Januar 1933 bis Ende 1934 erleben mußte: von der Folter und der Ermordung vieler politischer Häftlinge. Ich war in einer gespaltenen Welt aufgewachsen: in der Geborgenheit und Wärme meines Elternhauses auf der einen Seite und der vorn Nazistaat ausgehenden Feindlichkeit und Kälte auf der anderen.

Ja, für meine Mutter und mich war dieser Maitag des Jahres 1945 ein Tag der Befreiung, der Befreiung von einem System, das uns nur Angst und Leid gebracht hatte. Nicht so für unsere Nachbarn: Kaum einer von ihnen fühlte sich »befreit«. Gut, viele waren froh, daß endlich die Bombenangriffe vorbei waren. Aber viele Gespräche in diesen Maitagen begannen oder endeten so: »Wir haben den Krieg verloren«. Ich habe mich dann immer gefragt, ob diese Menschen – und das waren viele! – eigentlich zu Ende denken, was denn gewesen wäre, wenn »wir« den Krieg gewonnen hätten!

In den ersten Tagen nach dem 3. Mai »normalisierte« sich das Leben nur langsam. Die Lebensmittel wurden noch knapper, überall lagen Trümmer, die Schule blieb weiter geschlossen. Wir mußten klassenweise aus kaputten Häusern Mauersteine bergen und bekamen dafür zusätzliche Lebensmittelkarten.

Viele ehemals aktive Nazis aus unserem Umfeld verschwanden »für eine Weile«, und wir Jungs fragten uns natürlich, wer von unseren Lehrern wohl wieder unterrichten würde. Und – ich kann es heute immer noch nicht fassen – nach einigen Monaten waren fast alle Lehrer, auch die allereifrigsten Nazis, wieder in unserer Schule tätig. Ohne jede Diskussion! Auch unter den Schülern gab es kaum Gespräche darüber, aber die Akzeptanz dieser Lehrer sank sehr, was sich auch auf den Unterricht auswirkte. Ich hatte große Schwierigkeiten, mit dieser Situation fertigzuwerden, und verließ später die Schule.

Einige Wochen nach dem 8. Mai 1945 klingelte es bei uns an der Haustür. Als wir öffneten, stand da ein kleiner, hagerer Mann: Harry Naujoks. Harry war, wie ich dann erfuhr, ein bekannter Hamburger Kommunist. Früher wohnte er am Krummholzberg in Harburg. Gleich 1933 war er verhaftet worden und war von Anfang bis Ende des Naziregimes in den Konzentrationslagern Esterwegen, Sachsenhausen und Flossenbürg eingesperrt gewesen. Und nun kümmerte er sich um das Schicksal der Hinterbliebenen von ermordeten politischen Häftlingen. Harry wurde so etwas wie ein Ziehvater für mich. Er erzählte mir oft von den Verbrechen der Nazis in den KZs, aber auch vom Widerstand der Häftlinge und seiner Arbeit als Lagerältester in Sachsenhausen.

In den folgenden Monaten des Jahres 1945 nahm Harry mich zu vielen Gesprächen mit, so auch zu Diskussionen zwischen Harburger Sozialdemokraten und Kommunisten über die Bildung einer gemeinsamen Partei. Er nahm mich auch mit, als Metallkisten mit Büchern ausgegraben und geöffnet wurden, die 1933 in verschiedenen Schrebergärten versteckt worden waren. So konnte ich kurz nach der Befreiung schon Bücher von Tucholsky, Hefte der »Weltbühne«, das »Kommunistische Manifest« und Werke von Heinrich Heine lesen.

Harry Naujoks hat dann auch gemeinsam mit anderen Freunden dafür gesorgt, daß die zehn am 26. Juni 1944 hingerichteten Angehörigen der Bästlein-Jacob-Abshagen-Gruppe – darunter mein Vater – gefunden und zum Ohlsdorfer Friedhof in den Ehrenhain für antifaschistische Widerstandskämpferinnen und -kämpfer überführt wurden.

(10) Veranstaltung der KPD in Wilhelmsburg 1946

Während dieser Zeit bildete sich auch in Harburg ein Diskussionskreis Jugendlicher. Wir waren alle junge Antifaschisten, hatten aber recht verschiedene Meinungen darüber, wie Antifaschismus und Jugendarbeit miteinander vereinbart werden können. Unsere überparteiliche Zusammenarbeit ging später in den Anfängen des kalten Krieges unter. Ein Stückchen politischer Kultur haben wir aber doch in unsere Stadt gebracht, zum Beispiel mit einer Veranstaltung, auf der Inge Scholl über die Arbeit der »Weißen Rose«, über die Ziele dieser Widerstandsorganisation und ihre Zerschlagung berichtete. Auch ihre Schwester Sophie Scholl war von den Nazis ermordet worden.

Bedrückend war es, mitzuerleben, wie schon kurze Zeit nach dem 8. Mai 1945 die »Entnazifizierung« scheiterte, während die Renazifizierung schnell vorankam: Richter und Staatsanwälte, die ihren Treueeid auf das Naziregime mit großem Eifer in der Arbeit bekräftigt hatten, hohe Polizeibeamte mit ihren ebenso hohen SS-Rängen, Hochschullehrer, Wirtschaftsführer: Sie alle kehrten nach kurzer »Abwesenheit« wieder an ihre Arbeitsplätze zurück und prägten das Klima in der im kalten Krieg gegründeten Bundesrepublik. Das war es nicht, wofür Sophie Scholl, Bernhard Bästlein, mein Vater und all die anderen in den Widerstand gegangen sind.

Wenn ich mich heute an die Zeit um den 8. Mai 1945 erinnere, geht mir immer wieder ein Gedanke durch den Kopf: Welch eine Chance für einen grundlegenden Wandel wurde vertan! Aber heute wie damals gelten die Lehren und Forderungen des antifaschistischen Widerstandes: Nie wieder Faschismus, nie wieder Krieg!

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Richard Trampenau: Aus dem Zuchthaus ins befreite Wilhelmsburg

Als der Krieg seinem Ende entgegenging, saß ich im Zuchthaus Celle. Ich war 1933 wegen einer Schießerei in Wilhelmsburg zum Tode verurteilt worden, obwohl ich überhaupt nicht geschossen hatte. Die Hinrichtung, die in Hannover stattfinden sollte, hatte ich abwenden können. Es dauerte aber noch ein ganzes Jahr, bis das Todesurteil in »lebenslänglich« umgewandelt wurde.

Da die Nazis nicht wollten, daß ihre Gefangenen den Alliierten in die Hände fielen, transportierten sie uns beim Herannahen der Truppen in drei Richtungen ab. »Todesmärsche« sagten wir später dazu. Wir mußten nachts antreten . Einer fiel dabei um, wir durften ihm nicht helfen. Wir marschierten unter Bewachung zum Bahnhof. Dabei bekam ich einen Kolbenschlag auf den Kopf. Ich konnte selbst nicht mehr den Waggon besteigen, russische Gefangene haben mich hochgezogen. Die Fahrt ging nach Braunschweig-Gliesmarode. Zwölf Stunden hatte ich im Güterwagen zugebracht, es gab nichts zu essen. In Zweierreihen mußten wir durch Braunschweig marschieren. Unterwegs starben viele oder wurden von Zuchthausbeamten, die den Zug begleiteten, totgeschlagen. Wir mußten die Gefangenen, die schon am Boden lagen, selbst tottreten, sonst bekamen wir selbst eins mit dem Knüppel. Mich haben vier Russen getragen. Unterwegs wurden Pferdewagen beschlagnahmt. Die Leichen wurden auf die Planwagen gelegt, das Blut lief an den Rädern herunter.

Schließlich kamen wir im Gefängnis Wolfenbüttel an. Mit 280 Mann waren wir in Celle abmarschiert, 180 waren jetzt noch am Leben. Ich war bewußtlos und wurde in eine Ecke geschmissen, wo schon Leichen lagen. Ein russischer Gefangener hat gesehen, daß ich noch lebte, und hat mich in einem unbeobachteten Moment dort herausgezogen.


Ich kam dann zusammen mit Russen in eine Zelle. Wir waren 20–25 Mann und mußten auf dem nackten Fußboden liegen. Das ging einige Tage so. Dann hat ein Kalfaktor herausbekommen, daß ich Deutscher bin, und hat mich verraten. Ich wurde herausgeholt und kam in eine Einzelzelle. Aus dieser Abteilung des Gefängnisses wurden nachts laufend Leute geholt und erschossen. Ich lag im gleichen Trakt.

Dann hörten die Erschießungen aber auf, weil die Amerikaner schon in die Stadt eingedrungen waren. Zuerst meuterten die Franzosen. Sie lagen ganz oben im Gebäude und konnten die amerikanischen Truppen schon sehen. Sie befreiten sich und sangen die Marseillaise. Darauf demolierten die Russen die Tür und befreiten sich ebenfalls. Die Bewacher waren verschwunden. Die Gefangenen machten auf dem Gefängnishof ein Feuer und brieten auf Kuchenblechen Kaninchen. Diese Haustiere gehörten dem Wachpersonal, sie waren dick und fett, weil sie mit dem Essen gefüttert worden waren, das eigentlich uns zustand.

Während die Amerikaner noch draußen vor den Gefängnistoren standen, stürmten wir das Lager, wo die Zivilkleidung aufbewahrt wurde, und kleideten uns dort ein. Ich war noch voller Blut und hatte keine Waschgelegenheit.

Ein Gefangener aus Lüneburg hat dann eine Leiter aufgetrieben. So kletterten wir über die Mauer und flüchteten durch Wolfenbüttel. Wir kamen in einen kleinen Wald, dort trafen wir einen SS-Offizier. Wir nahmen ihm seine Klamotten ab, ich brauchte ja noch einen Mantel. Das war übrigens ein komischer Vogel: Er trug schwarze Unterwäsche mit Spitzenhöschen. Wir haben ihn in diesem Aufzug laufen lassen. Zu dritt – mit mir waren noch der Lüneburger und ein russischer Gefangener – kamen wir dann nachts in Braunschweig an. Es gab Fliegeralarm, aber die Wehrmacht war schon weg. Die Leute saßen in den Kellern und feierten das Kriegsende. Braunschweig gehörte sozusagen uns. Wir schliefen in einem quergestellten Straßenbahnwagen.

Am nächsten Tag standen wir am Mittellandkanal vor einer gesprengten Brücke. Auf unserer Seite trafen wir noch zwei deutsche Soldaten mit Gewehren an. Es gelang uns, sie zu überreden, die Waffen in den Kanal zu werfen und abzuhauen. Auf der anderen Seite lagen etwa 1000 Soldaten. Die meisten zogen ihre Uniformen aus und bettelten bei den Bauern um Arbeitszeug. Wir drei kamen dann auf einen verlassenen Flugplatz. Nichts regte sich. Zerstörte Flugzeuge standen herum. Der Lüneburger fand ein intaktes Funkgerät und forderte aus Jux Verstärkung an, um die Wehrmacht bei der »Schlacht um Wolfenbüttel« zu unterstützen.

Wir marschierten weiter, immer noch im Niemandsland. Von dem SS-Mann hatten wir etwas Geld » beschlagnahmt «, hatten aber keine Lebensmittelmarken. In einem Dorf fanden wir eine Gaststätte, die in Betrieb war. Wir hatten uns alle ein Alibi zurechtgelegt: Ich war ein Zimmermann aus dem VW-Werk, wegen meiner steifen Hand bin ich nicht Soldat geworden. Zwei junge Flakhelfer aus Hamburg stießen noch zu uns. Am Tisch saßen auch noch drei hohe deutsche Offiziere und waren auch beim Essen.

Da kam plötzlich ein englischer Panzer und schoß in eine benachbarte Scheune. Die Offiziere fuhren mit einem Auto weg. Wir hatten Fahrräder geklaut und verschwanden ebenfalls.

Nach zwei Stunden stand ein farbiger Soldat auf dem Weg: »Stop! Where are you going?« Wir erklärten ihm, daß wir Gefangene der Deutschen waren und aus dem »Concentration Camp« kommen. Es half nichts: »You must go back!« Auf dem Rückweg fanden wir noch die Offiziere - alle mit Kopfschuß. Sie waren wohl aufgegriffen worden und hatten sich geweigert, anzuhalten.

Wir schliefen dann in einem Wald, am Morgen hauten der Lüneburger und der Russe ab. Mich fischten die Engländer wieder auf. Ich durfte mich auf einen Panzer mit Sprechfunk setzen und habe auf englisch Meldung gemacht. Meine Englischkenntnisse kamen mir jetzt zugute. Ich war ein recht guter Schüler gewesen, und auch im Hafen kam ich viel mit Englisch in Berührung. Einmal saß ich auf dem Panzer, und die Engländer gaben mir ein Akkordeon. Ich spielte und sang »It's a long way to Tipperary« und »We are hanging up our washing on the Siegfried line«, also ihre beliebten Soldatenlieder. Sie waren ganz baff, daß ich das konnte.

Es ging dann weiter. Bei Winsen (Aller) hatte sich HJ in einem Wald verschanzt, die Panzer schossen mit Kanonen hinein.

Mein Fahrrad hatte ich auf dem Panzer festgebunden. Einmal kamen wir wieder in einen Wald, wo noch deutsche Soldaten liegen sollten. Ich fuhr mit dem Rad voraus und traf sie an. Ihre Gewehre hatten sie noch, aber wahrscheinlich keine Munition mehr. Ich hielt eine Ansprache und forderte sie auf, innerhalb einer Stunde den Wald zu verlassen, sonst würden die Engländer Benzin in die Gräben gießen und den Wald anzünden. Es waren noch sehr junge Soldaten. Sie sind dann im Gänsemarsch hinausmarschiert. Wir haben allen die Hosenbeine abgeschnitten und sie dann einfach weggejagt.

Wir näherten uns Hamburg. In Lüneburg war noch einmal längere Pause. Ich sollte im Auftrag der Engländer nach Luxemburg fahren und über den Rundfunk zur Hamburger Bevölkerung sprechen und sagen, daß weiteres Kämpfen sinnlos sei. Vor allem sollte die Stadt sich weigern, die Elbbrücken zu sprengen. Dann erfuhren wir aber, daß es Verhandlungen gegeben hat und daß Hamburg kampflos übergeben werden soll.

Die Truppen wollten abends aber nicht durch Harburg marschieren. Ich nahm mein Rad und ließ es mir nicht nehmen, noch vor den Engländern als erster in Harburg zu sein. Ich hatte mir einen Zettel vom Hauptquartier besorgt.

Natürlich war viel zerstört, ich hatte aber schon Schlimmeres gesehen. Einige Viertel – etwa am Reeseberg – waren sogar noch leidlich intakt. Auf der Lüneburger Straße hielt mich doch tatsächlich ein Polizist an und wollte mich festnehmen. Ich hätte die Sperrstunde überschritten. Ich hatte vorsichtshalber eine MP mitgenommen und sie am Rad befestigt. Jetzt nahm ich sie und sagte: »Jetzt erzähle ich dir mal was: Zieh deine Uniformjacke aus, lege sie auf meinen Gepäckträger. Dann geh' nach Hause zu Mutti ins Bett!« Daß ich keinen einzigen Schuß Munition hatte, wußte der Polizist natürlich nicht.

Früh morgens kam ich in Wilhelmsburg an. Hier war viel kaputt. Die Straßenbahnschienen der Linie 33 waren völlig verbogen oder zeigten nach oben in die Luft. Das Haus, in dem meine Mutter wohnte (früher Kurze Straße, heute Otterhaken), stand noch. Da mußte ich erfahren, daß meine Mutter Opfer des Krieges geworden war. Sie lag schon im Sterben und war am Verhungern.

Die Engländer hatten ihre Kommandantur in Heimfeld am Eißendoder Pferdeweg, der Captain hieß Dodgson. Von dort wurde ich in Wilhelmsburg eingesetzt. Ich konnte noch einige dänische und norwegische SS-Leute verhaften. Sie hatten es nicht mehr geschafft, abzuhauen. Später bei der Gerichtsverhandlung erzählten sie, sie wären der SS beigetreten, um Sport zu treiben. Ich bekam ein Auto gestellt und durfte sogar drei englische Soldaten mitnehmen, wenn ich Hilfe brauchte. Wir holten Nazis aus den Wohnungen, sie sollten die Straßen von Trümmern säubern. Ich ließ sie mit der Schaufel antreten. Die Steine wurden auf Lastwagen verladen. Einer verlangte Benzin, aber ich sagte: Im KZ gab es auch kein Benzin. Sie mußten den Wagen schieben.

Ich durfte sogar noch den Leiter vom Wohnungsamt ernennen. Dann wurden aber langsam frühere SPD-Leute auf die Posten gesetzt. Ich hatte nichts mehr zu tun und mußte mir Arbeit suchen. Schließlich bekam ich eine Stelle als Bauführer bei einem Architekten.

Die Elbbrücken sollten übrigens von den Nazis gesprengt werden. Die Sprengsätze waren schon angebracht. Später wurden sie dann von Deutschen entfernt, unter englischer Aufsicht. Hamburg kann sich glücklich schätzen, daß die Stadt kampflos übergeben wurde. Die Engländer hatten Kriegsmaterial noch und noch, und alles, was an Häusern noch stand, wäre in Schutt und Asche gelegt worden. Natürlich habe ich versucht, die Menschen ausfindig zu machen, die dafür verantwortlich waren, daß ich die ganze Nazizeit im Zuchthaus verbrachte. Der Richter, der das Todesurteil ausgesprochen hatte, war aber nicht mehr auffindbar. Der Staatsanwalt, der im Gericht die SA-Uniform trug, ebenfalls nicht. Dann gab es einen Nazi, der meine Mutter belästigt hatte. Überall bei unseren Nachbarn hingen einmal Hakenkreuzfahnen, nur bei meiner Mutter nicht. Dieser Nazi kam zu ihr und sagte: »Wenn du alte Kommunistensau nicht die Fahne raushängst; dann hängen wir dich aus dem Fenster.« Dabei war sie überhaupt nicht organisiert gewesen und war eher ein unpolitischer Mensch. Ihr wurde im Dezember 1933 die Witwen- und Invalidenrente gesperrt. Als ich dann 1945 bei diesem Nazi aufkreuzte, war er ausgeflogen. Nur seine Mutter war da und zitterte am ganzen Körper. Wenn er da gewesen wäre, ich glaube, ich hätte mich vergessen. Später war ich oft verbittert, daß all die Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Zuchthausbeamten ganz gut von ihren Pensionen leben konnten, während wir, ihre Opfer, lange und manchmal vergeblich um eine Entschädigung kämpfen mußten. Die Verbrecher, das waren ja nicht nur Hitler, Himmler und Göring. Zigtausende haben bei den Verbrechen mitgewirkt. Einmal mußten wir in Celle beim Enttrümmern helfen. Ich wurde Zeuge, wie eine junge Ukrainerin ermordet wurde. Sie hatte ein Einmachglas gefunden und davon gegessen. Ein dicker Polizist hat das Mädchen so lange getreten, bis es tot war. Wir waren natürlich machtlos und konnten nichts tun.

Noch heute bin ich fassungslos, wenn ich bedenke, was Menschen in der Nazizeit anderen Menschen angetan haben und zu welcher Unmenschlichkeit sie fähig waren.

1949 bekam ich dann endlich meine Entschädigung: 6209 DM dafür, daß ich zwölf Jahre lang unschuldig im Zuchthaus gesessen hatte. Mit echt deutscher Gründlichkeit, die schon an Zynismus grenzt, hatten sie bei der Berechnung dieses Betrages die »ersparten Verpflegungskosten« für 4167 Tage Haft abgezogen: 3125 Reichsmark gleich 312 DM.

(11) Der Entschädigungsbescheid für Richard Trampenau

Hans-Joachim Meyer: Nachbetrachtungen zum verhinderten Neubeginn 1945

»Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel. Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig.«[5]

Dies schworen die Häftlinge des Konzentralionslagers Buchenwald nach ihrer Befreiung am 19. April 1945. Ihre Forderungen fanden sich auch in den Aufrufen und Programmen der politischen Parteien, die schrittweise ihre Tätigkeit wiederaufnehmen durften. Vor allem war der Wunsch verbreitet, nicht nur den Faschismus selbst zu zerstören, sondern auch die Ursachen zu beseitigen, die zu seiner Entstehung geführt haben. Die Spaltung der Arbeiterbewegung mußte überwunden werden. Zwischen SPD und KPD dürfe es nur noch »Einigkeit, Einheit und nie wieder Bruderkampf«[6] geben. In Hamburg beschlossen SPD und KPD im August 1945 – mit den Unterschriften u. a. von Karl Meitmann (SPD) und Fiete Dettmann (KPD), eine »einzige sozialistische Partei« aufzubauen, wodurch sie »Vollstrecker des eindeutigen Massenwillens des klassenbewußten Proletariats« sein würden.[7] SPD, KPD und Gewerkschaften forderten die Enteignung der Nazi-Kriegsverbrecher sowie die Vergesellschaftung der Schwerindustrie und der Großbanken (wobei dieser letzte Punkt in der ersten KPD-Erklärung vom 11. Juni 1945 noch nicht auftauchte.[8] Sogar die CDU erklärte noch 1947 in ihrem Ahlener Wirtschaftsprogramm für Nordrhein-Westfalen: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden.« Nötig seien u.a. die Vergesellschaftung der Kohlebergwerke und der »eisenschaffenden Großindustrie«.[9]

(12) Anzeigen in den Harburger Anzeigen und Nachrichten (HAN): FDP 28.3.1946; KPD 24.4.1946

(13) Anzeigen in den HAN : oben 8.10.1946; SPD 10.10.1946; CDU 12.10.1946

Wie man in den Harburger und Wilhelmsburger Berichten liest, spielen solche Gedanken über ein neues Gesellschaftssystem selbst bei den politisch engagierten Menschen keine sehr große Rolle. Wie alle anderen Bürgerinnen und Bürger Harburgs auch waren sie von sehr persönlichen Nöten betroffen: Wie kriege ich ein Dach über den Kopf? Wo bekomme ich warmes Essen und Brennmaterial her? Was ist mit meinen Angehörigen? Insofern ist der Bericht von Gottlieb Halusa von der Phoenix durchaus glaubhaft, daß es keine große Begeisterung für mehr Mitbestimmung in den Betrieben gab.

Bemerkenswert ist aber noch ein weiterer Punkt: Wer wirklich etwas verändern wollte, wer sich stark machte, um wichtige Nazis aus den Betrieben rauszuschmeißen, wurde schon bald von der britischen Besatzungsmacht daran gehindert. Auch das wird in mehreren Berichten deutlich. Zwar war in London nicht mehr der Konservative Churchill, sondern eine Labour-Regierung unter Artlee an der Macht. Aber auch diese Regierung zog in allen wichtigen Fragen mit den USA gleich. Und in den USA war längst die Entscheidung gefallen, dort, wo sie Einfluß hatten, keine gesellschaftlichen Veränderungen zuzulassen. Eine einheitliche sozialistische Partei kam im Westen nicht zustande. In Harburg gingen die Parteien anfangs noch pfleglich miteinander um. Es gab sogar ein Wahlkampfabkommen, in dem u.a. SPD, FDP und KPD sich verpflichteten, sich nicht gegenseitig die Plakate zu zerstören.

Es wird berichtet, daß die Unternehmer sich unmittelbar nach 1945 noch nicht sicher fühlten, weil die politische Lage und auch ihre eigene Zukunft ungewiß war. Nicht in der Öffentlichkeit, aber hinter den Kulissen sah es anders aus: Die Sicherheit, daß ihnen kein Haar gekrümmt wird, war schon bald wieder da.

Nehmen wir als Beispiel Harburgs wichtigsten Betrieb, die Phoenix. Wie sah es dort aus? Phoenix-Chef Dr. Albert Schäfer war bekanntlich an den Verhandlungen beteiligt, die zur kampflosen Übergabe Hamburgs an die Alliierten führten. Dadurch hatte er natürlich bei der britischen Besatzungsmacht einen »Stein im Brett«. Wie er seinen Einfluß nutzte, schilderte der langjährige Phoenix-Vorstandsvorsitzende Otto A. Friedrich 1956 in seiner Schrift »Ein Werk im Spiegel der Weltwirtschaft« so:

Nach dem Krieg setzte »die politische Verfemung leitender Leute« ein, hervorgerufen durch »das Mißtrauen der Militärregierung« und die »wohlgezielte Wühlarbeit der Kommunisten«. Als Schäfer 18 Leute aus dem Phoenix-Management entfernen sollte, sagte er den Briten: »Wenn diese Leute entlassen werden, wird das Werk geschlossen.«[10] Friedrich schreibt dann: »Diese charaktervolle Haltung beeindruckte die Engländer, und die Leute blieben.«[11] So einfach war das. Friedrich rühmt sich sogar, gemeinsam mit Schäfer wichtigen Leuten, die aus anderen Betrieben rausgeflogen waren, auf der Phoenix einen Posten verschafft zu haben: Dr. Könecke und Dr. Weber von Continental, Dr. Stegemann von Rhenania-Ossag (dem heutigen Harburger Shell-Werk), Averhoff von Lincas Gummiwaren in Berlin.[12]

(14) Hamburger Volkszeitung, 3.12.1947

Schäfers Affinität zu früheren Nazis zog dann 1947 größere Kreise, als es in der Hamburger Bürgerschaft um ein Handelskammer-Gesetz ging. Schäfer – inzwischen zum Präses der Hamburger Handelskammer aufgestiegen – wetterte gegen die Mitbestimmung der Gewerkschaften in diesem Organ, weil ihn eine solche »Bevormundung« an die »Methoden Hitlers, Mussolinis und Stalins« erinnere.[13] Die kommunistische »Hamburger Volkszeitung« schrieb dazu, daß die Abneigung Schäfers gegen Stalin sicherlich echt, gegen Hitler aber nicht ganz glaubwürdig sei, und veröffentlichte unter dem Titel »Handelskammerpräses als Nazischirmherr« eine Namensliste von 16 Nazis, die nach 1945 bei der Phoenix auf wichtige Posten gesetzt bzw. auf ihren Posten behalten wurden.[14] Darunter befinden sich einige in Harburg recht bekannte Namen wie z. B. Rolf Dahlgrün, später langjähriger FDP-Bundestagsabgeordneter und FDP-Kandidat im Wahlkreis Harburg.

Ohne die massive (auch finanzielle) Unterstützung durch maßgebliche Teile der Schwerindustrie, der Großbanken und des ostelbischen Großgrundbesitzes hätten die Nazis 1933 nicht zur Macht kommen können. Auch in Harburg hatten die Unternehmerorganisationen den Machtantritt der Nazis begrüßt.[15] Der hier schon oft zitierte Otto A. Friedrich empfindet darüber in seinem Buch auch nicht einen Ansatz von Scham, auch nicht darüber, daß ab 1939 nicht nur das Deutsche Reich, sondern auch die Phoenix »großen Zeiten« entgegenging. Auf wundersame Weise kam die Phoenix plötzlich in den Genuß der »treuhänderischen Verwaltung« eines Werks in Riga und der Michelin-Werke in Prag. Verträge über »technische Beratung« gab es mit Betrieben in Norwegen, Belgien, Frankreich, Dänemark, aber auch im neutralen Schweden.[16] Wenn man Friedrich glauben darf, ging das alles »unter Wahrung friedensmäßiger Rechtsgrundsätze ab«.[17] Absatzprobleme gab es für die Phoenix im Krieg nicht, sondern neben anderen Problemen »nur noch das Problem der Arbeitskräftesicherung«.[18] Daß dieses »Problem« dann mit Hilfe von Zwangsarbeitern (unter ihnen viele Frauen) und Kriegsgefangenen bewältigt wurde, wird von Friedrich schlicht unterschlagen.

Die Sichtweise eines der führenden Unternehmer Harburgs ist auch deswegen erwähnenswert, weil Otto A. Friedrich nicht als Scharfma-cher, als Mann »vom rechten Rand«, sondern eher als gemäßigt gilt, als jemand (wie man heute sagt) »aus der Mitte der Gesellschaft«. Altbundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) zählte ihn zu seinen Freunden. Ich meine: Die hier geschilderten Vorgänge »vor Ort« zeigen besser als jede theoretische Abhandlung, warum eine wirkliche Neuordnung 1945 nicht gelang.

Was sich hier in Harburg abspielte, fand seine Entsprechung im ganzen westlichen Teil Deutschlands. In der Wirtschaft, der Polizei, der Justiz und den Geheimdiensten wurden bald wieder Nazis eingestellt oder gar nicht erst entlassen. Die mit großem bürokratischem Aufwand durchgezogene »Entnazifizierung« mit Hilfe von Fragebögen wurde zur Farce. Ehemalige NSDAP-Mitglieder brachten es später bis zum Bundeskanzler und Bundespräsidenten.

Der Drang nach rechts spiegelte sich auch bald in der Parteienlandschaft wider. Bei den Bundestagswahlen 1953 übersprang der »Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten« (BHE) die Fünf-Prozent-Klausel. Diese Partei sprach mit dem zweiten Teil ihres Namens ganz gezielt die Masse der zwölf Millionen früheren NSDAP-Mitglieder an. Der wohl bekannteste Politiker dieser »Entrechteten« war Theodor Oberländer. Er wurde Minister unter Adenauer, trat dann zur CDU über und mußte 1960 wegen seiner tiefen Verstrickung in Naziherrschaft und Krieg entlassen werden. In Niedersachsen zog die offen faschistische »Sozialistische Reichspartei« (SRP) in den Landtag ein. Ihr Führer Remer, der sich rühmte, an den Verhaftungen der Frauen und Männer des 20. Juli 1944 mitgewirkt zu haben, zog besonders auf den Dörfern die Massen an. Die Partei wurde dann 1952 vom Bundesverfassungsgericht verboten.

Daß wir uns in den folgenden Jahren immer wieder mit dem Thema Neofaschismus auseinandersetzten mußten und müssen, hat letztlich seinen Grund darin, daß es 1945 bei uns zwar die Befreiung von der Naziherrschaft, aber keine wirkliche Neuordnung in Wirtschaft und Gesellschaft gegeben hat.

Anmerkungen

 

1 Der Hamburger Willi Fellendorf war einer von drei Widerstandskämpfern, die von der Sowjetunion aus über Deutschland mit dem Fallschirm abgesetzt wurden, um Kontakt mit der in und um Berlin operierenden Gruppe Schulze-Boysen/Harnack aufzunehmen. Der Kontakt kam nicht zustande. Fellendorf schlug sich nach Hamburg durch. Herbert Bittcher, der sein Cousin war, und Willi Milke, die beide auf der Phoenix in Harburg arbeiteten, hatten geholfen, Fellendorf vor der Gestapo zu verstecken.

2 Die Organisation Bästlein-Jacob-Abshagen war die größte Hamburger Widerstandsorganisation während des Krieges. Ihr gehörten mindestens 300 Personen an, die meisten von ihnen waren Kommunisten. Stützpunkte hatte sie vor allem auf den Werften und in anderen Hamburger Großbetrieben, auch auf der Harburger Phoenix, der HOBUM und den Harburger Eisen- und Bronzewerken (heute Krupp). In 12 Prozessen wurden 47 von ihnen in Hamburg im Jahre 1944 verurteilt, davon 14 zum Tode.

3 Christoph Coerber hatte 1933 auf der HOBUM gearbeitet und beteiligte sich dort in den ersten Jahren der Nazidiktatur am kommunistischen Widerstand. Dr. Hans Hochstein war ebenfalls Kommunist und ein bekannter und beliebter Arzt in Harburg.

4 Heinrich Hartig arbeitete auf der HOBUM und unterstützte dort die Organisation Bästlein-Jacob-Abshagen.

5 Peter Altmann u.a.: Der deutsche antifaschistische Widerstand 1933–1945. ln Bildern und Dokumenten. Frankfurt (Main)1978, Seite 295.

6 Flugblatt »Sozialdemokraten, Kommunisten Hamburgs!« in: K. D. Brügmann u. a.: Die anderen. Widerstand und Verfolgung in Harburg und Wilhelmsburg. Zeugnisse und Berichte 1933–1945. Hamburg 1980. Seite 206 f.

7 ebd.

8 Hans-Jörg Ruhl (Hrsg.): Neubeginn und Restauration. Dokumente zur Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1949. dtv-Dokumente. München 1982, Seite 182 ff.

9 a.a.0. Seite 428 f.

10 Otto A. Friedrich: Ein Werk im Spiegel der Weltwirtschaft. Phoenix-Gummiwerke AG 1856–1956. Freiburg 1956. Seite 38.

11 ebd.

12 a.a.0. Seite 39

13 Hamburger Volkszeitung, 29.11.47

14 Hamburger Volkszeitung, 3.12.47

15 Siehe dazu: K. D. Brügmann u. a.: Die anderen, Seite 53.

16 Otto A. Friedrich, a. a. 0. Seite 36

17 ebd.

18 ebd.

Bildnachweis

(1) privat

(2) privat

(3) privat

(4) Landesbildstelle

(5) privat

(6) privat

(7) Improvisierter Neubeginn, Hamburg 1943–1953, Ansichten des Photographen Germin, Hamburg 1989, S. 86–87

(8) a.a.O., S. 61

(9) privat

(10) privat

(11) privat

(12) HAN 28.3.1946; HAN 24.4.1946

(13) HAN 8.10.1946, HAN 10.10.1946, HAN 12.10.1946

(14) Hamburger Volkszeitung 3.12.1947

 

Herausgeber:
Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes /
Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN/BdA), Kreisvereinigung Harburg

Hamburg-Harburg 1995
Alle Rechte bei der VVN/BdA Hamburg
Hein-Hoyer-Str. 41, 20359 Hamburg

 

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